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Neuer Lesestoff

Der grandiose Sommer, der scheinbar nicht enden wollte, dürfte sich jetzt nach meinem letzten Strandbesuch endgültig Richtung Herbst verabschieden. Ich will mal nicht klagen: So viele sonnige Ostsee-Tage mit ausgiebig Zeit zum Schmökern in meinen Lieblingsbüchern der Saison gab es selten. Also möchte ich euch, meine lieben Leser, an meiner Freude am geschriebenen Wort teilhaben lassen.

Zu meinen Favoriten gehören zwei gar unterschiedliche Familien-Chroniken, eine lustige und eine absolut wissenswerte Biografie sowie zwei Krimis der Extraklasse. Beginnen möchte ich aber mit einer amerikanischen Schriftstellerin, die mit „Launen der Zeit“ ein schmales, aber äußerst lesenswertes Buch vorgelegt hat.

Anne Tyler, geboren 1941 in Minneapolis und heute in Baltimore lebend, hat schon 22 Romane veröffentlicht. Sie gewann den Sunday Time Award für ihr Lebenswerk wie auch den berühmten Pulitzerpreis. Viele Kritiker halten sie für die größte lebende Romanautorin und Erzählerin der USA. Sie erzählt mit Geist, Witz und Herz die Geschichte einer so stillen wie mutigen Frau, die nach Jahrzehnten sich selbst näherkommt und die Entscheidung trifft, aus alten, scheinbar normalen Strukturen auszubrechen, um selbstbestimmt ihr weiteres Leben zu gestalten.

Es geht um Willa Drake, deren Kindheit oberflächlich normal und geregelt abläuft. Aber unter dieser Schutzschicht aus Normalität brodelt es in dieser Durchschnittsfamilie. Die Mutter verschwindet immer mal wieder und überlässt Mann und Tochter deren Schicksal. Nach dem Ausbruch aus dieser dysfunktionalen Familie heiratet sie und gründet selbst eine Familie mit zwei Söhnen. Als ihr Mann stirbt, muss sie ihr eingefahrenes Leben neu orientieren. Die mittlerweile erwachsenen Söhne leben weit weg und kümmern sich wenig um die Mutter, die einen neuen Partner gefunden hat und weiter im amerikanischen Klischee von Hausfrau und Frau an der Seite des erfolgreichen Mannes existiert.

Eines Tages bekommt sie einen folgenschweren Anruf, der ihr gesamtes Leben auf den Kopf stellt. Sie geht nach Baltimore und ist plötzlich mit einer völlig neuen Familie konfrontiert, die eigentlich überhaupt nichts mit ihr zu tun hat. Hinzu kommen spleenige Nachbarn, ein Hund namens Airplane und liebenswerte, bodenständige Menschen, die ihrem Leben eine völlige Kehrtwendung geben. Klug und warmherzig beschreibt Anne Tyler die langsame und mühevolle Emanzipation einer typischen amerikanischen Frau, die endlich das Leben lebt, das sie selbst bestimmt.

Anne Tyler: Launen der Zeit, Kein + Aber Verlag, 2018, 304 Seiten

Der Amerikaner Paul Theroux, geboren 1941 in Medford, Massachusetts/USA, gehört schon seit Jahrzehnten zu meinen Lieblingsautoren. Besonders seine Reiseromane haben mich immer wieder in fremde, oft exotische Länder und Kulturen entführt. Mit mehr als 30 veröffentlichten Romanen und Reisebeschreibungen, die stark autobiografisch beeinflusst waren, gehört er zu den weltweit populärsten Gegenwartsautoren. In dem jetzt vorgelegten Familien-Epos „Mutterland“ schließt sich ein schriftstellerischer Kreis, der erst durch diese böse, aber gnadenlos ehrliche und auch sehr humorvolle Dekonstruktion des Mythos Familie verständlich wird.

