Susanne Höhne

Premiere in den Lübecker Kammerspielen
Patti Smith mal sechs – Ein Liederabend über die amerikanische Musik-Ikone

Das Beste kam zum Schluss: Mit einem furiosen „Gloria“, grandios interpretiert von Sara Wortmann, endete die biografisch inspirierte Inszenierung von Pit Holzwarth über die Punk- und Poesie-Legende Patti Smith, die das begeisterte Publikum zu Standing Ovations und Jubelschreien verführte.

Nach Edith Piaf, Bob Dylan, Leonard Cohen, Jim Morrison und Rio Reiser hatte sich das Theater Lübeck unter der Leitung von Pit Holzwarth nun die amerikanische Punkrockerin, poetische Schriftstellerin, politische Rebellin, Malerin und Fotografin Patti Smith zum Thema für ihren nächsten musikalischen Theaterabend gewählt. Erzählt und interpretiert wird die Lebensgeschichte dieser einzigartigen Musikerin und Künstlerin in mehreren Kapiteln und mit insgesamt 16 Musikstücken von sechs Schauspielern und Schauspielerinnen (Astrid Färber, Susanne Höhne, Johannes Merz, Henning Sembritzki, Will Workmann und Sara Wortmann) vorgetragen.

Astrid Färber, Henning Sembritzki, Johannes Merz, Sara Wortmann, Susanne HöhneAstrid Färber, Henning Sembritzki, Johannes Merz, Sara Wortmann, Susanne Höhne

Etwas verhalten und seltsam infantil beginnt das Spiel mit ihrer Kindheit in einem etwas überladenen Bühnenbild aus an Leinen hängenden Fotos und Zeichnungen von Patti Smith, in dem die Darsteller/innen im Bühnennebel vor sich hin brabbeln oder sich unter den sechs Leitern komisch verbiegen. „Das Ganze ist ein Spiel, der Anfang liegt im Dunkeln.“ 

Pattis Ausbruch aus der „Zeugen-Jehovas-Familie“ mit dominanter Mutter („Kind du musst essen, du bist spindeldürr“) mit 20 Jahren nach New York wird begleitet von Seifenblasen, Bühnennebel und „I feel free“-Klängen. Patti wollte ein Held sein, nie eine Frau, eher ein Peter Pan. Sie bewundert Jeanne Moreau und moderne Maler wie Jackson Pollock. Ohne Geld, Job und Dach über dem Kopf schlägt sie sich zunächst im Big Apple durch. Dann lernt sie den jungen Künstler Robert Mapplethorpe kennen, der sie vor männlichem Übergriff rettet und in die künstlerische Szene New Yorks einführt. Die beiden führen eine leidenschaftlich-abgründige Liebes- und lebenslange Freundschaftsbeziehung, obwohl Mapplethorpe schwul ist, später auch an AIDS verstirbt (nachzulesen in ihrem wunderbaren autobiografischen Buch „Just Kids“ von 2010). Mit seiner Hilfe entwickeln sich ihre Fähigkeiten als Lyrikerin, Malerin und wilde Sängerin. 1975 begründet sich ihr Ruf als Godmother of Punk durch ihren musikalischen Durchbruch mit dem Album „Horses“, für das Mapplethorpe die Fotos beisteuerte, wie für fast alle nachfolgenden Platten.

Henning Sembritzki, Will Workman, Astrid Färber, Sara Wortmann, Susanne Höhne, Johannes MerzHenning Sembritzki, Will Workman, Astrid Färber, Sara Wortmann, Susanne Höhne, Johannes Merz

In der frei assoziierenden Lyrik ihrer Texte, die beeinflusst sind von der Beat-Generation, von Arthur Rimbaud, Bob Dylan oder Jim Morrison, setzt sie sich mit Gott und der Welt auseinander: „Im Himmel gibt es keine Kunst“ oder „Das Meer ist der Soundtrack meiner Träume“. Dazu spielen die Darsteller/innen mit kleinen Patti-Smith-Marionetten und schmettern in wechselnden Formationen, mal solo, mal als Duo oder Sextett die Erfolgshits der faszinierenden Musikerin. Von „Pissing in the river“ über „Dancing Barefoot“, „Rock 'n' Roll Nigger“, „Free Money“ bis zu „Frederick“ werden die Songs überraschend stimmgewaltig und teilweise sogar sehr nah an der Stimmlage und Ausdruckskraft des Originals vorgetragen.

