Heute habe ich für die geneigte Leserschaft drei Romane ausgewählt, die man als historische Abenteuerromane zwischen Fiktion und Realität bezeichnen kann. Sie spielen zu Zeiten der spanischen Eroberung von Florida und Texas, in England gegen Ende des 17. Jahrhunderts und auf den exotischen indischen Andamaneninseln während der englischen Kolonialzeit.
Mein erster Buch-Tipp stammt von Laila Lalami, einer in Marokko geborenen Autorin, die heute in den USA lebt und deren Roman „Die Anderen“ von mir hier ebenfalls rezensiert wurde. In ihrem aktuellen Buch „Der verbotene Bericht“ geht es zurück in das Jahr 1527, als der marokkanische Sklave Mustafa, genannt Estebanico an der spanischen Narvaes-Expedition teilnehmen musste, um Florida und Texas zu erobern. Er erlebt die Arroganz der Eroberungs-Flotte, die sich das Land nimmt, das offensichtlich den indigenen Stämmen gehört, indem sie diese Tatsache aussprechen, ganz egal, ob die Eingeborenen dies hören oder nicht.
Zunächst scheint die Expedition, die mit vier Schiffen angereist ist, leichtes Spiel zu haben. Aber schnell wird die Selbstherrlichkeit der Eroberer durch Dummheit, Krankheiten, Hunger und kämpferische Indianer auf den Boden der Realität zurückgebracht. Von den über 250 Eindringlingen (Kapitäne, Adlige, Soldaten, Schriftführer, Priester, aber auch Diener, Handwerker, Bauern und Sklaven) überleben am Ende nur vier Personen. Darunter befindet sich Mustafa, der seinem Herren Dorantes gezwungenermaßen auf eines der Schiffe folgt.
Auf der Suche nach angeblich riesigen Goldvorkommen und Reichtum geraten die Eroberer immer mehr in eine Natur, die sich als äußerst feindselig herausstellt. Sie treffen auf tödliche Gefahren wie mörderische Krokodile, feindliche Indigene, feucht-heiße klimatische Verhältnisse und schwierige Versorgungslagen. Teilweise verirren sie sich auch einfach in der fremden Pampa, weil sie groteskerweise an ihren Herrscher-Ritualen festhalten und sich einer Zusammenarbeit mit der einheimischen Bevölkerung aus Überlegenheitsgefühlen verweigern. Die Folge sind Krankheiten und Hungersnöte.
Ausgerechnet der Sklave Estebanico, der schnell indigene Sprachen erlernt und sich als Heiler herausstellt, führt die Überlebenden nach Jahren durch verschiedene Stammesgebiete später bis nach Neu Mexiko, wo ein spanischer Gouverneur regiert. Dort ist er wieder Sklave, obwohl er seinen Herren gerettet hat. Weil er schreiben und lesen kann, verfasst er einen eigenen Bericht über die gesamten Vorkommnisse und beschreibt darin, wie die Geschichte immer wieder aus Herrschersicht erschreckend brutal und offensichtlich verfälscht dargestellt wird.
Die Autorin Lalami schildert in diesem fiktiven Roman, wie es gewesen sein könnte. Sie gibt dem Sklaven Mustafa eine Stimme, in dem sie die Perspektive der historischen Geschichtsschreibung umdreht. Mustafa, der zum Sklaven wurde, bevor er selbst mit Sklaven handelte, um seine Familie zu ernähren, gerät in die Abhängigkeit seines spanischen Herren. Schnell erkennt er, dass die spanische Selbstherrlichkeit an ihrer eigenen Arroganz und Selbstgerechtigkeit zugrunde gehen wird. In größter Not dienen sie später sogar den niederen Indianern, bis sich Mustafa/Estebanico als Heiler und Vermittler herausstellt. Die vier Überlebenden leben zusammen mit den Stämmen und heiraten sogar einheimische Frauen.
Leila Lalami schafft es, mit spannenden Details und einer teils grotesk-humorigen Beschreibung der früheren abenteuerlichen Eroberungsgeschichte eine neue Perspektive zu geben. So erfährt die berühmte Navaez-Expedition eine Neudeutung, die der damaligen Realität wahrscheinlich deutlich näher kommt. Vor allem erfährt ein zunächst stummer Zeuge eine späte Wiedergutmachung und die kolonialen Eroberungs-Expeditionen Amerikas werden in ein neues Licht gerückt. Damit trifft Leila Lalami aber auch den Nerv der Zeit, der die Deutungshoheit unserer kolonialen Vergangenheit immer mehr in Frage stellt.
Leila Lalami: Der verbotene Bericht, Kein & Aber , Zürich Oktober 2022, 490 Seiten, Amazon.