Theroux's 650 Seiten lange Abrechnung mit seiner äußerlich berühmten und heiligen Familiengeschichte bricht das Tabu, dass man nicht über seine geliebte Großfamilie und besonders die all umsorgende Mutter wahrheitsgemäß zu Felde zieht. Sein Kampf gegen den Mythos von der guten alten Zeit und die scheinheilig fromme Familie schockiert und amüsiert gleichzeitig. Mit zielsicherer Prosa und beklemmender Ehrlichkeit fängt Paul Theroux die beklemmende Enge dieses Familienreichs ein und ruft dabei Gefühle hervor, die dem Leser auf unheimliche Weise genau das präsentieren, was sonst immer nur der Horror der anderen ist.

Im Mittelpunkt dieses wuchtigen Romans steht die alle tyrannisierende Mutter, die durch Intrigen, Lügen, Neid und Gier ein Regiment über ihren Ehemann und die sieben Kinder führt. Diese nach außen unsichtbare Herrschaft der zerbrechlichen Matriarchin endet selbst in ihren letzten Jahren in einer Seniorenresidenz nicht. Denn mit über 100 Jahren Alter genießt sie den besonderen Triumph ihrer Selbstdarstellung als gütige Urmutter und Zeitzeugin, ohne die lästige Kritik ihrer Kinder noch kontern zu müssen.

Mutterland ist eine schonungslose Expedition in das dunkle Herz der Finsternis amerikanischer Großfamilien, die aber weltweit gültig sein dürfte und nicht ohne Absicht dabei jener des Autors ähnelt. Dabei schildert der Roman keine epische Familiensaga alten Stils, etwa die Buddenbrooks auf Cape Cod, dafür ist das Buch viel zu bösartig und bitter. Denn was sonst ist von einer Familie zu halten, in der der Sohn in das Haus seiner greisen Mutter einbricht, um sie zu bestehlen und die finanziellen Verhältnisse auszuspionieren? Wie verträgt sich das Selbstbild eines renommierten Literaturwissenschaftlers mit der Boshaftigkeit, seine intellektuellen Kompetenzen, aber auch das im Familienkreis erworbene, private Wissen zu nutzen, um den Roman des eigenen Bruders zu vernichten? Es sind die Konsequenzen aus einer Familie, in der jeder jeden zu übervorteilen sucht, in der gelogen, übertrieben, gestohlen und verleumdet wird, stets angespornt und animiert von einer Mutter, die damit ihre Herrschaft über das Gesamtgefüge absichert und in Stein meißelt.

Kein Familienmitglied kann dieser perfiden Mutter entrinnen, sich emanzipieren, sondern wird auf unterschiedlichste Art und Weise immer wieder unweigerlich in die Manipulationen der Übermutter hineingesogen. Obwohl alle Kinder mittlerweile erwachsen sind, eigene Karrieren und Familien haben, fühlen sich alle verpflichtet, immer wieder in das Haus der Mutter zurückzukehren.

Mal ist der Anlass ein Fest, wobei immer bewusst eines der Geschwister nicht eingeladen ist oder von sich aus die Feier schwänzt. Dann wieder gibt die Mutter an, Hilfe und Beistand zu benötigen oder in Verwahrlosung zu geraten, dabei hungert sie sich künstlich halb tot, meist mit dem Hintergedanken, andere Familienmitglieder zu beschämen oder herabzuwürdigen. „Mutter“, wie sie nur genannt wird, übertrifft sich jedes Mal selbst darin, ihre Kinder gegeneinander auszuspielen. Auch der Autor, in der Person des Schriftstellers Jay schafft es nicht, sich dem Gravitationsfeld mütterlicher Manipulation zu entziehen. Jede Flucht ans Ende der Welt führt unweigerlich wieder in das kalte Herz der kalten Heimat auf Cape Cod. Nur Angela, die zwar kurz nach der Geburt starb, ist für Mutter das einzige der Kinder, welches sie bedingungslos liebt und von dem sie sich verstanden fühlt.

