Die beiden US-Amerikaner Paul Theroux und T.C. Boyle sind mittlerweile jenseits der 70, scheinen aber in ihrer Schreib-Kreativität ungebrochen. Seit Jahrzehnten gehören sie zu den erfolgreichsten Vielschreibern ihrer Zunft und stehen auf meiner persönlichen Favoritenliste ziemlich weit oben.
Paul Theroux (78) gilt in Fachkreisen als einer der scharfsinnigsten und besten Reiseschriftsteller der Welt, und T.C. Boyle (72) wird nicht nur von seinen Fans wie ein Rockstar der Literatur verehrt.
Nach seinem letzten, äußerst empfehlenswerten autobiografischen Familienroman „Mutterland“, welches ich hier auch vorgestellt habe, wagt sich Paul Theroux mit seinem aktuellen Buch „Auf dem Schlangenpfad“ noch einmal weit auf das Terrain des politischen Reisebuchs. Für viele seiner Landsleute ist die Grenze zu Mexiko der Rand ihrer bekannten Welt, und für ihren Präsidenten scheint die totale Abschottung gen Süden per Mauer sowas zu sein wie der Kampf gegen das Böse an sich.
Im hohen Alter von 76 Jahren hat sich nun Paul Theroux auf eine mehrmonatige Reise per Privat-PKW entlang der mehr als 2000 Kilometer langen Grenze und tief hinein in das südliche Nachbarland der mächtigen USA begeben, um den dumpfen Beschwörungen von Donald Trump ein tapferes Zeugnis der Aufklärung entgegen zu schleudern. Und der berühmte Reiseschriftsteller schaut genau hin, ist offen für die unglaubliche Freundlichkeit der Mexikaner, verschweigt dabei aber auch nicht die gravierenden Missstände im Land. Mit seiner unstillbaren Neugier auf die Menschen und ihr Leben in all seinen Facetten begibt er sich auf einen Roadtrip durch ein faszinierendes, vielgestaltiges Land und begegnet Menschen, die sich den alltäglichen Härten widersetzen und trotzdem voller Lebensfreude in die Zukunft blicken.
Sein oberstes Ziel bei dieser Reise war es, dem haltlosen Geschwätz des amtierenden Präsidenten und seiner Gesinnungsgenossen über die Mexikaner die Schranken zu weisen. Natürlich kommt auch er nicht daran vorbei, zu Beginn des Buches über die horrenden Zahlen an Gewalt und die ausufernde Drogenkriminalität zu berichten. „Allein in Tijuana erreichten die registrierten Tötungsdelikte im Jahr 2017 die vorher nicht dagewesene Anzahl von 1781“. Er beschreibt die schier unglaubliche Bestialität, die speziell unter den Drogenclans zu immer neueren Morden führt. Da werden Opfer geköpft, in Säurefässer geworfen oder zur Abschreckung mitten in den Städten an Brücken gehängt. Drogenkartelle wie die Zetas führen gegen Konkurrenten wie das Golfkartell einen mörderischen Narco-Krieg um Absatzmärkte und das lukrative Geschäft der Schleusung von Flüchtlingen in die USA. Aber auch die mexikanische Polizei, die Armee und Politik mischen in dieser Gewaltorgie kräftig mit, wie das Beispiel der über 40 verschwundenen Lehramtsstudenten 2014, die gegen die Krise in der allgemeinen Bildung ihres Landes protestieren wollten, belegt.
Diesseits und jenseits der Grenze, dem sogenannten Schlangenpfad, erforschte er Ursachen und Auswirkungen der Migrationsproblematik, die vor allem mit dem nordamerikanischen Freihandelsabkommen NAFTA zu tun hat. Dieses Abkommen aus dem Jahre 1994 brachte vor allem Nachteile für Mexiko: Große Verluste an Arbeitsplätzen in der Landwirtschaft durch subventionierte Agrarexporte aus den USA, wo wiederum hauptsächlich illegale Arbeitssklaven aus Mexiko für Hungerlöhne für den Profit der Farmer sorgen. Gleichzeitig führt die Ansiedlung von amerikanischen Großbetrieben südlich der Grenze, wo mexikanische Facharbeiter für beschämende Löhne und unter unglaublichen Bedingung arbeiten müssen, zu einem massiven Anstieg des Prekariats im Süden, wie auch zu einem immensen Verlust an Arbeitsplätzen in der Industrie nördlich der Grenze.
Und natürlich bereitet diese Situation den Boden auf beiden Seiten für ein lohnenswertes Geschäft von Drogenbossen und Schleuserbanden. Diese Analysen von Theroux beruhen nicht nur auf seiner großen Neugier sondern auch auf einer umfangreichen Recherche von Literatur und Dokumenten. Gleichzeitig führt der Autor auf seiner Reise bis tief in den Süden Mexikos bis nach Chiapas unzählige Gespräche und Interviews mit den unterschiedlichsten Menschen aus allen Generationen und Schichten. Sie und nicht die faszinierenden Landschaften, die er durchfährt sind das Essentielle auf seiner wahrhaften Reise.
Ihn beeindruckt der familiäre und kulturelle Zusammenhalt, er ergebe den „gesellschaftlichen Kitt, der nötig ist, damit das Leben auch in bösen Zeiten weitergeht“, so Theroux. Gleichzeitig erkennt er, dass für die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme Mexikos aber nicht hauptsächlich die USA sondern die korrupten Eliten, die Armee, die Polizei und Politik die Schuld tragen.
