Heute möchte ich meine vier Lieblingsbücher vorstellen, die ich im Urlaub am Strand, in fernen Gefilden oder auf meiner Terrasse gelesen habe: Ein hochgradig unterhaltsamer Krimi mit Gegenwartsbezug und rabenschwarzem Galgenhumor, ein kunstvoller Band über Zufall und Wahrscheinlichkeiten im Leben mit biografischen Bezügen und dem längsten Titel des Jahres, ein skurriler Abenteuer-Reiseroman mit Charme, Witz, Spannung und einer Ansammlung außergewöhnlicher Figuren und ein eigenwilliger Berlinroman als Feier der Kreativität und Fantasie aus magischem Realismus und stilsicheren Pointen.
Beginnen wir mit Letzterem, dem neuen Roman vom Newcomer Sven Pfizenmaier, der mit seinem Erstling „Draussen feiern die Leute“ nicht nur Preise abräumte, sondern sowohl in der Leserschaft als auch bei Kritikern für Furore sorgte. In seinem neuen Buch „Schwätzer“ geht es um zwei Freunde, beide Ex-Junkies und Beschaffungskriminelle, die sich auf eine seltsame Suche nach Meteoriten im Berliner Umland in die Mark Brandenburg aufmachen.
Meikel ist eigentlich gar nicht gut auf seinen alten Drogen-Kumpel Eddy zu sprechen, weil der sich oft genug als Schwätzer, Lügner und Dieb bewiesen hatte. Seine jetzige Erzählung, dass er seine Wohnung wegen profitgeiler Zahnärzte aus Meck-Pomm verlieren könnte, wenn er nicht rechtzeitig Teile eines Meteoriten herbeischafft, klingt ja nicht gerade Vertrauen erweckend. Schon zu oft hat er Meikel in dubiose Geschichten verstrickt oder völlig absurde Erklärungen abgegeben: „Weißt du noch, als du mal völlig zugedröhnt mit sechshundert Euro nach Hause gekommen bist und mir erzählt hast, dass du als Model für Vogue engagiert wurdest?“ … Eddy blies eine lange Rauchwolke aus. „Ja“, sagte er kaum hörbar die Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger hin und her rollend. „Heroin Chic ist wieder in, hast du gesagt.“
Daneben tauchen aber noch andere seltsame Charaktere auf, die sich um das Berliner Clubsterben und andere Geschäftszweige arrangieren müssen. Insgesamt erzählt er wieder gewohnt witzig und aktuell über den Berliner Alltag, Freundschaften, das Weltall und Gespenster, die anscheinend Leute in den Selbstmord treiben. Und was hat es mit dem überall auftauchenden Fährmann zu tun?
Pfizenmaier gelingt es erneut, mit tollem vielfältigem Personal eine teils melancholische wie auch tragische Geschichte zu erzählen. Das hat Witz, Humor und steckt voller Absurditäten. Allerdings übertreibt er es diesmal mit zu vielen Neben-Stories und im zweiten Teil einer weiteren Hauptperson, die als Ich-Erzähler noch einmal neue Wendungen ins Spiel bringt. Das ist eigentlich unnötig, denn der Perspektiv-Wechsel in Teil 2 der Geschichte verwirrt eigentlich nur noch mehr in der sowieso schon ziemlich verwirrten Lebenssituation der Protagonisten. Trotzdem ist es ein Roman, an dem man dranbleibt, dafür ist die Sprache zu typisch berlinerisch rotzig, der Wortwitz zu frech und die ausufernde Fantasie des Autors zu gut und fesselnd. Musik-Liebhaber werden über dies mit einer wunderbaren Playlist von Peter Fox über Heilig bis zu Dagobert „Nie wieder arbeiten“, die stilsicher im Text gemischt sind, belohnt. Aber vor allem Berlin-Kenner werden sich von diversen Details und Anekdoten aus der Club-Szene begeistern lassen. Pfizenmaier - ein Autor, von dem wir noch viel mehr lesen wollen.
Sven Pfizenmaier: Schwätzer, Kein & Aber, Zürich, August 2024, 288 Seiten, 22 Euro.
Ganz nah an der Realität ist auch der neue Krimi der englischen Autorin Liza Cody, die ich hier auch schon vorgestellt hatte (Gimme more). Ihr neuer Genre-Roman „Die Schnellimbissdetektivin“ ist gewohnt wortwitzig, rasant und ruppig, hält den Blick auf aktuelle Krisen wie Brexit, Corona und „Me-Too“, strotzt aber vor allem durch rabenschwarzen Galgenhumor.