Zusammengeführt wird diese dysfunktionale Familie, als der Vater stirbt, und erst da wird allen klar, wie durch jahrelange Verdrängung der Geschwister ein System permanenter Manipulation auf allen emotionalen Ebenen das prägende Mutterland erst möglich wurde. Trotzdem bleiben alle auch danach nur wechselnde Marionetten von Mutters Intrigen und Launen: Fred, der selbstbewusste Anwalt und treue Bürger Mutterlands, Floyd, der cholerische Professor und Lyriker, der scheinbar durch seinen satirischen Intellekt niemand an sich heranlässt, die Schwestern Franny und Rose, beide, so Jay, „voluminöse Grundschullehrerinnen“ – wie die Mutter übrigens –, der grüblerische, aber verfressene Krankenpfleger Hubby, „ein kreativer Meister im Herabwürdigen und Fehlerfinden“, Gilbert, der fröhliche, unaufrichtige Diplomat und eben Jay, der erfolgreiche Schriftsteller, dessen Werk von Mutter geringgeschätzt wird und dessen zwei Ehen gescheitert sind – trotz zweier Söhne sowie eines weggegebenen unehelichen Sohnes.

Trotz seiner überbordenden Länge überzeugt der Roman in seiner Vielschichtigkeit, seinem bissigen Humor, gleichzeitig erschreckt er aber durch die Schilderung und Analyse der unverhohlenen Grausamkeit der Mutter und dem damit einhergehenden, überwältigenden Lesegenuss.

Paul Theroux: Mutterland. Hoffmann und Campe, 2018, 656 Seiten.

Nach so viel Boshaftigkeit jetzt was Leichtes, Amüsantes: Der wohl bekannteste deutsche Komiker, Otto Waalkes, ist gerade 70 Jahre alt geworden und hat dazu eine unterhaltsame und komödiantische Biografie verfasst, die aber auch zum Nachdenken anregt. Herausgekommen ist die große Ottobiografie „Kleinhirn an alle“ – nach einer wahren Geschichte, ein über 400 Seiten starkes Buch, über das nicht nur gelacht werden soll.

Meine persönliche Geschichte mit Otto Waalkes begann in den frühen 70ern, als er sich damals im „Stadt Rendsburg“, einem kleinen Musikclub in meiner Heimatstadt Neumünster, in dem hauptsächlich Oldtime-Jazz-Bands, aber auch neue Gruppen wie Can oder Frumpy mit Inga Rumpf auftraten, als Folk-Musiker versuchte. Allerdings wurde er schon damals eher durch seine lustigen Ansagen und Zwischentexte beklatscht denn durch seine Musik. Wobei man sagen muss, dass Otto schon damals ein großartiges musikalisches Talent auf diversen Gerätschaften und stimmliche Finessen erkennen ließ.

Später, als er sich auf seine komische Seite spezialisierte und erste Shows in größeren Hallen gab, war ich als Roadie dabei und habe ihn diverse Male durch Norddeutschland begleitet. Dabei habe ich ihn als meist witzigen, aber trotzdem bodenständigen Menschen ohne besondere Star-Allüren erlebt, obwohl der Mann schon damals überall absolute Bekanntheit erlangt hatte. Einmal waren wir nach dem Sound-Check mit ihm in der Innenstadt von Neumünster unterwegs, weil Otto noch Hunger hatte, aber nicht mehr allein auf der Straße rumlaufen konnte. Natürlich wurde er von allen erkannt und bestürmt. Also flüchteten wir in einen Imbiss, wo er sofort mit viel „Hallo Otto“ begrüßt wurde.

