Tanja Ebrecht: „Wenn ich erzähle, dass ich meine Bonbons unter dem Sündenfall koche, dann gibt es oft Gelächter und Kommentare wie: ‚Die Bonbons sind auch einfach sündhaft gut.‘“

Alte Häuser mit neuer Nutzung
Eine Bonbonfabrik im biblischen Paradies

Die kleine Großstadt Lübeck besitzt etwas, wovon viele deutsche Städte träumen, eine starke Mitte. Was heißt das? Diese Stadtmitte ist ein Wirtschaftszentrum, ein Zentrum für Dienstleistungen und Kultur, es ist ein attraktiver Wohnstandort und der Mittelpunkt der städtischen Kommunikation.

Alles eng beieinander, fußläufig erreichbar. Und, als Krone des Reichtums an Urbanität, der gesamte Zentrumsraum ist identisch mit dem Stadtraum des historischen Lübeck. Man ist als Bewohner und Gast in einer modernen Stadt unterwegs und erlebt sie im Straßenraum mit den Gebäuden der alten Stadt.

Der Hannoveraner Stadtplaner und Stadtphilosoph Dieter Eisleben schrieb vor Jahrzehnten: „Je näher wir dem Zentrum einer Stadt kommen, umso mehr wachsen die geschichtlichen Wissensschichten.“ Das können Archäologen auch für die Hansestadt an der Trave bestätigen. Nur sehen und erleben kann man das in den Schichten angehäufte Wissen nicht, seine Träger werden ergraben, werden inventarisiert und verschwinden dann in Magazinen. In Lübeck dominiert hingegen etwas, das in Städten wie Hannover gänzlich abhandengekommen ist, der Körper der alten Stadt.

Von den ehemals rund 4.500 Häusern der Zeit um 1500 sind noch mehr als 2.000 erhalten, nicht nur mit Fassaden, sondern mit prägenden Strukturen im Inneren samt Veränderungen in der Zeit. Und zu jedem Haus findet sich eine reiche Überlieferung zu Eigentümern und Bewohnern: Ihre Berufe, ihre soziale Stellung und ihr Vermögen sind seit der Zeit um 1300 nahezu lückenlos überliefert in Millionen von Eintragungen offizieller und halboffizieller Verwaltungstätigkeit: in Grundbüchern, Steuerlisten, Mitgliederverzeichnissen. Die Altstadt als erforschtes und restauriertes Denkmal ist das Gehäuse und der Kern der „starken Mitte“ Lübecks. Und dieses Stadtzentrum ist das flächenmäßig größte und umfangreichste Stadtdenkmal in Deutschland.

Alte Häuser mit neuer Nutzung

Blick vom Schulhof des Katharineums auf das Kulturquartier St. Katharinen, Foto: M. EickhölterBlick vom Schulhof des Katharineums auf das Kulturquartier St. Katharinen, Foto: M. EickhölterWo aber ist die starke Mitte erlebbar? Die Bewohner sanierter Häuser wissen, was sie an ihren Denkmalen haben, was aber erfahren Besucher, Gäste der Stadt? Ein Zugang – es gibt mehr als einen – zum kulturellen Wissensreichtum der Stadt ist der Besuch von Geschäften, die sich in historischen Häusern etabliert haben und wochentags geöffnet sind für Publikumsverkehr. Davon gibt es inzwischen eine ganze Reihe. (Bau-)Historisches, andernorts ein seltenes, kostbares Stadtgut, wird allmählich auch im überlieferungsreichen Lübeck als Wert erkannt, als Ambiente geschätzt. Als erstes einer Reihe von Beispielen, die in den kommenden Ausgaben in unregelmäßiger Folge vorgestellt werden sollen, wird die Aufmerksamkeit auf das Haus Königstraße 28 gelenkt.

Das Kulturquartier St. Katharinen

Die Adresse Königstraße 28 im mittleren Abschnitt des alten Hauptverkehrsweges zwischen dem Mühlentor im Süden und dem Burgtor im Norden liegt direkt gegenüber vom Eingang der Katharinenkirche. Das Stadtquartier um das ehemalige Franziskanerkloster aus dem 13. Jahrhundert war und ist bis heute ein Zentrum für kulturelle Dienstleistungen. In der Königstraße, Glockengießer- und Hundestraße siedelten und arbeiteten Maler, Bildschnitzer, Illustratoren, Verleger, Drucker, Schreiber und Dichter. Hier entstanden vor 1500 die ersten Buchdruckwerke im Norden Europas, hier war der Auktionsmarkt für gebrauchte Bücher und seit fast 400 Jahren pilgern Leser von politischer, juristischer und schöner Literatur in die Stadtbibliothek, deren ältester Saal 1622 in den ehemaligen Schlafräumen für Mönche des Franziskanerklosters eingerichtet wurde.

