Literaturtipps
Lesereise um die Welt

Von St. Helena bis nach Hawaii, über Indien nach New York und zurück in den Westerwald und nach Süddeutschland. Meine Literatur-Tipps für den Spätsommer/Frühherbst stammen von Debütanten wie von Vielschreibern, kommen als Klimaroman oder Abenteuerstory daher, verbinden Krimi mit Realgeschichte oder verzaubern mit einer mystischen Geschichte vom anderen Ende der Welt.

In Finnland zählt Olli Jalonen zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart und erhielt bereits zweimal den Finlandia-Preis, die renommierteste Literatur-Auszeichnung seines Landes. Jetzt hat er einen Abenteuerroman geschrieben, den bereits viele Kritiker und Leser für Weltliteratur halten. Salonen führt uns zurück in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges (1679), als sich Protestanten und Katholiken einen erbitterten Krieg lieferten, der selbst auf der fernen Insel St. Helena im Südatlantik für dramatische Konflikte sorgte.

Dort lebt der kleine, zähe „Angus von der Totholzebene“ mit seiner Mutter, seiner Schwester und derem Sohn Thomas, sowie ein weiteres Baby als kleiner Bruder. Der Vater war früh bei einem Unfall ums Leben gekommen. Dieser kleinen Familie nimmt sich der Pastor, ein streng gläubiger Christ und Anhänger des Königs von England, an. Die Mutter wird daraufhin als Geliebte des Pastors diskriminiert, beschimpft und bespuckt. Dann verschwindet der kleine Thomas spurlos und Angus darf nicht mehr seiner Leidenschaft der Sternen- und Vogel-Beobachtung nachgehen, die ihm der englische Wissenschaftler und junge Forscher Edmond Halley beigebracht hatte. Täglich, tagsüber und nachts war der wißbegierige Junge auf eine hohe Araukarie geklettert, um Vogelarten zu zählen und Sternbilder zu kartieren. Dafür hat er seine Augen geschult, seine Muskeln durch tägliches Laufen auf einen steilen Berg trainiert und sich vom Stiefvater, dem Pastor das Lesen und Schreiben beibringen lassen. Und das alles im Alter von sieben Jahren.

Dann steigern sich die Konflikte auf St. Helena. Der Gouverneur der Insel wird zum Autokraten und lässt Kritiker töten oder in den Kerkern verschwinden. Angus Ziehvater, der Pastor sieht nur noch die Möglichkeit, Edmond Halley schriftlich um Hilfe zu bitten. Den Brief soll Angus als blinder Passagier an Bord eines Sklaven-Schiffes nach London transportieren. Für die Überfahrt wird bezahlt, indem die Mutter seine Schwester Anne für zwei Stunden an einen Matrosen vermietet. Das zähe Kind versteckt sich tagelang unter unbeschreiblichen Bedingungen im Ausguck bei Wind und Wetter, bis er entdeckt wird. Er wird geschlagen, misshandelt und muss schuften wie ein Mann, obwohl er doch nur ein Kind ist.

Endlich angekommen im nass-kalten London schafft er es tatsächlich barfuss durch die Großstadt bis zum Haus des Forschers in Islington. Aber auch dort toben die Konflikte wie auf St. Helena und auch die Ehefrau des aufstrebenden Forschers ist ihm nicht gerade wohl gesonnen. Angus hat Heimweh, sehnt sich nach seiner Familie und scheint nirgendwo mehr zuhause zu sein, aber durch seine Zähigkeit, seinen Wissensdurst und die hervorragenden Augen gelingt es ihm, den Forscher Halley für sich einzunehmen. Also darf er bleiben als niederer Angestellter und später darf er auch den berühmten Forscher, dessen Name den berühmten Kometen (der wieder 2061 auftauchen wird) noch heute ziert, als junger Assistent bei einer Exkursion nach Wales begleiten.

Eine abenteuerliche Geschichte über die Anfänge der Aufklärung und über den berühmten Sternenforscher Edmond Halley, sowie über den Traum vom Wissen und seinen Wissenschaften, geträumt von einem zähen Burschen von einer weltabgeschiedenen Insel im südlichen Atlantik - wahre Weltliteratur.

Olli Jalonen: Die Himmelskugel, Mare-Verlag Hamburg, 2021, 543 Seiten, Amazon.