Er hatte völlige Narrenfreiheit, konnte fremden Leuten die Wurst vom Teller klauen, mit Pommes Frites durch die Gegend werfen, wurde aber trotzdem bejubelt und gefeiert und musste natürlich nichts für sein Essen bezahlen. Von mir und zwei anderen Aufpassern, heute würde man Bodyguards sagen, wurde er danach durch den Menschenauflauf, der sich schnell vor dem Laden gebildet hatte, wieder zum Auto und zurück zur Halle eskortiert. Bei alledem hatte Otto seinen persönlichen Spaß und war außerordentlich freundlich mit den Fans. Und selbst, wenn man seine Show schon zehnmal bei einer Tournee gesehen hatte, bekam er auch mich immer wieder, und alle Mitarbeiter haben genau so hinter den Kulissen gelacht wie das Publikum vor der Bühne.

Und noch heute besitze ich den plüschigen Ottifanten, den mir Otto Jahre später bei einem Auftritt in der Lübecker MuK zufällig zugeworfen hatte, als ich mal wieder als Besucher bei einem Auftritt von ihm war. Jahrelang hat mich das witzige Plüschtier auf meinen Reisen im Rucksack begleitet, als Kopfkissen gedient oder sprachliche Barrieren zwischen mir und Menschen in Afrika, Asien oder Südamerika durch Lachen niedergerissen. Otto sei Dank.

Und natürlich fallen einem sofort wieder diverse Sprüche, Reime und Witze ein, von denen viele in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen sind. Das Buch erklärt, wie diese zustande gekommen sind und wer von seinen Autoren (seit 1973 Robert Gernhardt, Bernd Eilert und Peter Knorr) die schrägsten Ideen hatte. Zum Beispiel: „Hohes Gewicht, liebe Geschwollenen. Angenagter, Ihnen wird zur Last gelegt, sie hätten an dem Mast gesägt […], das wird sofort mit Knast belegt.“ Ich muss hier gar nicht den ganzen Text wiederholen, den kann sowieso jeder Zweite mitsprechen!

Gleichzeitig erscheint Otto Waalkes aber auch als sympathischer, hochsensibler Musiker und Komiker, der das gesamte Repertoire vom Blödeln bis zur Sprachakrobatik beherrscht und süchtig danach ist, andere zum Lachen zu bringen. Aber darüber hinaus lässt er den Leser auch an seinem Privatleben teilhaben. So erzählt er von seinen zwei gescheiterten Ehen: „Ich habe geglaubt, dass ich es mir leisten könnte, mit Hinweis auf meine beruflichen Pflichten, meine ehelichen zu vernachlässigen.“ Waalkes war von 1987 bis 1999 mit Manuela „Manou“ Ebelt verheiratet. 1987 wurde Sohn Benjamin geboren. Eva Hassmann wurde im Jahr 2000 Ottos zweite Ehefrau. Sie war von Kindheit an ein Otto-Fan. Trotz der 25 Jahre Altersunterschied haben sie geheiratet und seien „Dutzend Jahre wie zwei Kinder im Sandkasten glücklich gewesen“. Natürlich konnte das auf Dauer nicht gut gehen, aber man trennte sich ohne Groll. „Dass ich mit zwei so schönen Frauen wie Manou und Eva zusammen sein durfte, war ein Glück für mich. Allein dafür hat es sich gelohnt, berühmt zu werden.“ Man erfährt auch, dass er im Winter in Florida lebt und gelegentlich mit Steffi Graf Tennis spielt.

Es gibt Autoren, die mit Intellekt protzen, den sie nicht haben. Otto aber spielt seinen herunter. Dabei ist seine Autobiografie geistreich, denn er kennt sich aus: von den dramaturgischen Feinheiten des Kasperle-Theaters bis hin zu den poetisch-bissigen Themen des politischen Kabaretts, aber auch die Shakespeare-Stücke fließen in seine Kunst mit ein. Sein geniales Lebenswerk besteht darin, dass er alles hinter der Maske der Kunstfigur Otto verstecken kann, die wie ein über die Bühne hoppelndes, in hoher Stimmlage kieksendes, Grimassen schneidendes Kind daherkommt, das mittlerweile 70 Jahre alt geworden ist.