Eigentlich war Hannah Abram bei der Metropolitan Police angestellt, bis sie entlassen wurde, weil sie ihren sexuell übergriffigen Sergeanten in einen Kanal gestossen hatte. Diese toxische Beziehung lebt weiter und hat dafür gesorgt, dass sie ihre bescheidene Wohnung nur mit Hilfe eines miesen Jobs in einer ranzigen Imbissbude finanziert bekommt. Zwar ist ihr Chef Digby ähnlich dämlich und ein ausgewachsener Macho, der sie und ihre tumbe Kollegin Dulcie finanziell und sexuell ausnutzt, aber ihr intellektuell nicht das Wasser reichen kann. Um ihr Gehalt aufzubessern und ihr Gehirn nicht völlig im Fritten-Fett verdampfen zu lassen, arbeitet sie nebenbei als Detektivin für Kleinst-Aufträge.
Sie sucht verschwundene Fahrräder und Hunde, versucht herauszufinden, warum Gemüse von diversen Kleingärtnern geklaut werden oder kommt einem älteren Herren zur Hilfe, dem nächtlich der Müll vor die Haustür gekippt wird. Als der Mord an einer Stalkerin die Kripo mitsamt ihrem toxischen Ex-Kollegen auf den Plan ruft, sie bei einem Überfall reichlich was aufs lose Maul bekommt und ein weiterer Fall deutlich über ihre Grenzen führt, wird es langsam brenzlig und ungesund. Und das nicht nur in Bezug auf Verbrennungen am heißen Fritten-Fett oder typisch eklig authentischer englischer Küche.
Tief verwurzelt im britischen Real-Alltag zwischen Armut, Reichtum, Corona und unterschwelligem bis offenem Sexismus, erzählt Cody erneut, wie die sogenannten Underdogs sich durchwurschteln. Dabei zeichnet sie lebendige, vielschichtige Figuren und marginalisierte Gestalten, wie dem jungen obdachlosen Jungen BZee, den sie durchfüttert und der ihr bei der Wiederauffindung von Personen und Fahrrädern wie Hunden hilft. Allerdings nur solange, bis ein Widersacher einen baren Hunderter für Bespitzelung rausrückt. So kämpft die sympathische Heldin gegen allerlei Schurken und miese Kerle, steckt oft auch ordentlich was ein, sowohl verbal als auch körperlich, schafft es aber immer wieder, durch Witz, Frechheit bis zur Dreistigkeit, aber vor allem Empathie, das Gute siegen zu lassen.
Die Autorin Liza Cody war schon vieles, bevor sie zur gefeierten Verfasserin feministischer Kriminalliteratur wurde, die die üblichen Grenzen dehnten und überschritten. Hatte sie zunächst noch an der Royal Academy Kunst studiert, als Fotografin, Malerin, Möbeltischlerin, Roadie und im Wachsfigurenkabinett gearbeitet, begann ihre schriftstellerische Karriere Anfang der Neunziger Jahre mit der weltweit berühmten „Bucket Nut-Trilogie“ um die Catcherin Eva Wylie steil zu gehen. So erhielt sie zum Beispiel 2019 den Radio Bremen Krimipreis für „Ballade einer vergessenen Toten“ und für ihr Lebenswerk. Die Schnellimbissdetektivin ist Cody pur: mal düster, mal mitfühlend, dann völlig überdreht, aber immer voller schwärzestem Humor und authentisch dicht am heutigen Leben in Groß Britannien.
Liza Cody: Die Schnellimbissdetektivin, Ariadne 1275, Argument Verlag, Hamburg, 2024, 351 Seiten, 18 Euro.
Preisgekrönt ist auch mein nächster Autor: Der Hamburger Sasa Stanisic, geboren 1978 in Visegrad (Jugoslawien) und für seinen Migrations-Roman „Herkunft“ mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Sein neues Buch hat nicht nur den längsten Buch-Titel der Saison „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“, sondern wurde vom NDR im Juni auch als Buch des Monats ausgewählt. Dennis Scheck, Deutschlands Literatur-Papst bekundete dem sympathischen Schriftsteller: Er sei ein Alles-Könner.
