Gibeon-Meteorit, 4,56 Milliarden Jahre alt, Gewicht, 208 Kg - Objekt aus dem Museum für Natur und Umwelt, Foto: Olaf Malzahn

Die Hansestadt begeht ihren 875. Geburtstag mit einer inspirierenden Ausstellung im Museumsquartier St. Annen und im Hansemuseum
„Lübeck erzählt uns was“ – Stadtgeschichte als Wunderkammer

100 Exponate sind in einem mehrjährigen Klärungsprozess für geeignet befunden worden, das zentrale Anliegen von Kurator Dr. Jörg Rosenfeld, freier Kunsthistoriker in Berlin, zu vermitteln: Geschichten aus der Geschichte Lübecks anzubieten, jede für sich interessant, wissenswert, spannend, erhellend, bisher gänzlich unbekannt oder schlicht unbeachtet geblieben im überreichen städtischen Überlieferungsfundus.

Die 100 Exponate sind auf 15 Räume verteilt. 89 Stücke findet der Besucher in 14 Räumen des Museumsquartiers (8 in der Kunsthalle und 6 im St. Annen-Museum), 11 Objekte warten auf interessierte Betrachter im Hansemuseum. Objekt Nr. 90, die „Lange Halle“ im ehemaligen Burgkloster, ist das größte Exponat der gesamten Ausstellung. In diesem Raum sind 10 Objekte zu sehen.

Man beginnt einen Ausstellungsbesuch in der Kunsthalle. Sehr rasch wird deutlich, dass diese Ausstellung ihre Exponate nicht chronologisch geordnet hat, sondern nach Bezügen, die jeweils eine gewisse Anzahl von Stücken aus verschiedenen Zeiten zu einer Gruppe verbinden: „Lübeck blüht auf“, „Lübeck fasziniert“, „Lübeck kämpft“, „Lübeck inspiriert“. Das führt zu Zusammenstellungen, die überraschen, die irritieren, die Fragen auslösen, die Zusammenhänge verdeutlichen.

 'Lübeck inspiriert' - Ausstellungsraum in der Kunsthalle St. Annen, Foto: Olaf Malzahn 'Lübeck inspiriert' - Ausstellungsraum in der Kunsthalle St. Annen, Foto: Olaf Malzahn

In jedem Raum gibt es eine optisch markant hervorgehobene Stellwand, die das Raumthema benennt und Karten zum Mitnehmen anbietet, darauf ein Foto des Exponats und ein knapper Erläuterungstext in deutscher und englischer Sprache.

Wer mehr wissen will, und diese Ausstellungsform will zum Mehr-wissen-Wollen verführen, kann nach einem Durchgang den Ausstellungskatalog erwerben und zur Hand nehmen: ein weder dickes, noch voluminöses, aber recht schweres Buch, das beim Flanieren mehr stört, als nützliche Dienst tut. Zu Hause angekommen oder in einem der nahegelegenen Museums-Cafés, werden Neugierige und Wissensbedürftige auf eine kleine Geduldsprobe gestellt: Zwischen den 100 Exponat-Karten in den Museen und den 100 Geschichten im Katalog gibt es ausschließlich eine optische Verbindung durch identische Fotos der Exponate.

Eskimokajak in der Kunsthalle St. Annen, Objekt aus der Schiffergesellschaft, Foto: Olaf MalzahnEskimokajak in der Kunsthalle St. Annen, Objekt aus der Schiffergesellschaft, Foto: Olaf Malzahn

Dieser Katalog bietet dann aber spannend und gut erzählte Geschichten zu dem jeweiligen Exponat, die man als die eigentliche Begründung dafür ansehen kann, warum ein Objekt in der Vorauswahl den Sprung zum Exponat schaffte. Die erzählten Geschichten, keine länger als drei luftig gesetzte Druckseiten, leben vom überraschenden Blickwinkel, aus dem der Schreiber sein Stück besichtigt, es gibt einen roten Faden in der Erzählung und einen Spannungsbogen. Kuriose Wege der Überlieferung und der Geschichte der Erforschung werden nachgezeichnet und machen die Lektüre abwechslungsreich und farbig. Ziel der Redakteure Jörg Rosenfeld und Karin Lubowski war es, für eine Beschäftigung mit Geschichte zu werben. Was die 40 Autoren, ausnahmslos Fachleute und Kenner, vereinigt, ist der Versuch, in Sprache zu bannen, wovon sie selbst fasziniert, ergriffen, begeistert oder erschrocken sind.

Sprechblasen - Kunsthalle St. Annen, Foto: Olaf MalzahnSprechblasen - Kunsthalle St. Annen, Foto: Olaf Malzahn

Der Inszenierungsrahmen

Der letzte Raum der Ausstellung im St. Annen-Museum lässt in Hologramm-Sequenzen Lübecker zu Wort kommen, die im Sommer dieses Jahres in Interviews auf die Frage antworteten, wie sie sich das Aussehen der Stadt und das Leben in ihr in 875 Jahren vorstellen. Diesen Aspekt der Ausstellung, der Blick in eine ferne Zukunft, hat die theatralisch inszenierte Ausstellungseröffnung am 8. September radikalisiert und umgedreht. Die Szene beginnt im Jahre 2893: Andreas Hutzel, ein ehemaliger Komödiant am Stadttheater vor 875 Jahren, moderiert als „Androide“ ein Historienspektakel am 8. September in der als Hologramm um die Teilnehmer herum wieder auferstandenen St. Aegidienkirche. Der Moderator versucht, seine Gäste in die Zeit von vor 875 Jahren zurückzuversetzen zu genau jenem Tag am 8. September 2018, als in Lübeck eine Jubiläumsausstellung eröffnet wurde.