Otto Waalkes: Kleinhirn an alle. Die große Ottobiografie, Heyne Verlag, 2018, 416 Seiten, 22 Euro.

Die zweite Biografie ist eigentlich gar keine, sondern eher ein spannender Bericht über eine jahrzehntelange Spurensuche nach einer faszinierenden Persönlichkeit. Geschrieben hat sie Frank Vorpahl, ein promovierter Historiker und Redakteur von „aspekte“ beim ZDF. Seit über 20 Jahren hat er sich auf die Spuren des berühmten Weltreisenden, Naturforschers, Freimaurers, Pioniers der Ethnologie, Schriftstellers, Aufklärers und Revolutionärs Georg Forster (1754 – 1794) geheftet, um das Leben und Wirken seines Idols zu erforschen und zu erklären. Er reiste rund um die Welt, drehte zahlreiche Filme über Forster, initiierte und verantwortete die große Reise um die Welt – Ausgabe der „Anderen Bibliothek“ und gab den Band „Georg Forster: James Cook, der Entdecker“ mit den von ihm entdeckten unbekannten Forster-Zeichnungen heraus. Darüber hinaus ist er Kurator der ersten gesamtdeutschen Georg-Forster-Dauerausstellung in der Unesco Welterbestätte Schloss Wörlitz, die am 5. Mai 2018 in Wörlitz eröffnet wurde.

Zusammengetragen auf 542 Seiten hat Frank Vorpahl jetzt sein gesamtes Wissen über diese einmalige Persönlichkeit der deutschen Geistesgeschichte in dem reich bebilderten und mit wunderschönen Zeichnungen versehenen Band „Der Welterkunder – Auf der Suche nach Georg Forster“. Georg Forster ist 1754 in Nassenhuben, einem kleinen Nest bei Danzig geboren. Eine erste Reise führte ihn zusammen mit seinem Vater nach Russland. Schon mit zwanzig gehörte er zu den am weitesten gereisten Menschen seiner Zeit.

Von 1772 bis 1775 durfte er als Naturforscher gemeinsam mit seinem Vater bei der zweiten Weltumsegelung von Captain Cook teilnehmen. Dabei wurden die Osterinseln, die Südsee, Neuseeland und die arktischen Gewässer bereist. Ergebnis dieses Abenteuers ist sein Buch „Die Reise um die Welt“, ein Paradestück der modernen Reisebeschreibung, das ihn zu einem gefeierten Schriftsteller werden ließ. Mit 29 Jahren ist er Mitglied des Rheinisch-Deutschen Nationalkonvents in Mainz, dem ersten Parlament auf deutschen Boden. Er sympathisierte mit den Idealen der französischen Revolution, traf Benjamin Franklin und den französischen Gelehrten Graf Buffon und pflegte einen regen Austausch mit Goethe, Herder und Wieland. Alexander von Humboldt bewunderte Forster und bezeichnete ihn „als hellsten Stern meiner Jugend“. In Deutschland vom Kerker bedroht, stirbt er mit 39 Jahren verarmt und einsam in Paris an den Folgen einer Tropenkrankheit.

Danach geriet er, ähnlich wie Alexander von Humboldt, in Vergessenheit, vielleicht oder gerade weil er als Freidenker und wegen seiner Weltläufigkeit selbst mit Philosophen wie Kant aneinandergeriet. Diesen Schreibtisch-Moralisten griff er scharf an und legte dessen rassistisches Denken offen, was in Deutschland bis heute ja meist nicht gut ankommt.

