... nur dass die Stunde noch gar nicht blau ist, sondern geradezu golden. Anfang Juli geht die Sonne um 19 Uhr noch nicht unter, sondern bahnt sich ihren Weg durch alle Ritzen im Hafenschuppen C am Kai, und der starke Wind bringt das Gebälk zum Klappern, aber das tut dem Ganzen keinerlei Abbruch.
Im Gegenteil: Sommerlich-heitere Stimmung herrscht im gut gefüllten, so genannten Foyer – der Vorhalle vor der eigentlichen, in der die spektakuläreren Konzerte im Rahmen von „Kunst am Kai“ stattfinden. Hier gilt es nun das Kleinod zu entdecken, die etwas intimere Veranstaltung, die sich an diesem Abend als wahre Perle entpuppt. Da finden sich in der Kürze der Zeit Musik, Lyrik und Video aufs Vortrefflichste zusammen und machen diese zwei Stunden zu einem Rundumgenuss. Auch in der Pause verweilt das Publikum bei Getränken und kleinen Snacks, von der Familie Pott-Pfeiffer eigenhändig und so gänzlich unprätentiös serviert (ich liebe das!), vor den Türen mit Blick auf Trave und Sonne wieder mal im reinen Wohlbehagen. Und das wird bis zum Ende so bleiben und findet seinen Ausdruck im lang anhaltenden Applaus, der eine köstliche Musik-Zugabe bewirkt. Aber so weit sind wir ja noch lange nicht.
Gabriele Pott, verantwortlich für das künstlerische Konzept (Alex Mans an Licht und Technik soll nicht vergessen werden), tritt zur Begrüßung auf die Bühne, die, abgesehen von Notenständern und Stühlen, lediglich mit einem übermannshohen Ziffernblatt bestückt ist, das neben verrutschten römischen Zeichen noch ein irgendwie verqueres Zeigerpaar aufweist. Dieser Abend ist dem Thema Zeit gewidmet, und so passt es gut, dass die „Kunst am Kai“ schon ihr kleines, 5-jähriges Jubiläum zu feiern hat, wie Frau Pott freudig verkündet, bevor sie die Mitwirkenden und das Besondere dieses Konzertes vorstellt.
Seitlich der Bühne befindet sich eine relativ dezente Projektionsfläche für die Videos, die parallel zur Musik laufen und auf deren Besonderheit wir nun eingestimmt werden sollen. So richtig haben die Technik wohl nur wenige verstanden, aber Christoffer Greiß hat, kurz gesagt, in seinen Video-Installationen Zeit- und Raumachsen vertauscht, um unsere Vorstellungen von Zeit zu erweitern. Zugegeben, mit Videos tue ich mich bisweilen etwas schwer, aber nicht so hier und heute. Gerne lasse ich meine Blicke zu den ästhetischen Bildern schweifen, die die Fantasie anregen und nichts Aufdringliches oder Unruhe-Stiftendes an sich haben. Sie tragen die Titel: Gitarrensaiten I und II, Feuer, Fatamorgana, Spiegel, Gräser I und II sowie Orbit. Auf mich wirken sie eher meditativ und lenken daher glücklicherweise nicht zu sehr von der Musik ab, denn die hat es nun wirklich in sich.
Das „Duo con Spirito“ mit Polychronis (welch schöner Name zu diesem Thema!) Karamatidis an der Querflöte und Matei Rusu an der Gitarre begeistern und verzaubern mit ihren virtuosen Darbietungen wohl durch die Bank alle Anwesenden auf Anhieb (ich erwähne jetzt nicht die Dame hinter mir, die immer noch nicht richtig zu sitzen glaubt und noch während der Musik nicht aufhört, darüber mit ihrem Mann zu zischeln – ich zischel ein wütendes „Pscht!“ nach hinten). Die zwei Musiker begegneten sich 2013 beim Studium in Maastricht und taten sich mit großem Erfolg als Duo zusammen. Sie sind vollkommen aufeinander eingespielt und verstehen sich über kurze Blicke und Impulse in einer Art und Weise, dass sie trotz der so unterschiedlichen Instrumente wie eine Einheit wirken.
Ihre ungeheure Präzision fällt auf, in der sie das Thema Zeit quasi verkörpern und für uns hör- und sichtbar machen. Diese Genauigkeit geht aber keineswegs auf Kosten der feinfühligen Interpretationen und Spielfreude der von ihnen ausgewählten Kompositionen. Diese sind eher jüngeren Datums und umfassen Werke von Satie über Villa-Lobos, Piazzolla, Rautavaara, Liebermann und Meranger. Die (Neu-)Entdeckungen solcher nicht gerade täglich zu hörenden Stücke sind faszinierend und einfach perfekt dargeboten von zwei höchst talentierten Sympathieträgern, die die Herzen der Zuhörerschaft auf Anhieb gewinnen.
