Mich persönlich schrecken so richtig dicke Wälzer aus der Literatur nicht ab, solange sie was zu erzählen haben, eine gewisse Qualität in Sprache und Kreativität entwickeln oder Geschichten erzählen, die einen selbst noch wirklich bereichern können. Dies ist bei allen drei Büchern gegeben, die ich heute der geneigten Leserschaft ans Herz legen möchte, auch wenn die schiere Seitenzahl der einzelnen Romane über 500 Seiten liegt.
Beginnen möchte ich mit dem wohl wichtigsten Autor Norwegens neben dem Nobelpreisgewinner Jon Fosse, nämlich Karl Ove Knausgard, den ich hier bereits mehrfach vorgestellt habe. Die Romane seines sechshändigen autofiktionalen Werkes: "Mein Kampf" wurde ein weltweiter Erfolg und war eine Sensation, die vielfach ausgezeichnet wurde. Aber Knausgard ist auch Kunstexperte, war Kurator einer Edvard-Munch-Ausstellung in Oslo und verfasste ein Buch über Anselm Kiefer. Und mittlerweile ist er bei seiner auf sieben Bände angelegte Reihe über einen neuen Morgenstern, der unheimliche Kräfte freisetzt, mit „Die Schule der Nacht“ auch schon bei Teil vier angekommen. Wobei aber jeder einzelne Roman für sich steht. Personal, Orte und Geschehnisse wechseln, zeichnen aber Figuren, die im Sumpf von Wahnvorstellungen und Gewaltfantasien versinken.
Im aktuellen Roman geht ein aufstrebender junger Künstler einen Pakt mit dem Teufel ein. Dieser kommt als leicht verlotterter Künstler mit Hochwasserhosen, einem selbst gestrickten Pullover und üppiger Haarpracht daher. Der kauzige Hans stammt aus Holland und hat eine rumpelkammerartige Werkstatt, die mehr einer alchimistischen Höhle als einem Atelier gleicht, wo er Experimente mit Computer gesteuerten Wesen ausführt. Hans trifft auf den Ich-Erzähler und Protagonisten des Romans, den erst zwanzigjährigen Fotografie-Studenten Kristian Hadeland aus Norwegen, der in London ein Studium macht, um als Foto-Künstler groß rauszukommen. Sie treffen 1985 zum ersten Mal in einem Pub aufeinander, wo das Bier billig ist und selbst darbende Künstler sich den Suff leisten können.
Hans ist derjenige, der dem bis dahin sehr selbstbewußten Kristian ins Gesicht sagt, seine Bilder - konzeptuelle Porträts und Landschaftsaufnahmen - seien nur Illustrationen einer Idee, nichts als Wiederholungen eines Gedankens, und dass sie beim Betrachter „nichts ins Wanken bringen“. Gleichzeitig lernt Kristian durch Hans auch die Theaterregisseurin Vivian kennen, die mit ihrer Truppe gerade den „Faustus“ probt und Kristian bittet, zur Inszenierung eine Fotostrecke über Marlowe beizusteuern, dem Abenteurer und Wüstling, den manche für den eigentlichen Autor der Werke von Shakespeare halten. Überhaupt zieht sich der Faust-Mythos wie ein roter Faden durch den gesamten Roman.
Die harte Kritik von Hans zu seinen langweiligen Bildern, aber auch die Beurteilung seiner Kunstprofessoren an der Kunstakademie spornen den angehenden Star-Fotografen in seinem Narzissmus erst richtig an, als Künstler noch viel skrupelloser zu werden. Das setzt er beim familiären Weihnachtsfest gleich in die Tat um. Als er seine Schwester nach einer Überdosis Tabletten bewußtlos in ihrem Jugendzimmer findet, macht er sich weniger Gedanken um ihr Überleben als um die Frage, ob seine Fotos vom hastig verlassenen Festtagstisch, dem zerwühlten Bett und dem unbeeindruckten Weihnachtsbaum nicht zu seinem Durchbruch beitragen könnten. Egoistisch verschwindet er aus Norwegen, kehrt verfrüht nach London zurück und bricht mit der Familie. Schmerz und Trauer, sowie Tod sollen für Kristian nur noch Material für künstlerische Großartigkeit sein.