Frank Vorpahl, der seit langem von Forster fasziniert ist, besuchte seit mehr als 20 Jahren Archive in aller Welt und systematisch Orte, an denen sich sein Idol aufhielt. Dort begegneten ihm Reiseforscher wie Thor Heyerdahl, Politkenner wie Klaus Harpprecht, Biologen, Ökologen, Sprachwissenschaftler, aber auch Fischer auf den Osterinseln, Bio-Drogen-Dealer auf Tonga und die angeblich letzten Kannibalen auf Tanna. Dabei verliert er sich manchmal gerne in Details, lässt aber auch Forsters Homosexualität nicht unter den Tisch fallen. Wie Forster selbst begibt sich Vorpahl auf wacklige Boote und scheut kein Abenteuer, denn wie sein Held will er die Welt mit eigenen Augen sehen. Herausgekommen ist ein großartiges Buch mit wunderbaren Illustrationen, Karten und Fotos, welches einen vergessenen Klassiker der deutschen Geschichte wieder in die Gegenwart holt. Gleichzeitig führt er uns aber auch vor Augen, was aus der Welt geworden ist, die Forster schon damals mit stets offenem Geist und neugierigen Augen bereist hat.

Frank Vorpahl: Der Welterkunder – Auf der Suche nach Georg Forster, Galiani Verlag, 2018, 544 Seiten.

Jetzt noch zwei Tipps für Leser mit Faible für Mord und Totschlag: Zunächst eine Neuentdeckung von mir – Derek B. Miller. Geboren in Boston und nach Stationen in Israel, England, Ungarn und der Schweiz lebt der promovierte Spezialist für Sicherheitspolitik seit längerem in Norwegen. Er arbeitete für zahlreiche Gremien der UNO und an verschiedenen Universitäten weltweit. Sein Debüt, „Ein seltsamer Ort zum Sterben“, wurde in vielen Länder wie auch in Deutschland ein Bestseller. Ein überzeugender, großartiger Krimi, Spannungsliteratur höchster Güte und trotzdem ein gefühlvoller, menschlicher und irre komischer Roman, wie diverse Kritiker urteilten. Jetzt liegt sein zweiter Roman vor: Sigrid Ødegårds Reise nach Amerika.

Sigrid Ødegård ist Chefinspektorin und hat vor kurzem im Dienst und aus Notwehr einen Menschen erschossen. Darüber kommt sie schlecht weg, denn in Norwegen erschießt man nicht so einfach Menschen, selbst wenn man von der Polizei ist. Oslo ist nicht Amerika. Aber da soll sie sofort hin. Dabei hatte sie extra ihren Vater in den Bergen besucht, um zur Ruhe zu kommen. Doch der empfängt sie mit einem Ticket in die USA, wo sie nach dem vermeintlich verschwundenen Bruder Marcus suchen soll. Aber auch die amerikanische Polizei sucht Marcus, denn ihm wird Mord an seiner schwarzen Freundin Lydia Jones vorgeworfen. Sigrid trifft bei ihrer Suche auf Sheriff Irving Wylie, einen Mann in Cowboystiefeln und einem Abschluss in Theologie. Beide trauen einander nicht über den Weg, aber müssen zwangsläufig gemeinsam ermitteln. Dieser polizeiliche Culture-Clash überschattet die ganze Geschichte, die sich mehr und mehr zu einer als Krimi verpackten philosophischen Tragikomödie entwickelt.

Es geht um den alltäglichen Rassismus in den USA, den wir ja auch heute wieder erleben, aber auch um eine alte und sehr traurige Familiengeschichte. Das Ganze ist wunderbar spannend und fesselnd erzählt, gespickt mit bissigem Humor und scharfer Kritik an der amerikanischen Wirklichkeit. Die Dialoge sind trocken und die Geschichte steckt voller slapstickhafter Wendungen. Die Figuren sind präzise beschrieben, die Handlung ein solider Spannungsroman um Verantwortung und Schuld, Gerechtigkeit und Verbrechen. Gerade in Zeiten von präsidialen Lügen und Fake-News trifft er deutlich den Nerv unserer Zeit zwischen dem alten Europa und eine auf America-First bezogene USA. Ein Roman nicht nur für eingefleischte Krimi-Fans, sondern auch für Menschen, die mal über den Tellerrand schauen, die sich eher grundsächliche Gedanken über Gut und Böse machen. Besonders in Zeiten eines Präsidenten Donald Trump nicht die schlechteste Idee.