Als nächstes führt uns Rahul Raina in seinem Debütroman „Bekenntnisse eines Betrügers“ in das moderne Indien, ein Sub-Kontinent der Gegensätze. Krasse Armut trifft auf unglaublichen Reichtum, alte Traditionen, Kastenwesen und religiöse Vorbehalte prallen auf eine Gesellschaft, die Richtung High-Tech-Nation unterwegs ist. Die weltweit größte Demokratie mit über einer Milliarde Menschen versinkt immer mehr in politischer und wirtschaftlicher Korruption und Vetternwirtschaft. Auf diesem Hintergrund hat der zwischen Oxford und Delhi pendelnde Autor eine originelle, mitreißende, komische und bissige Satire zwischen Krimi und Stand-Up-Comedy geschrieben, die mit Gesellschaftskritik nicht spart.

Es geht um den jungen Ramesh Kumar, der in ärmlichen Verhältnisse aufwächst. Seine Mutter stirbt bei seiner Geburt, während sein alleinerziehender Vater ihn als desillusionierter, brutaler Schläger in einem Teeladen schuften lässt. Ein Leben ohne Zukunft, bis plötzlich die französische Nonne Claire ihn gegen den Willen des Vaters unter ihre Fittiche nimmt, ihn unterstützt und zu einer Schulausbildung verhilft. Als die fromme Frau, die nicht nur gegen den Widerstand des Vaters, sonders auch ihrer Arbeitgeber kämpfen muss, an Krebs erkrankt, ist sie plötzlich auf die Hilfe von Kumar angewiesen. Also legt sich der clevere, hoch intelligente Junge einen Job als „Bildungsberater“ zu. Er wird der professionellste Prüfungsbetrüger seines Landes, indem er für die faulen und dummen Blagen der Super-Reichen die unterschiedlichsten Examen ablegt, wofür er sich fürstlich entlohnen lässt. Er kennt absolut keine Skrupel, denn eine Rückkehr in sein elendes Leben mit dem Schläger-Vater kommt für ihn nicht in Frage. Außerdem sieht er sich als „Produkt der westlichen Arschloch-Meriokratie“, denn Moral sei eine Erfindung des Westens.

Als er dann eines Tages bei den nationalen Uni-Aufnahme-Prüfungen „All Indians“ den ersten Platz belegt, (eigentlich war er nur Zweiter, aber ein Muslim zählt eben nicht), macht er den Klienten, den 18jährigen Rudi, über Nacht zum berühmtesten Mann ganz Indiens. Dieser verdient sich als Medien-Star und als Werbe-Ikone Millionen, weil ihm Kumar weiterhin als Assistent und Berater zur Seite steht. Beide genießen ihren unglaublichen Reichtum und das ausgelassene Leben in der Welt der Reichen und Schönen zwischen Drogen, Alkohol, Sex und Luxus.

Dann geraten sie an die falschen Leute und eine unglaubliche Spirale aus Gewalt, Entführungen, Erpressung und eine rasante Hetzjagd beginnt. Natürlich kann das nicht gut ausgehen, auch wenn die Logik manchmal auf der Strecke bleibt. Autor Raina lässt nichts aus. Mit seiner bissigen Kritik an der indischen Gesellschaft trifft er viele wunde Punkte des Landes. Zum Beispiel die Folgen der jahrelangen Geburtenkontrolle und Tötung von weiblichen Föten, die zu einem starken Übergewicht an männlichen Einwohnern geführt hat, deren alte Tradition aber Sexualität außerhalb der Ehe stark einschränkt. Gerade deshalb gibt es in modernen Zeiten von Internet und allgegenwärtiger Pornografie eine völlig überhitzte Sexualisierung mit allen negativen Folgen, wie Massen-Vergewaltigungen und Frauenmorde in der indischen Gesellschaft. Korruption und politische Einflussnahme sind an der Tagesordnung.

Wer sich in der Welt Indiens mit seinen traditionellen gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen auskennt, wird auf zahlreiche Anspielungen und satirische Bemerkungen des Autors stoßen. Dieses ist neben dem sprühendem Witz eine der großen Stärken dieses Crossover-Romans. Rahul Raina schickt seine Leser durch ein Wechselbad der Gefühle zwischen Krimi und Komödie, Liebe und Drama, bissiger Gesellschaftskritik und rasanter Satire. Ein unglaublich turbulenter, scharfsinniger, unterhaltsamer und lustiger Roman über ein Indien, dass man so radikal durchleuchtet noch nicht gelesen hat.