Die Bonbon-Manufaktur befindet sich gegenüber von St. Katharinen, Foto: M. EickhölterDie Bonbon-Manufaktur befindet sich gegenüber von St. Katharinen, Foto: M. EickhölterIn diesem Quartier öffnete im 18. Jahrhundert das erste Lokal mit Kaffeeausschank der Stadt und schräg gegenüber wurde seit 1751 die erste Zeitung gemacht und gedruckt. Nur einen Steinwurf entfernt richtete Mitte des 19. Jahrhunderts ein Bürgerverein einen großen Saal ein, in dem rund achtzig Jahre lang monatlich ein Tanzfest gefeiert wurde, bevor das sehr besondere Haus 1918 sich in ein Kino verwandelte und später erweitert wurde um eine Tanzdiele, die erst vor kurzem ihre Pforten für immer schloss.

Das Haus Königstraße 28

Unser Haus Königstraße 28 ist ein äußerlich unscheinbares Gebäude mit einer klassizistischen Fassade und schmiegt sich derzeit zwischen das Kneipenrestaurant „Remix“ zur Rechten und das mit einer gotischen Fassade lockende Bekleidungsgeschäft „Laden 15“ zur Linken. Selbst viele Stadtbewohner kennen das Haus Königstraße 28 nicht, diente es doch seit seiner Sanierung und Restaurierung um 1980 für gut zwanzig Jahre als Domizil einer im Stillen werkelnden Firma für Softwareentwicklung. Fachleute für historische Kulturforschung konnten es nach Voranmeldung besuchen. Das hat sich gründlich geändert. In einem Windfang öffnet sich seit 2017 rechter Hand die Ladentür in eine Bonbonmanufaktur mit Verkauf. 

Eine Bonbonmanufaktur und die Schöpfungsgeschichte der Bibel

Die aus Bremen zugezogene Tanja Ebrecht und ihr Lebensgefährte Andreas Schwiederski haben sich einen Traum erfüllt. Für die gelernte Bonbonmacherin und den Industriefotografen stand sofort fest, dass ihre Einrichtungsideen für eine Manufaktur, von denen es in Dänemark bereits viele gibt, in enge Verbindung gebracht werden müsste mit einer an der nördlichen Hauswand sich hinziehenden Wandmalerei aus der Zeit um 1300. Und so ist die hinter Glas geschützte Malerei durch eine vermittelnde Holz-Paneelierung mit der Geschäftseinrichtung optisch verbunden.

Wer den Laden betritt, weiß gar nicht, wo er zuerst hinschauen soll: auf die buntfarben lockenden Bonbons in den Auslagen oder auf die fragmentarisch erhaltene figürliche Malerei in Höhe der Decke, die zum Entziffern einlädt. Bei Denkmalpflegern, Bauforschern und Kunsthistorikern ist der „Schöpfungszyklus in der Königstraße“ bekannt und geschätzt, aber wer außer ihnen weiß noch von der Rarität?

Die Erschaffung des Menschen, Gottes Ruhe, Sündenfall, Strafpredigt und Vertreibung, Foto: A. SchwiederskiDie Erschaffung des Menschen, Gottes Ruhe, Sündenfall, Strafpredigt und Vertreibung, Foto: A. Schwiederski

Entdeckungen um 1980

In der gesamten, ca. 15 Meter langen Ausdehnung der ehemaligen Diele des Hauses, also von der Straßen- bis zur Gartenseite, ist die biblische Erzählung von der Erschaffung der Welt in sieben Tagen, der Erschaffung von Adam und Eva, ihrem Leben im Paradies, von Sündenfall und Vertreibung dargestellt. 7 von ursprünglich 15 gemalten Szenen haben sich erhalten. Sie wurden bei Sanierungsarbeiten um 1980 von dem damals von Hamburg nach Lübeck übergesiedelten Bauhistoriker Michael Scheftel entdeckt. Das neue Ladengeschäft ist so eingerichtet, dass zwischen dem öffentlich zugänglichen und dem abgeschlossenen Teil die Zusammengehörigkeit der gemalten Szenen sofort ins Auge springt. Beide Bonbonfabrikanten haben Informationen zum Dargestellten zusammengetragen und erläutern aufmerksam gewordenen Besuchern fachlich fundiert und unterhaltsam das, was man sehen kann und das, was fehlt, beziehungsweise verlorengegangen ist im Verlaufe von sieben Jahrhunderten Nutzungsgeschichte.