Derek B.Miller: Sigrid Ødegårds Reise nach Amerika, Rowohlt-Polaris, August 2018, 416 Seiten.

Mein zweiter Tipp stammt von einem alten Bekannten, dem schottischen Schriftsteller Christopher Brookmyre, den ich hier schon zweimal vorgestellt habe. Nach „Die hohe Kunst des Bankraubs“ (2013) und „Angriff der unsinkbaren Gummienten“ (2014) ist jetzt sein neuer Kracher „Wer anderen eine Bombe baut“ erschienen. Der in Glasgow lebende Autor, Jahrgang 1968, hat erneut einen rabenschwarzen und vor Anspielungen auf Terror und Rock´n´Roll triefenden, raffiniert komponierten Roman geschrieben. Und es beginnt sofort mit dem ersten Satz: „Armselige Vorstadtsklaven. Notschlachten wäre noch zu nett.“ 

Es geht um einen skrupellosen Auftragsterroristen Simon, seinen Ex-Bandkollegen, den von Lehrerjob und schwangerer Freundin überforderten Nerd Ray und die beinharte, coole schwarze Polizistin Angelique, die sich vom Rassismus und Sexismus der Bürohengste und Kollegen bei der Glasgower Polizei nicht aus der Ruhe bringen lässt. Zufällig treffen sich der angeblich bei einem Flugzeugabsturz verstorbene Simon und Ray. Kurze Zeit später hat der schluffige Ray, der mit seinem Studienkollegen Simon früher mal ein Rockstar werden wollte, eine Horde Auftragskiller an den Hacken. Die Ereignisse überschlagen sich, denn ein ominöser Terrorist namens Black Spirit plant anscheinend einen Großangriff auf das englische Königreich.

Und schon steckt man mitten in einer abstrusen Story, die meilenweit entfernt ist von normaler Mainstream-Krimikost. Wieder mal gelingt Brookmyre eine literarisch-spitzfindige Delikatesse, die vor schwarzem, typisch britischem Humor nur so strotzt. Dazu kommen ein Rundumschlag bezüglich englischer Rockmusik, hervorragend recherchierte Computerspiel-Anleihen, bitterböse Terroristen-Fantasien, wie zum Beispiel ein Anschlag auf eine Skinhead-Band („vier Arschlöcher, drei Akkorde, zwei Gitarren und ein Verzerrer“), die Simon aus persönlichen Gründen mit Hilfe einer Nebelmaschine niederstreckt, wobei die offizielle Presse ihm die Pointe versaut: „Die offizielle Opferzahl belief sich auf fünfundzwanzig Tote, darunter lustigerweise alle vier Bandmitglieder. (...) Eine Schlagzeile à la ,Nazis bei Holocaustleugner-Konzert vergast′ war wohl zu viel verlangt.“ 

Christopher Brookmyre fügt die verschiedensten Handlungsstränge gekonnt zum Showdown in den schottischen Highlands zusammen. Dazwischen gibt es immer wieder etwas zum Staunen und Nachdenken, denn dieser Roman ist erneut furios erzählt, strotzt aber vor Wendungen und intelligenten Anspielungen aktuellster Geschehnisse und kultureller Pop-Referenzen. Ein absoluter Pageturner, den man nicht eher aus den Händen legen kann, bis man das blutige Ende geschafft hat. Grandios, raffiniert und super witzig!

Christopher Brookmyre: Wer anderen eine Bombe baut, Galiani Verlag Berlin, 2018, 512 Seiten.

Die Bücher sind in den inhabergeführten Buchhandlungen Prosa, Buchfink, Arno Adler, Langenkamp, maKULaTUR und Buchstabe erhältlich.

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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