Um das zu erreichen, stilisiert er sich zum Menschenfeind, sucht schockierende Bildmotive, will die Essenz des Lebens einfangen, kocht und skelettiert dafür sogar eine gestohlene Katze. Einen Obdachlosen, mit dem er nachts in Streit gerät, versetzt er versehentlich einen tödlichen Schlag. Doch jemand hat ihn bei seiner nächtlichen Untat beobachtet und bietet ihm mit einer anonymen Fotobotschaft einen faustischen Bund an, will schweigen und helfen, wenn Kristian bereit ist, dem Teufel zu huldigen, das Gute mit dem Bösen zu erkaufen und einen Preis für seinen auf Missetaten basierenden Erfolg zu zahlen. Hintergrund ist ein Foto, das Louis Daguerre 1839 in Paris mit minutenlanger Belichtung gemacht hat, von dem Hans ihm berichtet hatte, das bis heute Rätsel aufgibt. Durch die lange Belichtung sind alle Menschen, die durch das Bild gelaufen sind verschwunden bis auf eine dünne Person, die starr steht und sich die Schuhe putzen lässt - und die manche für den Teufel in Menschengestalt halten.
Dieses historische Foto, das als erstes der Kunstgeschichte gilt, hat jemand heimlich unter seine Wohnungstür geschoben mit einer verschwörerischen Botschaft auf der Rückseite: „Wer tot ist, ist tot und kann nicht gerettet werden. Wähle das Leben Kristian, und es wird dir gut ergehen“. Wer jetzt wirklich hinter all dem steckt und wer der wirkliche Teufel ist, bleibt lange im Ungewissen. Zwar wird ihm die polizeiliche Ermittlung erspart und man erhebt ihn sogar in den Himmel der Kunstwelt - eine Einzelausstellung im New Yorker Moma steht bevor, aber sein eigenes Leben entwickelt sich zur Hölle. Getrieben von seinem Narzissmus, seinem Willen zur eigenen Genialität flüchtet er später auf eine felsige Insel, wo er sein Leben selbst beenden will. Kristian bleibt unausstehlich und unsympathisch: Ein notorischer Lügner, ein widerlicher Frauenhasser und weinerlicher Narzisst, der erst spät erkennt: „Der Teufel, das sind wir selbst“.
Knausgard bleibt ein grandioser Geschichten-Erfinder, der die großen Erzählungen liebt und zuweilen sich aber in langatmigen Details, wie die Musikauswahl von Kristian verliert. Aber gleichzeitig belohnt er den Leser mit klugen Ausflügen in die Geschichte der Fotografie und der Literatur zwischen Shakespeare und Marlowe. Gleichzeitig ist „Die Schule der Nacht“ ein Roman, der die Kunstwelt nicht nur als Hintergrund für seine Handlung benutzt, sondern sich wirklich für Fragen des künstlerischen Schaffens und der Ästhetik interessiert. Gleichzeitig liest sich der Roman wie eine Hommage und Referenz an den zeitlos-aktuell durch die Kunst- und Literaturgeschichte wabernden Faust-Mythos. Dabei geht es Knausgard aber weniger um Goethe und seinen Faust, sondern eher um den undurchsichtigen Christopher Marlowe und sein Drama über „Die tragische Historie vom Doktor Faustus“.
Karl Ove Knausgard: Die Schule der Nacht, Luchterhand Verlag 2025, 672 Seiten.
Mein zweiter Buch-Tipp stammt vom 1941 in Massachusetts/USA geborenen Schriftsteller Paul Theroux, den ich selbst als großartigen Reise-Schriftsteller kennengelernt habe vor vielen Jahren, den man aber keineswegs nur auf dieses Genre begrenzen sollte. Denn gleichzeitig ist er auch ein wunderbarer Autor, der zum Beispiel mit seinem bitterbösen Buch „Mutterland“ seine eigenen familiären Hintergründe autobiografisch offen gelegt hat. Auch beweist er immer wieder aufs Neue, dass er sich auch politisch mit aktuellen Entwicklungen auseinandersetzt, wie zuletzt in dem Buch „Auf dem Schlangenpfad“, das die Probleme entlang der US-amerikanischen Grenze mit dem Nachbarland Mexiko beschreibt. Die letzten genannten Bücher habe ich hier bereits vorgestellt.
Jetzt kommt mit „Burma Sahib“ seine Abrechnung mit der britischen Kolonialzeit auf den Markt, die gleichzeitig die Geschichte erzählt, wie aus einem schlaksigen, schüchternen Eton-Absolvent, ein gewisser Eric Blair, der weltberühmte Schriftsteller George Orwell wurde. Alles beginnt mit dem Wunsch der Eltern, dem 19jährigen Sohn durch eine Ausbildung als Polizist im kolonialen Burma den Weg in eine Karriere innerhalb des britischen Empires zu ermöglichen. Bereits auf dem Schiff nach Südostasien erkennt er seine Außenseiterrolle unter den blasierten Passagieren und zieht sich scheu und verunsichert meist mit einem Buch in seine Kabine zurück. Auch in Burma selbst fremdelt er von Anbeginn an mit der Arroganz seiner britischen Mitankömmlinge, den kolonialen Hierarchien und dem Alltags-Rassismus seiner Landsleute.