Rahul Raina: Bekenntnisse eines Betrügers, Kein&Aber, Berlin Mai 2022, 390 Seiten, Amazon.

Unsere Lesereise führt uns weiter nach Hawaii und zu einem weiteren Roman-Debüt. Der an der Hamakua-Küste von Big Island auf Hawaii geborene Kawai Strong Washburn wechselte nach einem Volkswirtschaftsstudium an der Columbia University in New York zur Literatur und wurde in den USA für sein Erstlings-Werk gefeiert und mit Preisen ausgezeichnet. Sein Roman war Buch des Jahres auf der Leseliste von Barack Obama und diverser Zeitungen und Fernseh-Sendungen.

Sein Roman erzählt von der modernen Welt Hawaiis, wo alte Mythen und Traditionen mit den Anforderungen einen Gegenwartskultur aufeinander prallen. Er schreibt über die Geschichte einer indigenen Familie, die hart arbeitet, um im modernen Alltagsleben der amerikanischen Paradies-Inseln im fernen Pazifik über die Runden zu kommen.

Der siebenjährige Sohn Nainoa fällt bei einer Tour auf einem Ausflugsboot ins Meer und wird bald von mehreren Haien umkreist. Sein Todesurteil scheint gefällt, doch dann ergreift ihn der größte Hai sanft mit seinem Maul voller spitzer Zahnreihen und trägt ihn vorsichtig zu seiner Mutter zurück. Eine Legende ist geboren. Der Sohn scheint auserwählt zu sein, besonders weil er später die Fähigkeit besitzt, Wunder in Form von Heilungen und Wiederbelebungen von scheinbar Toten zu vollbringen. Nainoas Eltern deuten diese Fähigkeit als Gunstbeweis der Götter und schlachten seine Fähigkeiten finanziell aus.

Allerdings zwingt die Armut und das harte Leben der Familie die drei Geschwister, ihr Glück auf dem Festland der USA zu suchen. Dean hofft als Basketball-Star seinen Weg zu machen, aber Drogenkonsum und Heimweh bringen ihn schnell in kriminelle Kreise und beenden sein Sport-Karriere bevor sie überhaupt richtig begonnen hat. Die schüchterne Schwester Kaui ist zwar an der Uni ein Überflieger und glänzt mit Bestnoten, hadert aber mit ihrer (lesbischen) Sexualität und ihrem Aussenseitertum. Auch Nainoa beginnt mit einem Medizin-Studium, verliert sich aber immer mehr in seiner Tätigkeit als Helfer und Retter der Ärmsten und Verlorensten. Und immer stärker wird die Sehnsucht nach der tropischen Heimat und die magischen Kräfte von Ahnen und Göttern, die sie zur Familie nach Hawaii ziehen. Dazu verlieren sie mehr und mehr ihren Halt in der materialistischen amerikanischen Gesellschaft voller Rassismus, Drogen, Gewalt und unausgelebter Träumen.

Eine einzigartige, aufrüttelnde und kraftvolle Familien-Geschichte zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen indigener Tradition mit ihren Legenden und Göttern und einer modernen Gegenwarts-Gesellschaft, wo nur Materialismus und Durchsetzungskraft zählen. Nebenbei wird aber auch der amerikanische Kolonialismus, der Kampf um den Erhalt der traditionellen indigenen Kultur und der hawaiianischen Natur zwischen Ausbeutung, Massen-Tourismus, Ökologie und Klimawandel integriert. Dem Autor gelingt ein Brückenschlag zwischen Magie und Realität, Tradition und Moderne und klärt dabei den Leser über das wahre Leben auf den Trauminseln im Pazifik auf. Ein Buch voller fesselnder Geschichten aus Legenden und Mythen, gepaart mit lebenspraller, authentischer Beschreibung einer heutigen Lebenssituation auf Hawaii. Ein frisches, starkes Debüt, das auf mehr hoffen lässt.

Kawai Strong Washburn: Haie in Zeiten von Erlösung, Luchterhand Verlag, 2022, 443 Seiten, Amazon.

