Büchertipps
Drei starke Frauenstimmen der Literatur

Ein extrem unterhaltsamer, als feministischer Thriller getarnter Berlin-Roman, eine junge literarische Entdeckung aus Spanien, sowie der zweite Teil einer großen Familientrilogie eines Weltstars der Literatur, das sind meine Empfehlungen für den Bücherherbst.

Beginnen möchte ich mit einer jungen Autorin aus dem diesjährigen Gastland der Frankfurter Buchmesse, der Spanierin Aroa Moreno Duran. Ihr in Spanien schon mit dem Premio Ojo Crítico ausgezeichneter Roman: „Die Tochter des Kommunisten“ behandelt einen Teil der Nachkriegsgeschichte, die bisher wenig aufgearbeitet ist, nämlich die Geschichte von Verfolgten des faschistischen Franco-Regimes, die ins Exil, zum Beispiel nach Ostdeutschland getrieben wurden.

Dieser Debütroman der 1981 in Madrid geborenen Autorin Aroa Moreno Duran handelt vom Leben einer spanischen Emigrantenfamilie unter äußerst prekären Verhältnissen im grauen Ostberlin der 50er Jahre. Der Vater, ein glühender Kommunist, sah seinen ideologischen Traum in der damaligen DDR als verwirklicht. Er holt seine Frau und die beiden Töchter nach, die alsbald Berlinerinnen, ja DDR-Bürgerinnen werden. Aber ihre Lebensrealität im real existierenden Kommunismus ist hart. Sie wohnen in einer winzigen, im Winter kaum zu heizenden Wohnung, in der es nach Kohlsuppe stinkt. Dann wird die Mauer gebaut und man versteht, warum die Autorin ihrem Buch ein Zitat/Gedicht von Reiner Kunze vorangestellt hat:

„Er wußte, was brücken wissen: Sie verbinden
über wasser, was unter wasser
verbunden ist.
Doch das eine ufer war sumpf,
das andere feuer.“

Dann taucht im Leben der Tochter Katja ein rätselhafter junger Mann aus dem Westen auf. Obwohl sie nicht miteinander sprechen, entwickelt sich eine große Liebe. Sie folgt ihm nach „Drüben“, indem sie Republikflucht begeht und fortan keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie hat. Aber auch im spießigen baden-württembergischen Backnang, wo man sie als „die Spanierin“ beschimpft, kommt sie nie richtig an. Trotzdem gründen sie eine Familie und bekommen eine Tochter.

Doch dann passiert etwas Seltsames, Schockierendes, das sie in eine tiefe Depression stürzt: Am dritten Geburtstag ihrer Tochter klingelt bei ihren Schwiegereltern das Telefon. „Am anderen Ende der Atem, neben dem ich die ersten zwanzig Jahre meines Lebens geschlafen habe. Katja, Papa ist gestorben. Das sagte meine Schwester am anderen Ende der Leitung. Und mehr sagte sie nicht. Sie legte einfach auf.“
Davon ausgehend entwickelt sich dieses tief berührende Buch zu einem spanisch - deutsch - deutschem Thriller, der mit außerordentlich historischer Detailkenntnis über 50 Jahre erzählt wird. Wie war es möglich, dass die Schwester Katja bei ihren Schwiegereltern anrufen konnte? Was alles haben die Eltern verschwiegen? Woher kommt dieses Fremdheitgefühl in der Welt?

Selbst ein Besuch in der alten Heimat Spanien, in dem Dorf ihrer Eltern ändert nichts an diesem Gefühl der Aufgeschlossenheit, der Isolation, der Einsamkeit. Aroa Moreno Duran hat einen brillanten Roman über Immigration und Exil geschrieben, von Menschen im Niemandsland zwischen den Welten und Zeiten. Eine berührende Geschichte über späte Geständnisse und den hohen Preis der Freiheit.

Aroa Moreno Duran: Die Tochter des Kommunisten, BTB-Verlag, 14. September 2022, 176 Seiten, Amazon.