Olli Jalonen ist zweifacher Finlandiapreisträger und wurde mit „Die Himmelskugel“ aus dem Jahre 2021 auch bei uns berühmt. Der von mir ebenfalls hier besprochene Roman hat jetzt mit „Die Kunst, unter Wasser zu leben“ einen facettenreichen, spannenden Nachfolger erhalten. Der finnische Autor spinnt seine Geschichte um den jungen Helden, der auf abenteuerlichsten Wegen von St. Helena im südlichen Atlantik ins England gegen Ende des 17. Jahrhunderts gelangt, um als Diener und Gehilfe des bekannten englischen Forschers Edmond Halley zu arbeiten, fort. Angus, der eigentlich vor vier Jahren von seiner Heimatinsel als blinder Passagier nach London kam, ist mittlerweile ein Jugendlicher, der im Haushalt der Halleys seine Dienste nur für Kost und Logie erfüllt.
Sein Herr, der berühmte Himmelsforscher Edmond Halley hat sich unterdessen auf eine neue Atmosphäre verlegt: die Meeresforschung. Dafür hat er eine Tauchgesellschaft gegründet, die das Tauchen nach untergegangenen Wracks und ihren Schätzen forcieren soll. Er erfindet dabei die erste Tauchglocke und benutzt dafür Angus als Versuchsmensch. Unter Schmerzen, aber auch aus Abenteuerlust erledigt der junge Mann die schwierigsten Aufgaben. Er ist immer noch unterwürfig und bescheiden, denn die Zeiten sind nach wie vor schwierig. Es herrscht Krieg und selbst Halley muss sich als Forscher und Geschäftsmann behaupten, obwohl er einen prominenten Fürsprecher mit Isaac Newton hat.
Gleichzeitig wird Angus langsam erwachsen. Ihn plagen nach wie vor Heimweh und die Frage, wie es seiner Mutter im fernen St. Helena ergangen sein mag. Gleichzeitig verliebt er sich unglücklich in das Dienstmädchen Henrietta, die nach Frankreich verheiratet werden soll. Bei einem tragischen Annäherungsversuch verliert Angus ein Auge. Trotzdem setzt er seine privaten Himmelsbeobachtungen fort und gestaltet eine Reliefkarte, die selbst Halley fasziniert. Als dieser zu einer zweiten Expeditionsreise zur Vermessung unbekannter Gefilde im Südatlantik aufbricht, darf ihn Angus als Führer des Logbuches mit an Bord begleiten. Als das neue Jahrhundert beginnt, erreicht die Crew Terra Incognita, die eisige Welt der Antarktis, wo Angus bei einer gefährlichen Tour erneut schwer verletzt wird. Bei der Rückreise mit Halt auf seiner Heimatinsel, wo er nach Jahren in der Fremde seine Mutter und seinen Bruder wieder sieht, muss Angus eine schwere Entscheidung treffen.
Olli Jalonen lässt auch im zweiten Band seiner spannenden Geschichte aus Entwicklungsroman und historischem Bericht seinen Helden Angus als Ich-Erzähler auftreten. Dabei gelingt es ihm, wunderbar übersetzt von Stefan Moster, den Protagonisten in einer Sprache der Unterwürfigkeit gegenüber seinen Dienstherren, aber auch in einem Redestil der damaligen Zeit und als Jugendlichen zu zeichnen. Dabei ist Angus ein schlauer Kopf und hervorragender Beobachter, aber gleichzeitig voller Unsicherheit und Selbstzweifel. Beständig verbinden sich seine Schilderungen der Geschichte aus Forschung und Krieg mit einer Innenschau aus Unruhe, Heimweh und Adoleszenz. Nie durfte er die Schule besuchen, obwohl er seinem Herren Halley stets treu und gewissenhaft und ohne Gehalt gedient hat. Gleichzeitig ist er weiterhin voller Wissensdurst und versucht zu ergründen, wie Leben entstand, was die Zeit bedeutet und wie das alles mit der Religion zusammen passt.
Obwohl Jalonens zweiter Roman bedeutend ruhiger und nachdenklicher daherkommt als sein Vorgänger, gelingt es dem Autor, weiterhin Forschergeist, Aufklärung und spannende Zeitgeschichte in einem Roman zu vereinen. Der Kampf gegen Religion und Aberglauben könnte auf heutige Zeiten von Verschwörungstheorien und Misstrauen gegenüber Wissenschaft ganz allgemein gedeutet werden und erhält somit einen weiteren Anreiz, diesen großartigen Roman zu lesen.
Olli Jalonen: Die Kunst, unter Wasser zu leben, Mare-Verlag, Hamburg, Februar 2023, 528 Seiten, Amazon.
Der Autor meiner dritten Buch-Empfehlung, Dennis Gastmann, ist hauptsächlich als Reiseschriftsteller, der im Stile eines modernen Gonzo-Journalismus schreibt, bekannt. Unter anderem reiste er für sein hoch gelobtes Buch „Mit 80.000 Fragen um die Welt“ kreuz und quer über den Globus. Jetzt hat er mit „Dalee“ seinen ersten Roman vorgelegt. Inspiriert durch die wahren Geschichten über schwimmende Elefanten in der fernen Andamanensee, führt er sein Lesepublikum in die exotische Welt eines unbekannten Indiens.