Wir bleiben bei den Romandebüts, ziehen aber weiter in das New York des Jahres 1903. Der 1981 in Surrey/England geborene Autor Jonathan Lee, der über Südamerika, London und Tokio schlussendlich in New York gelandet ist, porträtiert in bester amerikanischer Erzähl-Tadition das Leben von Andrew H. Green. Green war als Städteplaner für den Centralpark verantwortlich - eine Verbindung von New York nach Brooklyn - und war maßgeblich beteiligt an der Gründung der New York Public Library. Er wurde von vielen als „Vater von Greater New York“ gefeiert, fiel aber am Freitag, den 13. November 1903 einem Attentat auf offener Straße direkt vor seinem Haus zum Opfer. Beobachtet von seiner Haushälterin, Mrs. Bray wurde der 83jährige von einem Schwarzen mit fünf Schüssen niedergestreckt. Ein Motiv für diesen Mord liefert der verwirrt wirkende Mann aber nicht. Polizei-Inspektor McClusky nimmt daraufhin seine Ermittlungen auf, um Licht in das seltsame Verbrechen zu bringen, welches ganz New York erschüttert.

Autor Jonathan Lee beschreibt diese wahre Geschichte mit viel Empathie für den Protagonisten Green. Einerseits nähert er sich dem Leben von Andrew Green in biografischen Schritten von seiner Kindheit in ärmlichen Verhältnissen in Massachusetts bis zu seinem Aufstieg in die höchsten Kreise von New York, andererseits lässt er seinen Inspektor McClusky abwechselnd über den Gang seiner Ermittlungen berichten. Dabei verwebt er geschickt die Vergangenheit des 19. Jahrhunderts mit der Gegenwart des beginnenden 20. Jahrhunderts, wobei er allerdings recht kunstfertig und mit klugem Erzählstil die strikten zeitlichen Grenzen verwischt.

So erfährt man, dass die Mutter bereits stirbt, als der Junge Andrew 12 Jahre alt ist. Sein strenger Vater heiratete insgesamt viermal, was die Anzahl der Geschwister in den zweistelligen Bereich erhöhte. Mit 15 Jahren wird Andrew von seinem Vater zum Geldverdienen in die Lehre in einen Gemischtwarenladen nach New York geschickt. Dort begegnet ihm der Jurist und spätere Politiker Samuel Tilden. Dieser hoch intelligente und ambitionierte Mann, der später zum Präsidentschaftskandidat avanciert, wurde sein Mentor, bester Freund und große Liebe.

Er führt ihn in die höheren kulturellen Kreise ein, verleugnet aber stets die intime Liebe, weil das seiner Karriere schaden könnte und eine homosexuelle Beziehung in der damaligen Zeit ein absolutes Tabu darstellte. Aus Enttäuschung über diese unterdrückte Romanze im Verborgenen geht Green für einige Zeit als Aufseher auf eine Farm ins tropische Trinidad in der Karibik. Unter härtesten Bedingungen arbeitet er auf der heißen Insel und erlebt eine für sein späteres Leben sehr lehrreiche Zeit. Nach der Rückkehr in die Ostküsten-Metropole beginnt sein unaufhaltsamer Aufstieg an der Seite Tildens zum wohl bekanntesten Städtebauplaners New York.

Gleichzeitig schlägt sich Inspektor McClusky mit Rassismus und Polizeibrutalität in den eigenen Reihen rum, während er die übereifrige Haushälterin und die geheimnisvolle wie brillante Edel-Hure Bessie Davis, der halb New York zu Füßen liegt, befragt. Gibt es ein schlüssiges Motiv oder war alles nur ein folgenschwerer Fehler, ein böses Missverständnis? Elegant und facettenreich wird das Leben dieses heute fast völlig in Vergessenheit geratenen „Erbauers und Erneuerers New York“ von Jonathan Lee erzählt. Ein sehr abwechslungsreiches und lesenswertes Buch, nicht nur für New York-Fans.

Jonathan Lee: Der große Fehler, Diogenes Verlag, Zürich März 2022, 365 Seiten, Amazon.

Langsam kommen wir in heimische Gefilde, nämlich in das fiktive Bad Heim im Süden Deutschlands. In dem Klima-Roman „Ewig Sommer“ der jungen Autorin Franziska Gänsler (1987 in Augsburg geboren) - übrigens ein weiteres literarisches Debüt - wird ein absolut aktuelles Thema behandelt, nämlich der Klimawandel mit Hitzesommer und ausufernden Waldbränden. Ein Schreckensszenario, das wir gerade überall im südlichen Europa, aber auch am heimischen Brocken im Harz erleben müssen. Gänsler erschafft in ihrem Roman, der nicht nur depressiv daherkommt, sondern auch von einer zarten Liebesgeschichte erzählt, eine Atmospäre, die düster und bedrohlich über der Landschaft liegt.