Paul Theroux ist als Aufklärer, als Neugieriger, nicht als Besserwisser unterwegs. Er dringt in Gegenden vor, die für die meisten Reisenden tabu sind. So kommt er auch am Ende seiner Reise zu einem Besuch bei den revolutionären Bauernmilizen der Zapatisten in ihrem autonomen Gebiet im südlichsten Bundesstaat Chiapas, wo er den legendären „El Sup“, den Comandante treffen und sprechen darf. „Sie haben ihre Bewegung auf allem aufgebaut, was an den Traditionen der indigenen Völker human und unvergänglich war. Das hier war ein belebtes Statement zu dem, was Mexiko brauchte, ein auch für die übrige Welt vorbildhaftes Beispiel dafür, wie man mit Widerstand zur Wahrung der Menschenrechte beitragen kann“.
Mit diesem harten, wie auch wunderbaren Stück Reiseliteratur gelingt es Theroux, den Blick neu auf Mexiko auszurichten. Lebendig, emphatisch, engagiert, offen und reich an Perspektiven schreibt er gewohnt glänzend und stilistisch ausgeprägt über ein Land, das eigentlich kein Land ist, sondern eine ganze Welt.
Paul Theroux: Auf dem Schlangenpfad. Als Grenzgänger in Mexiko, Hoffmann und Kampe, Hamburg, 4. November 2019, 428 Seiten, Amazon.
Ähnlich wie Paul Theroux ist auch T. C. Boyle ein Vielschreiber und Bestseller-Autor, der mittlerweile über 17 Romane und unzählige Kurzgeschichte geschrieben hat. Seit seinem ersten internationalem Erfolg „Wassermusik“, der abenteuerlichen Reise von Mungo Park durch das Herz der Finsternis, dem Kongo in Afrika, folgten Romane wie World´s End, Grün ist die Hoffnung, Willkommen in Wellville, Dr. Sex, Drop City, Die Frauen oder zuletzt der LSD-Roman Das Licht, welches ich ebenfalls hier 2019 vorgestellt habe.
Jetzt also mal wieder Kurzgeschichten: „Sind wir nicht Menschen“. Dieser Erzählband umfasst insgesamt 19 Geschichten aus den letzten Jahren, obwohl sein neuer Roman „The Familiar“ bereits fertig sein soll. Der mittlerweile 72 Jahre alte Autor ist produktiv wie eh und je und verhandelt in seinen Stories nichts Geringeres als unser Dasein an sich. Er erzählt von großen Themen wie Umweltkatastrophen, dem Artensterben, der Absurdität genetischer Reinheitsvorstellungen, von Migration und der Bedrohung planetarischer Lebensgrundlagen.
Die Natur erweist sich in den meisten Geschichten am Ende immer stärker als die Menschen. So hat er seiner Story-Sammlung auch ein Zitat des Romantikers Lord Byron vorangestellt: „Den Menschen lieb ich, mehr noch die Natur“. Dabei entpuppt sich T. C. Boyle als Meister der Short Stories, er ist ganz bei sich als erzählender Zauberer und verzaubernder Erzähler.
Laut Klappentext nimmt uns der Autor „mit in unsere unheimliche Zukunft“. Die meisten der Stories könnten sich aber genauso gut direkt vor unserer Haustür, beziehungsweise in der Gegenwart abspielen. Meist weisen sie eine recht bizarre Note auf, kommen surrealistisch daher oder haben eine Prise Humor, so wie man das von Boyle´s Geschichten gewohnt ist.
Gleich zu Beginn bekommt ein Mann von seinem Bruder ein Video zugespielt, welches seine Frau in einem derben Porno zeigt. Oder der Leser kann von einem Rockstar lesen, der allein in seinem Haus stirbt und von niemandem vermisst wird. Dann wieder erfährt man vom Schicksal und dem Unwesen der ausgewilderten Tigerin Tara oder beobachtet ein Paar, das in einer heruntergekommenen Bretterbude haust und dann die Möglichkeit bekommt, das Anwesen eines reichen Paares zu hüten.
Die Geschichte „The Relive Box“ entwirft das Szenario einer Technologie, die es ermöglicht, die eigene Vergangenheit in Realzeit abspulen zu lassen, und zwar in 3D, eine Technologie, die ihre Nutzer süchtig macht. Eine typische Boyle-Story: Während sich die Digital Natives an der eigenen Selfie-Gegenwart weiden und die Welt in sozialen Netzwerken am eigenen Leben teilhaben lässt, ist T.C. Boyle mal wieder einen Schritt voraus. Wie die Protagonisten in Wim Wenders Film „Bis ans Ende der Welt“ zu Junkies ihrer eigenen Träume werden, so werden die Relive-Box-Benutzer zu Junkies ihrer eigenen Vergangenheit. Dabei geht es viel um den Geist des Punk, um Songs von The Clash, um ein T-Shirt der legendären Band Black Flag oder die magische Anziehungskraft von Plattenläden in den 80er Jahren, als Rockmusik noch das Leben der meisten jungen Leute bestimmte.
T. C. Boyle´s Stories rocken. Sie begeistern, sind absurd bis lustig, dabei messerscharf beobachtet und gewohnt exzellent erzählt. Das besondere an den Geschichten ist aber, dass sich Boyle nie wiederholt. Er scheint in seiner Sucht zu schreiben, auf ein unerschöpfliches Reservoir an Ideen und Fantasie setzen zu können, das niemals austrocknet. Genial und nicht nur für Fans. Ich empfehle deshalb, auch dieses neue Buch vom Rockstar der Literatur zu lesen und zu genießen.
T. C. Boyle: Sind wir nicht Menschen, Hanser-Verlag, München, 17. Februar 2020, 400 Seiten, Amazon.
Die Bücher sind in den inhabergeführten Buchhandlungen Belling, Prosa, Buchfink, Arno Adler, Langenkamp, maKULaTUR und Buchstabe erhältlich.