Adams Rippe und das Feigenblatt

Dort, wo die gemalten Botschaften am stärksten gelitten haben, in den Paradiesszenen, sind trotz aller Fehlstellen die interessantesten Details zu entdecken: An Adams einer Körperseite ist die Narbe zu sehen, die an Gottes Entnahme einer Rippe erinnert und dann gibt es da vor seiner Scham Feigenblätter. Schmunzelnd kommentieren Tanja Ebrecht und Andreas Schwiederski die heikle Bildlichkeit: „Den Malern im Norden waren Feigenblätter offensichtlich nicht sehr deutlich vor Augen. Wir haben deshalb auf die Glaswand echte getrocknete Feigenblätter zur Veranschaulichung angeheftet.“ Mehr als einmal schon verirrten sich Stadtbesucher in die Manufaktur, ließen sich bei frisch gefertigten Probier-Bonbons die Malereien beschreiben und verließen das Geschäft mit den dankbaren Worten: „Das war jetzt unser LübeckErlebnis. Von der Existenz der Malereien wussten wir bisher nichts. Sie stehen in keinem Stadtführer.“

Die Schöpfung: Der erste Tag mit der Scheidung von Licht und Finsternis, daneben der zweite Tag mit der Erschaffung des Firmaments, Foto: A. SchwiederskiDie Schöpfung: Der erste Tag mit der Scheidung von Licht und Finsternis, daneben der zweite Tag mit der Erschaffung des Firmaments, Foto: A. Schwiederski

Geschmack der Zeit

Besucher, die intensiver nachfragen, werden darauf aufmerksam gemacht, dass der Schöpfungszyklus der mittlere Teil einer ursprünglich dreizonigen Malerei war. Unterhalb der Szene ist noch eine Fugenmalerei erkennbar, vormals die Sockelzone. Oberhalb der biblischen Szenen sind Reste von Schilden zu erkennen, die nebeneinander liegen. Liegende Schilde mit aufgemalten Wappen und bekrönt mit geschmückten Helmzieren waren um 1300 eine Art Mode in der jungen Stadt, deren Führungsschichten sich häufig aus eingewanderten Mitgliedern niederadeliger Familien rekrutierten.

Der Auftraggeber und sein Bruder

Um 1280/90, als der Schöpfungszyklus auf angefeuchtetem Putz vorgezeichnet und dann ausgemalt wurde, war Johannes Krek, ein Ratsherr, Eigentümer des Hauses. Sein Bruder wirkte als geistlicher Würdenträger in der Marienkirche. Und just zu der Zeit, als die Diele im Wohnhaus ausgemalt wurde, entstand auch ein Schöpfungszyklus im Obergaden des Ostchores in der Marienkirche. Auch er ist noch vorhanden. Kunsthistoriker Thomas Brockow, der die Malerei in der Königstraße 28 um 1990 untersuchte, hätte gerne beide Malereien verglichen. Aber die Malerei hoch oben im Kirchenraum war nicht restauriert, mit bloßem Auge schwer zu erkennen und überdies schlecht fotografiert. Natürlich steht seither der Verdacht im Raum, beide Schöpfungszyklen könnten von demselben Maler stammen.

Foto: Andreas SchwiederskiFoto: Andreas Schwiederski

Gute Wünsche

Tanja Ebrecht und Andreas Schwiederski würden auch Gäste auf dem Weg von ihrer Manufaktur zur Marienkirche mit Bonbon-Variationen aus eigener Fertigung versorgen, wenn auch der Weg in diesem speziellen Fall sich nicht lohnt. (Aber auch ohne dieses Ziel darf jeder Besucher des Bonbonladens sich eine Wegzehrung auswählen.) Zu wünschen ist den beiden begeisterten Jung-Lübeckern, dass die geplante Neuregulierung des Pkw- und Busverkehrs in der Königstraße nicht erst 2029/30 verwirklicht wird. Draußen auf dem breiten Fußweg lassen sich Stühle zum Verweilen aufstellen, aber unterhalten kann man sich nicht wirklich. (Manche der Planungen zur Verkehrsberuhigung ließen sich bei gutem Willen der Stadtverwaltung vielleicht demnächst schon umsetzen.)

Weitere interessante Artikel der Lübeckischen Blätter finden sie im Download-Archiv.


Sie haben keine Berechtigung hier einen Kommentar zu schreiben.