Es herrscht Hochsommer im Oktober, Silberfolie schützt die Fenster der kleinen Pension von Iris, während die Straßen abgesperrt sind und Polizei-Hubschrauber durch die Luft surren. Klima-Aktivist/innen haben längst das 1,5 Grad-Ziel verloren gegeben und kämpfen in ihrem Protest-Camp am Waldrand nun für eine Begrenzung der Erwärmung auf 1,8 Grad. Die Polizei ruft die Bevölkerung dazu auf, in den Häusern zu bleiben, Gasmasken zu tragen, während die Felder der Umgebung mit Asche überzogen sind und die Luft vor lauter Qualm kaum noch zum Atmen geeignet ist. Im nahen Wald, hinter dem Fluss spielt sich ein wahres Inferno ab.

Gäste sind schon lange nicht mehr in dem kleinen Hotel, als plötzlich eine Frau mit einer kleinen Tochter bei Iris auftaucht. Inmitten der großen Katastrophe sind Dori und ihre Tochter vor dem Ehemann geflohen und bringen noch so einige andere Probleme im kleinen Gepäck mit. Es brennt nicht nur im Land, sondern auch in der Beziehung der Frau. Aber auch Iris hat so einige seelische Leichen im Keller.

Unaufgeregt und zielsicher formuliert die Autorin, was so alles im Leben der Frauen schon schief gelaufen ist. Das Private wie das große Ganze ist ziemlich aus dem Ruder gelaufen. Es geht um Schuldkomplexe, ein schlechtes Gewissen, sich völlig falsch im Leben orientiert zu haben, aber auch um die Frage, wie man weiterleben kann im Angesicht der Katastrophe. Trotzdem gelingt der Autorin in ihrem Roman eine Geschichte, die nicht in völliger Düsternis und Depression abdriftet. Hauptsächlich zuständig für diese humorige Seite des Geschehens ist die Nachbarin „Baby“, die Wächterin am Gartenzaun, die immer wieder auftaucht.

Diese unorthodoxe Frau ist eine Moralinstanz ohne Moral. Sie ist laut, trinkt zu viel, nervt auch manchmal, ist aber herzensgut und hilfsbereit. Sie mischt sich ein, marschiert rauchend und Hähnchenkeulen-schwingend durch jedermanns Leben, während sie in ihrem Garten einen Rückzugsort für streunende Katzen geschaffen hat. Während die beiden Frauen in ihrer Panik erstarren, weiß Baby immer noch eine kleine Lösung. „Das ist der Weltuntergang. So geht’s zu Ende mit uns“, erläutert sie heiter das Geschehen. Ihr Optimismus und ihre Kaltschnäuzigkeit wären auch für uns in den Zeiten von Krieg, Klimakrise und Energiesorgen ein Weg aus dem allgemeinen Untergangs-Gedanken-Szenario, welches uns Politik und Medien momentan um die Ohren hauen. Ein Roman voller Aktualität aber auch Hoffnung.

Franziska Gänsler: Ewig Sommer, kein&aber, Zürich, Berlin Juli 2022, 205 Seiten, Amazon.

Mein letzter Autoren-Tipp führt uns nach Köln und in den Westerwald. Dabei handelt es sich diesmal in keiner Weise um einen Debütanten, sondern um einen begnadeten Vielschreiber. Der multi-talentierte Hanns-Josef Ortheil (1951 in Köln) ist Pianist, Kulturjournalist, Literaturprofessor für kreatives Schreiben an der Universität Hildesheim und Autor von mittlerweile ca. 70 Büchern. Vielfach preisgekrönt gehört er zu den beliebtesten deutschen Schriftstellern der Gegenwart. Auch ich habe ihn hier zuletzt mit seinem Hemingway-Roman aus Venedig: „Der von den Löwen träumte“ vorgestellt.