Nicht nur, dass er Migration als emotionales Erbe gekonnt in wunderbare Bücher umformen, sondern Menschen authentisch und ehrlich in ihrer Verletzlichkeit, Sinnsuche und auf dem Weg zu einer besseren Zukunft begleiten und beschreiben kann, zeugt von großer schriftstellerischer Könnerschaft. Im Sommer 1994 lümmeln vier Freunde, „Ausländerjungs in Deutschland“ in einem Weinberg im Süden rum und stellen die gemeinsame Prognose auf eine eigene „Kackzukunft“ auf. Doch dann entwickelt Fatih einen genialen Plan: „Wie super wäre es, wenn es einen Proberaum für das Leben gäbe? Du gehst da rein und probierst zehn Minuten aus der Zukunft? Wie bei Deichmann, nur nicht mit Schuhen, sondern mit dem Schicksal. Kostenpunkt: hundertdreißig Mark. Falls dir dann gefällt, was du siehst, kannst du dich direkt einloggen und dich gleich darauf freuen, weil diese zehn Minuten werden Hundertpro irgendwann kommen. Das Einloggen kostet hunderdreizigtausend Mark“.
Nun ja, die Story hört sich zwar so schräg wie simpel an, aber wer hat so viel Kohle, dass er sich das leisten kann. Also doch wieder nur die Reichen, die doch sowieso schon die besten Aussichten haben? Aber ganz am Anfang rät der Autor seinen Leser*innen, das „Buch bitte der Reihe nach zu lesen“. Denn natürlich ist der Plan von Fatih bis ins kleinste Detail durchdacht: „Ihr strengt euch an, damit diese Zukunft eine größere Chance hat, einzutreffen. Ihr fresst nur noch Brokkoli und Nüsse und trinkt nur noch Wein und Olivenöl wie die Griechen. Ihr werdet freundlicher zu allen, weil man weiß, weniger assi sein, verbessert die Lebensqualität. Schon seid ihr gesünder und glücklicher, ganz ohne Proberaum!“
Und weil wir ja alle glücklicher und freundlicher sein wollen, beherzigen wir natürlich den Wunsch des Autors und lesen uns Stück für Stück durch seine Ansammlung von Kurzgeschichten, die dann irgendwie doch alle zusammengehören, aufgrund ihrer zeitlichen Abläufe zwischen Bosnien-Krieg und Gegenwart und den aufeinander abgestimmten Figurenkabinett. Dabei geht es um universelle Themen, wie Identität, Herkunft und Zukunft. Wo komme ich her und wie will ich leben?
Diese Grundfragen behandelt Sasa Stanisic gewohnt souverän, humorvoll, mit typisch Hamburger Schnauze und poetisch. Seine Sprache ist ungekünstelt, aber hochkünstlerisch. Die einzelnen Geschichten sind voller Zartheit, mal verspielt oder traurig, dann wieder voller Frische und Humor. Er bedient sich geschickt bei Goethe, Schiller und Heinrich Heine und schickt seinen Protagonisten nach Helgoland in die Fantasie, obwohl er nie auf der Hochseeinsel war.
In seiner titelgebenden Geschichte besucht Gisel das Grab ihres Mannes, der vor vier Jahren verstorben ist. Obwohl ihr bewußt ist, dass er nicht mehr da ist, wünscht sie sich ihn zurück, um mit ihm zu streiten, damit er sich dann bei ihr entschuldigen kann. Ich habe schon lange nicht mehr so Wunderbares über die Liebe gelesen. Die Figuren sind alle keine Helden, Abenteurer oder Superstars, die groß rauskommen wollen. Wie die meisten Menschen, wie du und ich, wollen alle nur ein kleines Stück vom Kuchen abhaben, ein wenig Glück und ein bisschen weniger Probleme. Sie werden wohl alle nicht ihren Namen in das Goldene Buch eintragen, aber wie wäre es mit einem Eintrag im „Silbernen Buch für normale Leute“.
Und vielleicht klappt es ja doch mit dem Proberaum für das Leben in der Zukunft. Das Einloggen für hundertdreißig Mark sollte doch bezahlbar sein. Wer sich nicht traut, sollte zumindest das wunderbare Buch von Sasa Stanisic lesen.
Sasa Stanisic: Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne. Luchterhand Verlag, München, 2024, 255 Seiten, 24 Euro.