Als introvertierter Bücherleser und gebildeter Mensch fühlt er sich sofort fehl am Platze im Kreis seiner Kameraden, die lärmend und saufend ihre Macht als weiße Sahibs ausleben. Aber auch die Alltags- und Gewaltstrukturen der einheimischen Gesellschaft bleiben für ihn undurchschaubar und so flüchtet er sich in die Beobachtung der Natur und der Tiere, aber wird gleichzeitig immer schneller ein Mitglied der Unterdrückungs-Maschinerie, weil er es seinen Eltern und seinen Vorgesetzten recht machen will. Langsam verändert sich der junge Polizei-Anwärter, obwohl er versucht, durch das Erlernen der einheimischen Sprache mehr über das Land zu verstehen. Er hat Liebschaften mit einheimischen Frauen, Prostituierten und Hausangestellten, hatte Verhaftungen und Auspeitschungen lokaler Straftäter befohlen und kann sich den brutalen Anordnungen seiner Vorgesetzten kaum widersetzen.
Um der Tyrannei und der üblichen Unterdrückung durch die Kolonialmacht, dessen ausführendes Mitglied er unweigerlich wird, zu entgehen, flüchtet Blair sich immer mehr in die Literatur, etwa von Kipling, Wells, London und Sumerset Maugham und beginnt schließlich selbst ernsthaft zu schreiben. Besonders als er aufgrund einiger unflätiger Äußerungen bei seinen Vorgesetzten dermaßen in Misskredit gerät, dass sie ihn strafversetzen in eine abgelegene kleine Stadt im Inneren des Landes, vertieft er sich mehr und mehr in sein Manuskript, das viele Jahre später als „Burmese Days“ veröffentlicht wurde.
Nach einer langwierigen Erkrankung am Dengue-Fieber reist er zum Erholungsurlaub nach England und kehrt nie wieder in den Dienst nach Burma zurück. Aber die fünf Jahre als Teil eines Unterdrückungssystems haben ihn total verändert. Noch nach Jahren verfolgte ihn seine Scham und sein schlechtes Gewissen, wie er später selber schrieb. Und so wurde aus Eric Blair nicht nur dem Namen nach ein gänzlich anderer, dessen Werke bis heute Menschen auf dem ganzen Globus beeindrucken und ihnen Kraft spenden zum Widerstand und zum Kampf gegen Betrug und Selbstbetrug, Lügen, Gewalt, Unterdrückung und Manipulation, wie wir sie in Zeiten von „Fake News“ gerade aktuell wieder sehr real erleben. Folgerichtig wurden seine Bücher „1984“ und „Farm der Tiere“ Welterfolge.
Mit dieser meisterlich beschriebenen Metamorphose vom scheuen Eton-Abgänger zum Welt-Schriftsteller George Orwell gelingt Paul Theroux nicht nur ein ganz besonderes Werk, sondern belegt erneut seine Fähigkeit, eigene Reiseerfahrungen aus mehreren Reisen nach Burma, dem heutigen Myanmar, mit bekannten und anerkannten Fakten und Daten des realen Lebens von Blair/Orwell zu verknüpfen, sondern mit seinen besonderen Fähigkeiten der Imaginationskraft, der Sprache und der kreativen Schaffung von Bildern, eine fast schon „wahre Biografie“ zu erfinden. Als Landeskenner zeichnet er nicht nur ein schonungsloses Bild des britischen Kolonialismus aus Willkür und Rassismus, sondern nimmt auch bereits die Geschehnisse nach der Unabhängigkeit des Landes seit 1962 mit der seit dem fast durchgängigen Militärdiktatur und ihren tatsächlichen „Orwellschem Grauen“ vorweg. Ein absolut lesenswerter Wälzer von fast 600 Seiten, desssen Lektüre sich ungemein lohnt.
Paul Theroux: Burma Sahib, Luchterhand Verlag, München 2025, 587 Seiten.
Mein dritter dicker Buch-Tipp ist ein wunderbarer Bretagne-Roman und eine fesselnde Familiengeschichte über drei Generationen. Geschrieben hat diese umfangreiche Geschichte über Schuld und Sühne, die grandiose Landschaft der Bretagne und seiner Küsten und über die alles heilende Kraft des Meeres die französische Schriftstellerin Hèlène Gestern, die an der Universität von Lorraine lehrt und in Paris und Nancy lebt. Mit „Rückkehr nach Saint-Malo“ hat sie einen vielschichtigen Roman vorgelegt, der zwar einerseits ein gewisses Durchhaltevermögen vom Leser erfordert, aber auch durch ruhiges, detailliertes und mit Respekt für historische Genauigkeit umfangreiches und poetisches Erzählen für Lesegenuss und Tiefgang sorgt.