Anscheinend hat die vielseitige und unaufhaltsame Arbeit an sämtlichen Fronten im Jahre 2019 von dem Autor seinen Tribut gefordert. Eine schwere Herzinsuffiziens machte eine gefährliche Operation mit Komplikationen notwendig, nach der der ewig lesende und schreibende 70jährige erst wieder allmählich zurück in sein normales Leben fand. Plötzlich muss der obsessive Literat das Lesen und Schreiben erstmal wieder lernen. Doch davor steht eine Reha und der schwerkranke Autor muss sich nach einem tagelangen Koma erst einmal erholen. Dabei leidet der Patient außerdem an einer existenziellen Erschütterung: geschwächt, ängstlich, von Todesnähe gezeichnet und fassungslos darüber, förmlich aus dem Nichts krank geworden zu sein.

Also muss er sich mit so gehassten wie unbeliebten Tätigkeiten wie Walking, Meditation und Yoga auseinandersetzen. Auch möchte er während der Rehabilitation unerkannt bleiben und stellt sich als Eisenbahnlandwirt Ortheil vor. Nur die Ärzt/innen sind eingeweiht. Natürlich fällt er sofort auf, weil er weiterhin ein obsessiver Beobachter und Notierer bleibt. Überall spricht er alles in sein Smartphone, weil „an seinem Körper nur die Hände trainiert wurden“, gesteht der passionierte Pianist seiner Ärztin. Jetzt fehlt ihm zum Klavierspielen ebenso die Kraft, wie für das Halten eines Stiftes zum Schreiben.

Und natürlich plant Ortheil, der schon immer über seine Reisen, seine Biografie oder seine Familie geschrieben hat, einen Roman über seine Wiedergeburt, wie das vorliegende Buch „Ombra“ im Untertitel heißt. Es wurde ein anrührendes, teilweise humoriges wie bewegendes Protokoll darüber, wie der Autor Ende 2019 schwerkrank und seiner wichtigsten Ausdrucksmöglichkeiten beraubt, langsam und mit kleinen Schritten ins Leben und Schreiben zurückfand. Am Ende wird seine Chefärztin feststellen: „Sie haben viel für ihre Gesundheit getan, in allen Bereichen. Aufbau- und Ausdauertraining, Gymnastik, Teilnahme an Entspannung- und Antistress-Gruppen, Seminare zum Ernährungs- und Bewegungsverhalten und nicht zuletzt solche, die einem Herzinfarkt vorbeugen und nach seinen Ursachen fragen. Ich sehe, sie haben nur selten geschwänzt“.

Dafür fährt er mit einem Freund per Fahrrad am Rhein entlang, besucht Ausstellungen und überdenkt den Alkoholkonsum. Bei einem Treffen mit seinem langjährigen Freund und Lektor Klaus Siblewski wird Wasser getrunken. Das Gespräch der beiden ist übrigens in einem zweiten Buch dokumentiert: „Ein Kosmos der Schrift“. In diesem Taschenbuch, das eigentlich fast schon eine Autobiografie sein könnte, werden die Anfänge des Lesens und Schreibens und der Beginn seiner Karriere als Schriftsteller analysiert.

Aber auch in „Ombra“ stellt sich Ortheil vielen Fragen, wobei seine Vergangenheit und die traumatische Kindheit des Autors eine große Rolle spielen. Seiner betreuenden Psychologin öffnet er sich zaghaft, indem er von „Geisterstimmen“ seiner längst verstorbenen Eltern berichtet. Ortheil-Leser kennen natürlich aus den verschiedenen Romanen die drastischen Stationen seines Lebens: Die jahrelange Stummheit des vermeintlichen Autisten, das Mobbing an der Schule, die Familientragödie um seine vier toten Brüder, seine durch Krankheit gescheiterte Karriere als klassischer Pianist. Von früh an war „Schreiben für ihn, der Beweis, dass er lebte und existierte. Also wurde er schon in jungen Jahren ein Chronist seiner selbst. So mag der geneigte Leser wie auch ich, hoffen, dass der Autor selbst nach seinem 70. Geburtstag noch viel zu dokumentieren und zu notieren in der Lage sein wird.

Hanns-Josef Ortheil: Ombra, Roman einer Wiedergeburt, Luchterhand Verlag, München, 2021, 304 Seiten, Amazon.

Die Bücher sind in den inhabergeführten Buchhandlungen BellingProsa, Buchfink, Arno Adler, Langenkamp, maKULaTUR, Störtebeker und Buchstabe erhältlich.

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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