Mein vierter Buch-Tipp ist etwas für Leseratten, die Jules Verne oder Mark Twain geliebt haben. Ein Abenteuer-Buch über eine verrückte Reise kreuz und quer durch das Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts voller außergewöhnlicher Figuren, das man nicht wieder aus der Hand legen kann. Der englische Autor Owen Booth lebt als Journalist, Werbetexter und Schriftsteller in London und hat sich als Hauptfigur eine reale Person ausgewählt. Als Vorbild für die schillerndste Figur seines Debütromans, Captain Clarke B. diente ihm Paul Boyton (1848 - 1924), ein Schausteller und Abenteurer, dessen Froschanzug ein Vorreiter der ersten Überlebensanzüge war.
Auch die Titellänge dieses Romans ist rekordverdächtig: „Die wirklich wahren Abenteuer und außerordentlichen Lehrjahre des Teufelskerls Daniel Bones“. Jener Daniel Bones wächst unter ärmlichsten Bedingungen in einem kleinen Fischerdorf am Rande des englischen Marschlandes auf. Ohne die Hilfe seiner Mutter, die unter ungeklärten Umständen verschwand, ist es an Daniel, sich und seinen jüngeren Bruder Will gegen die gewalttätigen Wutausbrüche und Übergriffe seines trunksüchtigen Vaters zu verteidigen. Alles ändert sich, als plötzlich ein sonderbarer Mann in einem aufblasbaren Gummianzug dem Meer entsteigt und ihm die Chance seines Lebens bietet, seinem trost- und zukunftslosen Leben zu entfliehen. Captain Clarke B., Hochstapler, Scharlatan, Frauenheld, Betrüger und „furchtloser Froschmann“ mit der Mission, die Welt von den Vorzügen seines Rettungsanzuges zu überzeugen, nimmt den jungen Daniel als seinen Assistenten mit auf eine wunderliche, wie abenteuerliche Reise.
Tollkühn werden Meere überquert, Flüsse und Seen Europas durchschippert, während reiche Witwen und gönnerhafte Adlige um ihre Unschuld und ihr Geld gebracht werden. Sie fallen in die Hände von Räuberbanden und den diversen Gläubigern des Lügenbarons von Captain.
Die Geschichte sprudelt nur so vor Fantasie, Abstrusitäten, Heldentaten und sagenhaftem Personal. Es geht um Wissenschaft, kriminelle Geschäfte, Liebe und Sex und nebenbei wird der eigentliche Held der Geschichte, Daniel Bones erwachsen, stark und mit allen Wasser gewaschen. Er lernt seine Intelligenz, seinen jugendlichen Körper und seine Gewitztheit gewinnbringend einzusetzen. Nebenbei entdeckt er nicht nur die eigene Sexualität, sondern wird in sämtliche Spielarten der Erotik mit Frauen und Männer eingeweiht. Oft entrinnt er wie auch sein Arbeitgeber nur knapp seinen Häschern und wird häufig verletzt, während er sich immer wieder Sorgen um seinen jungen Bruder macht, den er in der Gewalt des brutalen Vaters zurücklassen musste.
Was für ein Spass voller bester Lese-Unterhaltung. Als hätten sich Mark Twain, Charles Dickens, Ernest Hemingway und Alexandre Dumas zusammengetan. Das grandiose Buch von Owen Booth entfaltet sich wie eine wahrlich rasante Abenteuer- und Entwicklungsgeschichte voller skurriler Nebenfiguren und fantastischen Begebenheiten, deren Bestandteile Mut, Täuschung, List, Unverfrorenheit, Intrigen und eine kräftigen Prise Erotik nahezu jeglicher Coleur sind. Ein wilder Ritt durch Zeit und Europa, grandios übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Zimmermann mit einem wunderbaren Umschlag-Bild, welches man sich bestens als nächsten Film von Tim Burton oder Terry Gilliam vorstellen könnte. Der reinste Eskapismus, hervorragend geeignet, seine freie Zeit im Sommer auf das Wunderbarste zu vergeuden.
Owen Booth: Die wirklich wahren Abenteuer und außerordentlichen Lehrjahre des Teufelskerls Daniel Bones, Mare Verlag Hamburg , 2023, 376 Seiten, 25 Euro.
Die Bücher sind in den inhabergeführten Buchhandlungen Belling, Prosa, Buchfink, Arno Adler, Langenkamp, maKULaTUR, Störtebeker, Buchstabe und Bücherliebe erhältlich.