Besucher der Eröffnung reagierten auf die Mischung aus Komödie, Farce und Danse Macabre teils amüsiert, teils irritiert. Henning Junge etwa sagte schmunzelnd beim anschließenden Gang in die Kunsthalle, er glaube nicht, dass 1143 irgendjemand damals das Aussehen und das Leben Lübecks heute habe vorausschauen können. Michael Bouteiller empfand die Inszenierung als nicht notwendig, sondern aufgesetzt. Er konnte ihr trotzdem einen gewissen Charme nicht absprechen, denn sie vermied bedeutungsschwere Reden.

Ausstellungsraum im Burgkloster, Foto: Olaf MalzahnAusstellungsraum im Burgkloster, Foto: Olaf Malzahn

Kulturdezernentin Katrin Weiher − sie, Bürgermeister Jan Lindenau und Leiter der beteiligten Kulturinstitute wurden für je einen Spot von 90 Sekunden aus der Vergangenheit „heraufgebeamt“ – ließ sich von der Inszenierungsidee anregen. Sie umriss die Freiheiten, die Vorzüge, die Errungenschaften, mit einem Wort die Lebensqualität des Jahres 2018 und ließ anklingen, dass diese wenig selbstverständlich ist und in Zukunft auch wieder verloren gehen kann. Frau Weihers Vergangenheit und Zukunft verbindender Blick machte den fragilen Boden der Gegenwart sichtbar.

Was wird von der Ausstellung bleiben?

Das Gründungsjahr 1143 als Anlass für ein Erinnerungsfest in Lübeck zu wählen, ist jung. Mehr als 500 Jahre lang ließen die Stadtoberen Jahr für Jahr am 22. Juli kostenlos Brot an die Armen verteilen. Es war der Tag der Schlacht von Bornhöved im Jahre 1227, als eine Koalition norddeutscher Städte und Fürstentümer sich siegreich durchsetzte gegen das dänische Königsheer unter Waldemar II. In der Hörkammer des Rathauses, wo wichtige diplomatische Besprechungen stattfanden, wies eine Wandmalerei auf das identitätsstiftende Ereignis hin.

Ausstellungsraum im Burgkloster, Foto: Olaf MalzahnAusstellungsraum im Burgkloster, Foto: Olaf Malzahn

1893 forderten Lokalhistoriker erstmals vom Senat, an das Gründungsjahr 1143 zu erinnern. 1926 feierte man zum ersten und einzigen Mal den Erwerb der Reichsfreiheit 1226 vor 700 Jahren. 1943, die Gründung jährte sich zum 800. Mal, wurde es eine recht stille Feier. 1993, die Stadt ist inzwischen 850 Jahre alt, inszeniert man tatsächlich das erste Festjahr. Eines der bleibenden Ergebnisse des Jahres ist der hochwertige Katalog zur Ausstellung „Der Lübecker Kaufmann“, ein zweites die Eröffnung des Museums Buddenbrookhaus.

2018 bietet ein reicher Veranstaltungskalender auch eine Jubiläumsausstellung zur Geschichte der Stadt an. Was wird von ihr bleiben? Der Ausstellungskatalog und die Exponatkarten werden übrig bleiben. Da aber die verbindenden Themen als das eigentliche Salz des gesamten Ausstellungsunternehmens ausschließlich in den Ausstellungsräumen anzutreffen sind, empfiehlt sich dringend ein Besuch der Museen bis zum 6. Januar 2019. Es lohnt sich, Papier und Bleistift dabeizuhaben, um die Raumkarten mit den Titeln der Raumthemen zu beschriften. Für stille Winterabende bleibt dann die Aufgabe, sich eine Navigationshilfe durch den Katalog auszudenken.

 Stammbaum der Gemeinnützigen Mutter und ihrer Töchter - Die Tafel war Exponat Lübecks auf der ersten deutschen Städteausstellung 1903 in Dresden, Foto: Michael Haydn Stammbaum der Gemeinnützigen Mutter und ihrer Töchter - Die Tafel war Exponat Lübecks auf der ersten deutschen Städteausstellung 1903 in Dresden, Foto: Michael Haydn

Der Besucher der Ausstellung wandelt durch szenographisch gestaltete Räume, in denen Objekte aus verschiedenen Jahrhunderten durch die Hängung und Anordnung in optische Korrespondenz treten und gleichsam einen Dialog miteinander eröffnen. Das setzt beim Besucher Fragen frei, eröffnet Möglichkeiten, Geschichte und Geschichten selbständig zu bedenken ohne belehrend lenkenden Fingerzeig. Jedes Exponat behält dabei sein gleichberechtigtes Eigengewicht und Eigenrecht.

Diese Qualitäten der Ausstellung fehlen dem Konzept des Kataloges, dessen chronologische Anordnung der Exponat-Geschichten dem Sinn und dem kulturgeschichtlichen Gewinn des inspirierenden Ausstellungskonzeptes zuwiderläuft.

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