Die Geschichte um den Elefanten Dalee und seinen kleinen Elefantenführer Bellini spielt in der Zeit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Bellini ist der Sohn des alten Mahuts, dessen Familie seit fast 4.000 Jahren mit Elefanten leben und arbeiten. Eigentlich heißt der 11jährige Junge mit Vornamen Ohmvishnu Nihat Anup Shivaraju Ravi Lakshman Balachandra, weil seine Familie sich nicht auf einen kürzeren Namen einigen kann. Aber weil es in Indien üblich ist, neben dem „good name“ auch einen sogenannten „call name“ zu haben, wird daraus im Laufe der Geschichte Bellini.
Obwohl er nie eine Schule besucht hat und Analphabet ist, kennt er aber zehn Wege, auf einen Elefantenrücken zu klettern. Überhaupt kennt er sich mit Elefanten bestens aus: Sie seien kitzlig, schnarchen, gähnen, singen Wiegenlieder, können aber auch brutal, wild und unberechenbar werden, auch wenn sie manchmal weinen, erfährt der Leser. Gleichzeitig können die massigen Tiere schwimmen, „so leicht wie eine Feder“, wie sein Vater herausgefunden hat, der dem Elefanten das Schwimmen beigebracht hat, um ihm die Angst vor dem Wasser auszutreiben.
Angetrieben von dem Menschenfänger Ray, einem reichen Holzhändler, lässt sich der Vater mit seinem alten Elefanten Dalee anwerben, über das Meer von Indien zu den fernen Andamaneninseln zu segeln, um dort zu helfen, den Dschungel zu roden. Diese exotischen tropischen Inseln liegen dichter an Burma, dem heutigen Myanmar und Thailand und sind bekannt für unbarmherzige Hitze und Schwärme von Insekten. Trotzdem wagt sich die kleine Familie Bellini gemeinsam mit insgesamt 12 anderen Elefanten auf die riskante Seereise von Kalkutta in das vermeintliche Paradies aus Palmen und Früchten, das ihnen von Mister Ray, dem „Herren der Wunder“ versprochen wird. Der beschwerlichen wie abenteuerlichen Reise geht der Traum voraus, endlich ein lukratives Leben in Frieden und unter Palmen zu leben, angeführt vom Haupt-Ernährer Dalee, der nicht nur Teil der Familie, sondern auch deren Mittelpunkt ist.
Nachdem die Tortur der lebensgefährlichen Überfahrt für Menschen und Tiere überstanden ist, entpuppt sich das Leben auf der vermeintlichen Paradiesinsel als nicht weniger herausfordernd. Denn der undurchdringliche Dschungel mit all seinen Gefahren beginnt gleich hinter dem Strand. Außerdem beherbergt die ehemalige Sträflingskolonie der britischen Kolonialmacht gestrandete Ex-Häftlinge, die dem jungen Bellini mit ihrem Aberglauben, der Trunksucht und dunklen Gruselgeschichten Angst einjagen. Und auch die Natur erweist sich als gnadenlos. Es gibt gefährliche Tiere, wie giftig beissende Tausendfüßer oder die „Two-Step-Snake“, nach derem Biss man nur noch zwei Schritte machen kann. Auch die indigenen Jawara, die ungesehen durch den Dschungel schleichen, sind eine ständige Bedrohung. Als der Elefant, der sich zwischendurch sogar als malender Künstler entpuppt, langsam in die Jahre kommt und an Demenz erkrankt, wird auch er zunehmend zur Gefahr. „Das Altern ist wie eine Woge im Meer. Wer sich von ihr tragen lässt, treibt obenauf. Wer sich dagegen wehrt, geht unter“.Dennis Gastmann fand die Inspiration zu diesem abenteuerlichen Roman in einem Foto. Darauf war ein alternder Elefant mit eingefallenen Schläfen zu sehen, der einen abgebrochenen Stoßzahn hatte. Er hieß Rajan und war mit 66 Jahren der letzte lebende schwimmende Elefant auf den Andamanen-Inseln. Daraufhin begab sich der Autor auf die ihm unbekannten Inseln und recherchierte fünf Jahre über die geheimnisvollen Inseln, deren Geschichte als Strafkolonie und ihren Holzreichtum. Mit überbordender Phantasie hat er aus Erlebtem und Gehörtem eine abenteuerliche Geschichte geschrieben, die aus der reichhaltigen Kultur Indiens genauso schöpft, wie aus seinen Erfahrungen von Besuchen einer Elefantenfarm in Thailand.
In einem Interview erklärte Gastmann: „Meine Geschichte ist eine Parabel auf das Leben. Ich sehe in diesem Elefanten einen Menschen, eine Frau, die ich sehr geliebt habe, die älter wurde und die sich vor meinen Augen auflöste. Das heißt, alles verschwand. Erinnerung, der Himmel, das Meer sozusagen und auch die Erinnerung an mich“.
Dennis Gastmann: Dalee, Rowohlt Verlag Berlin, März 2023, 416 Seiten, Amazon.
Die Bücher sind in den inhabergeführten Buchhandlungen Belling, Prosa, Buchfink, Arno Adler, Langenkamp, maKULaTUR, Störtebeker, Buchstabe und Bücherliebe erhältlich.