Leila Slimani, die französisch-marokkanische Schriftstellerin, die 2016 mit dem hoch angesehenen Prix Goncourt für ihren psychologischen Thriller „Chanson douce“ ausgezeichnet wurde, wird in der Welt der Literatur als Star-Autorin gefeiert. Jetzt hat sie den zweiten Teil ihrer groß angelegten, auf autobiografischen Bezügen beruhende Familientrilogie vorgelegt. Teil eins, „Das Land der Anderen“ wurde hier ebenfalls von mir rezensiert und spielt in Marokko während der Zeit des französischen Protektorats. Er erzählt von der überall aneckenden Ehe zwischen der Elsässerin Mathilde und dem Araber Amine Belhaj, nachdem sie ihrem schneidigen Soldaten in seine Heimat Marokko gefolgt ist, wo sie entbehrungsreiche Jahre auf einer Farm verleben.

Im jetzt vorliegenden zweiten Teil, „Schaut, wie wir tanzen“, wird die Familiengeschichte weiter gesponnen. Trotz karger Böden und aller Widrigkeiten entwickelt sich die Farm in der Nähe von Meknes prächtig. Man kommt zu einem gewissen Reichtum und baut sogar einen Pool. Es werden die Kinder Aicha und Selim geboren, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Während die kluge, aber sehr ängstliche, verklemmte Tochter zum Medizinstudium ins Elsass geschickt wird, lässt sich der geistig phlegmatische Bruder Selim von seiner lasziven Schwägerin Selma verführen. Aicha lernt sehr ernsthaft und unterwürfig in Gegenwart sämtlicher Autoritäten in Straßburg, obwohl sie von ihren Mitstudenten ausgegrenzt und als Bauerntochter und Frau aus Nordafrika mit krausen Haaren und olivfarbener Haut behandelt wird.

Wir schreiben das Jahr 1968, wo in Paris und sonst überall die Studenten auf die Barrikaden gehen. Aber auch in ihrer Heimat wünscht sich die intellektuelle Jugend mehr Freiheiten und gesellschaftliche Veränderung. Als Aicha nach 4 Jahren während der Semesterferien zurück in das nun reiche Farmhaus kehrt, hat der strenge Patriarch Amine zwar immer noch die Zügel in der Hand, aber seine Frau Mathilde windet sich immer wieder aus seinen Fesseln heraus. Die familiären und gesellschaftlichen Widrigkeiten treiben Aicha schlussendlich aus dem Haus, hin zu ihren neuen Freunden rund um die alte Schulfreundin Monette, die ein Sommerhaus am Strand von Rabat besitzt.

Hier gelangt sie in eine freizügige Welt aus Tanz, Drinks und neuen intellektuellen Bekanntschaften, fernab von der bäuerlichen und trostlosen Welt der Eltern. Dort lernt sie auch den Karl Marx genannten Ökonomiedozenten Mehdi Daout kennen, der sie durch sein Charisma und seine Zielstrebigkeit beeindruckt. Schüchtern und durch viele Hindernisse beeinflusst verlieben sich die beiden: „Um Medhi zu begreifen, musste man ihn tanzen sehen. Da war etwas in seinen Gesten, seinen Bewegungen, eine seltsame Mischung aus Beherrschung und Lässigkeit“. Während Medhi trotz seines Widerstandes gegen die übliche Korruption und Vetternwirtschaft in Marokko dann doch die Karriereleiter erklimmt, driftet Aichas Bruder Selim in die wilde Welt der Hippies von Marrakesch bis Essouaira ab.

Grandios erzählt Slimani von den Mythen und Märchen rund um die glückssuchenden langhaarigen Hippies, die mit ihren bunten VW-Bussen auf der Suche nach Drogen und der freien Liebe durch das Land vagabundieren. Bei ihr lebt die Legende von Jimi Hendrix erneut auf, der angeblich am Strand vor jubelnden und tanzenden Kids auf Droge gefeiert wird. Mysteriös wie im Drogenrausch verschwimmen Wahrheit und Traum und Selim verschwindet in unbekannter Richtung.