Im Zentrum, auch optisch auf dem Programmzettel, steht heute Abend jedoch die Lyrik, die schon in fast allen Titeln zeitliche Begriffe enthält – von der Kuckucksuhr bis hin zu Einsteins Relativitätstheorie. Dass selbst die, zumindest in relativ kurzer Form, sehr heiter und anschaulich präsentiert werden kann, beweist Heidi Züger, die Interpretin aller Wortbeiträge. Die aus der Schweiz stammende und in Lübeck lebende Schauspielerin trägt in kleinen Blöcken die sehr sorgsam zusammengestellten Gedichte bzw. kurzen Prosatexte mit deutlicher Stimmführung und ihrem immer wieder durchblitzenden schauspielerischen Talent nuanciert und pointiert vor. So lässt sich sehr gut zuhören! Die Texte haben zudem nichts Schweres. Die meisten erheitern oder lassen uns schmunzeln (Kästner, Eugen Roth, Tucholsky sind dabei), etliche regen zum Nachdenken an und machen immer wieder deutlich, wie wir dieses Phänomen der Zeit, um das im Allgemeinen wie im Besonderen so viel Trara gemacht wird, doch nicht so recht zu packen kriegen.
Ich kann Ihnen sagen, warum (und bitte schon jetzt diesen kleinen laienhaften Exkurs zu entschuldigen; das Konzert hat mich an manchen Stellen auch in alte Zeiten versetzt und an Folgendes erinnert): weil wir dreidimensionale Wesen sind. Im Physikstudium sollten wir uns immer wieder vorstellen, wir wären als zweidimensionale Kreaturen auf die Welt gekommen, die zwar rechts und links und ein Vor und Zurück kennen, aber kein Oben und Unten. Kröchen wir nun so beschränkt zweidimensional über unsere Erdkugel, würden wir sie selbstverständlich für eine Scheibe halten, da wir ja keine Vorstellung von Krümmung hätten und also nicht bemerkten, wenn wir uns aus unserer (vermeintlichen) Ebene fortbewegen. Nun kennen wir Menschen uns zwar relativ gut in drei Dimensionen aus, haben für die vierte, die Zeit, aber gewissermaßen keine Antennen. Für uns vergeht sie daher nur in eine Richtung, immer vorwärts, zwar subjektiv empfunden mal schneller, mal langsamer, aber nie zurück. Dabei wissen wir doch, dass auch die Zeit keine konstante Größe ist, sondern höchst relativ, und dass die Wissenschaftler längst mit weiteren als nur vier Dimensionen laborieren. Aber können wir uns das wirklich vorstellen? Nein.
Insbesondere die Textauswahl aus „Alles hat seine Zeit“ aus einer Ausstellung von Ellen Wesemüller stellt uns auf sehr vergnügliche Weise die Vielschichtigkeit der Zeit vor Augen. Auf der einen Seite werden beispielsweise Aktiengeschäfte mittlerweile vollkommen ohne menschliches Zutun von Computern über Algorithmen im Nanosekundentakt getätigt, wodurch es schon mal zu einem „flash crash“ wie im Jahre 2010 kommen kann, als die Börsenkurse schlagartig ins Bodenlose fielen (was übrigens jederzeit wieder drohen kann). Auf der anderen Seite dreht sich die Welt einfach nicht ganz gleichmäßig, sodass ab und an eine Schaltsekunde (die wir uns immerhin noch vorstellen können), neben dem einen Tag im gewohnten Schaltjahr, eingeschoben wird, damit alles wieder so tickt, wie es soll. Es lässt sich aber offenbar nicht vorhersehen, geschweige denn programmieren, wann wieder der richtige Zeitpunkt dafür kommen wird. Daher wird schon von Seiten der Wissenschaft (welcher eigentlich?) für die Abschaffung dieser Schaltsekunde plädiert. Die Entscheidung darüber soll im Jahr 2023 fallen. Das klingt absurd, ebenso wie die Tatsache, dass die Zeit immer langsamer vergeht, je näher wir den berühmt-berüchtigten Schwarzen Löchern kommen. Gut, dass das nun nicht so häufig passiert. Oder schade?
Alles, oder Jegliches, wie es Martin Luther seinerzeit etwas feiner ausgedrückt hat, hat seine Zeit. Das Konzert zur Blauen Stunde hat seine feste Zeit zwischen seinen größeren Geschwistern gefunden und macht sich dort ganz prächtig, egal ob’s draußen schon dämmert oder nicht. Wer’s verpasst hat, bekommt – hoffentlich – im nächsten Jahr wieder eine Chance, dabei zu sein. Die Zeit vergeht ja so schnell ...