Im Mittelpunkt der Geschichte steht Yann, ein Historiker und in Trennung lebender Sohn einer einflussreichen Reederfamilie aus der Bretagne. Nach dem Tod seines despotischen Vaters kehrt er in die Familienvilla nach Saint-Malo zurück, auch weil seine Frau ihn mit einem spanischen Liebhaber in Paris betrogen hat und sein eigener Sohn im fernen Berlin studiert. Das große Haus direkt an der Stadtmauer von Saint-Malo mit Blick über den wilden Atlantik hinüber zur kleinen Insel Cézembre war einst der Schauplatz einer unbeschwerten Kindheit mit seinem geliebten Zwillingsbruder, der später bei einem Auto-Unfall ums Leben kam. Aus Trauer über den frühen Tod ihres Sohn verstarb auch nur einige Zeit später seine Mutter.
Yann, der nie so recht Interesse am Geschäft seines Vaters und deren Vorgänger zeigte, war das schwarze Schaf der Familie und setzte sich zum Studium der Geschichte nach Paris ab, wo er später auch selbst als Historiker an der Universität forschte und lehrte. Nach dem Bruch mit seiner Frau, versucht der sensible und melancholische Yann durch die Rückkehr in sein altes Elternhaus wieder zur Ruhe und zu neuem Lebenssinn zu gelangen. Bei Streifzügen durch das riesige Haus stößt er auf umfangreiche Archive und Briefe aus seiner Familiengeschichte, die er Schicht um Schicht sichtet, um seiner eigenen Geschichte auf die Spur zu kommen.
Als Historiker ist er es gewohnt, sich durch unzählige Papiere zu kämpfen, um verborgene Familiengeheimnisse zu entschlüsseln. Dabei geht es zwar oberflächlich überwiegend um die Entwicklung des Reederei-Geschäfts seiner Familie, aber insgeheim viel mehr um die Brüche innerhalb der Familie, die zwei Weltkriege hinterlassen haben. Mit psychologischem Gespür verknüpft die Autorin die vielfältigen Risse und die Komplikationen durch Schuld und Schweigen innerhalb der großen Familie mit einer teilweise fast schon hypnotischen Beschreibung der Natur und der Urgewalten des Meeres. “Das Meer prägt das Leben der Bewohner, die im Rhythmus der Gezeiten leben und sich seiner Gefahren und Unwägbarkeiten stellen müssen“.
Daneben spielt auch immer wieder die geheimnisvolle Insel Cézembre, die man jahrelang wegen zurückgelassener Kriegsmunition nicht betreten durfte, eine überragende Rolle. Sie dient als Symbol für Vergangenes, Unausgesprochenes und Verdrängtes. Und über allem thront das Meer in all seinen Farben und Facetten von Wildheit, immensen Tidenhub und daraus resultierenden Gefahren. Manchmal meint man, den Geschmack des Salzes auf den eigenen Lippen zu spüren. Hèlène Gestern erzählt langsam, aber voller Poesie und Detailreichtum, auch wenn einzelne Passagen über den Schiffsbau und die Motoren-Entwicklung eher etwas für speziell interessierte Leser sind. Dafür wird man aber entschädigt mit einem wunderbaren Roman über die herrliche Bretagne, die ich selbst gerade bei einem Besuch in der Region erleben durfte.
Eine Reiselektüre über eine groß angelegte Familiengeschichte, die auch noch eine subtile Liebesgeschichte enthält, aber vor allem Lust auf das Meer und die Landschaft dieser besonderen französischen Region im wilden Westen des Landes macht. Wer gerade große Familiengeschichten mag, erkennt schnell, dass die Autorin sich an Schriftstellern wie Thomas Mann und seine Buddenbrooks oder auch an ihrem berühmten französischen Dichter-Kollegen Victor Hugo orientiert hat, wie sie selbst in einem Interview erklärte. Und das sind ja nicht gerade schlechte Vorbilder.
Héléne Gestern: Rückkehr nach Saint-Malo, Rowohlt Verlag Hamburg 2025, 510 Seiten.
Die Bücher sind in den inhabergeführten Buchhandlungen Belling, Prosa, Buchfink, Arno Adler, Langenkamp, maKULaTUR, Störtebeker, Buchstabe und Bücherliebe erhältlich.