Obwohl Patti nie sexy wie Tina Turner oder Janis Joplin war, wird sie zum Welt-Star der Punk-Rock-Ära. Sie sieht sich als weibliches Pendant zu Keith Richard, androgyn, schmalbrüstig und angezogen mit Arbeiterstiefeln und Männerklamotten. Selbstbewusst und rotzig nimmt sie sowohl auf der Bühne wie in ihren Texten kein Blatt vor den Mund. Sie rebelliert gegen Gott und die scheinheilige Religiösität der amerikanischen Gesellschaft, sie pisst auf Moral und Anstand. Auch die Lübecker Schauspieler/innen kommen der Tonlage sehr nahe, wenn sie in Gedankenblitzen und Wortkaskaden die Wut und Leidenschaft der Kämpferin Patti Smith nachempfinden: „Ich will von Gott gefickt werden!“ Mit Mapplethorpe lebt sie im berühmten Chelsea-Hotel in Zimmer 1017 und tritt im legendären Musik-Club CBGB auf. Daneben veröffentlicht sie Texte, Gedichte und malt. „Schreiben ist für mich ein sehr körperlicher Prozess. Ich schreib mit der gleichen Leidenschaft, wie Jackson Pollock gemalt hat.“

Sara WortmannSara Wortmann

Der Bruch in ihrer Karriere folgt nach einem Bühnenunfall in Tempa/Florida, als sie über eine Monitor-Box stürzt und sich schwer verletzt. In dieser Zeit lernt sie auch ihren späteren Ehemann Fred „Sonic“ Smith kennen. Dieser ist Mitglied der legendären und hammerharten US-Punk-Band MC5 aus Detroit. Kritiker unterstellen ihr eine musikalische und künstlerische Krise oder Drogenmissbrauch, dabei will Patti eigentlich nur zur Ruhe kommen, eine Familie gründen und mit ihrem geliebten Ehemann Frederick zusammen sein. Also verlässt sie 1979 das Musik-Business und zieht zu Fred nach Detroit, bekommt ihre Kinder Jessie und Jackson, nachdem sie einen letzten Gig auf ihrer Welt-Tournee vor 70.000 Menschen in Florenz gespielt hat.

Unbeachtet von der Weltöffentlichkeit genießt sie ihr Familienleben, bis mehrere Schicksalsschläge sie zurück auf die Bühne führen („ich musste Geld verdienen“) beziehungsweise sie die Todesfälle in ihrer Kunst zu verarbeiten versucht. Nach dem AIDS-Tod von Robert Mapplethorpe sterben in kurzer Zeit ihr Ehemann Fred Smith (dramatisch dargestellt von Will Workman, der sich von einer hohen Leiter stürzt) und ihr geliebter Bruder Todd an einem schweren Hirnschlag. „Ich fürchte mich vor meinen eigenen Gedanken“ und „Der dunkle Stein in meinem Herzen“ zitieren die Schauspieler aus der Trauer von Patti. Freunde wie Allen Ginsburg begleiteten sie durch diese schwere Lebensphase, und Patti sang sich mit ihrem Lied gegen die Trauer, „Frederick“, zurück ins Leben, auch wenn ihr zuerst „da draußen die Wörter ausgehen“ und sie unter einem „semantischen Burnout“ leidet. 1994 kehrt sie auf die Bühnen der Welt zurück, feiert auch mit ihrem Sohn Jackson an der Gitarre in ihrer Begleitband ein überragendes Comeback. Grandiose Auftritte in der Großen Freiheit oder im Hamburger Stadtpark sind mir persönlich in glücklicher Erinnerung.

Johannes Merz, Susanne Höhne, Sara Wortmann, Astrid Färber, Will Workman, Henning SembritzkiJohannes Merz, Susanne Höhne, Sara Wortmann, Astrid Färber, Will Workman, Henning Sembritzki

Das Konzept von Pit Holzwarth in seiner Inszenierung, Patti Smith sowohl weiblich als auch männlich von insgesamt 6 Darsteller/innen interpretiert auftreten zu lassen, ist voll aufgegangen. Unterstützt von der großartigen Theater-Band „Butchie Magic & The Twistelettes“ unter der Leitung von Willy Daum am Piano (Urs Benterbusch – Gitarre, Jonathan Göring – Drums, Edgar Herzog – Blasinstrumente und Peter Imig am Bass), singen und agieren die wunderbaren Schauspieler und Schauspielerinnen authentisch und hoch musikalisch, ohne dem Versuch zu unterliegen, Patti zu kopieren.

Der stürmische Schlussapplaus nach dem grandiosen „Gloria“ verlangte von allen Darstellern und Musikanten natürlich noch zwei Zugaben, die diese strahlend und beglückt nach so viel Erfolg gerne zum Besten gaben. Mit „My Generation“ von den Who wurde das zufriedene Publikum in die lauschige Lübecker Frühlingsnacht entlassen.

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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