Neben diesen Wendungen und Wirren im familiären Leben, die von Leila Slimani in gekonnt multiperspektivischer Vielschichtigkeit erzählt werden und die den Leser von Beginn an fesseln, geht es auch immer um die Zerrissenheit des Landes zwischen Postkolonialismus und Aufbruch. Alltagsleben und politische Ereignisse, wie der Putschversuch gegen den König von Skhirat verschmelzen zu einem literarischen Gesamt-Kunstwerk, das begeistert und Lust auf den dritten Teil macht. Denn am Ende des Buches bleibt vieles offen: Aicha und Mehdi bekommen eine Tochter, bei der es sich wohl um die Autorin selbst handeln dürfte, und Selim ist wohl in die USA ausgewandert. Zumindest Mathilde und Amine finden nach Jahren der Entfremdung wieder enger zusammen, auch wenn jeder auf seine Art doch irgendwie unglücklich bleibt in diesem grandiosen Familien-Epos.

Leila Slimani: Schaut, wie wir tanzen, Luchterhand Verlag, München, 2022, 379 Seiten, Amazon.

Die Autorin Calla Henkel weiss, worüber sie schreibt. Die Amerikanerin, geboren 1988 in Minneapolis ist Regisseurin, Künstlerin, Dramatikerin und Betreiberin einer angesagten Bar in Berlin, wo sie seit langem lebt. Jetzt hat sie mit „Ruhm für eine Nacht“ einen feministischen Thriller, der gleichzeitig aber auch ein Berliner Szene-Roman über die Stadt der 2000er ist, geschrieben. Dieses dunkel funkelnde Roman-Debüt steckt voller Witz, Erotik, Glamour und unheimlicher Begebenheiten. Dabei beschreibt sie einen Parforceritt durch die Kunst- und Clubszene voller wilder Parties und exzessivem Alkohol- und Drogenmissbrauch.

Alles beginnt mit Billigsekt aus einem Späti, den die beiden, frisch aus den USA eingetroffenen Kunststudentinnen Zoe und Hailey kippen, nachdem Barack Obama 2008 in Washington die Präsidentschaftswahlen gewonnen hatte. Die beiden jungen Frauen sind ein ungleiches Paar Anfang 20 und bewohnen gemeinsam eine Zweier-WG in Schöneberg. Hailey sieht sich gern in der Tradition von Andy Warhol, als Konzeptkünstlerin und will unbedingt reich und berühmt werden. Sie ist ehrgeizig und selbstbewußt und stürzt sich voller Power in die wilde Berliner Szene. Gleichzeitig verfolgt sie obsessiv die Online-Berichterstattung über den Mordfall der britischen Austauschstudentin Meredith Kercher in Italien, in derem Zentrum die Amerikanerin Amanda Knox steht.

Ihre Mitbewohnerin Zoe ist eher introvertiert und leidet an einer Essstörung. Sie trauert um ihre beste Freundin, die Tänzerin Ivy, die kurz vor ihrer Abreise nach Berlin durch vierzehn Messerstiche ermordet an einem Strand in Florida aufgefunden wurde. Zoe sieht sich als mitschuldig am Tod ihrer Freundin und verarbeitet das mit Hilfe von dadaistischen Collagen im Stil einer Hannah Höch. Gleichzeitig ist sie die Ich-Erzählerin des Buches und outet sich im Laufe der Zeit als Lesbe.

Weil das Studium an der Kunsthochschule sie kaum fordert, tauchen die beiden Frauen immer tiefer in das Berliner Nachtleben ein und verbringen verkaterte Tage in ihrer Wohnung, die ihnen die etwas seltsame Krimi-Autorin Beatrice Becks untervermietet hat. Diese Vermieterin scheint sich heimlich in die Wohnung und das Leben einzuschleichen, um die beiden als Grundlage für einen neuen Trash-Roman zu nutzen. Aus Rache und als Basis einer eigenen Kunst-Intervention und -Performance beschließen Zoe und Hailey, aus ihrer Wohnung einen illegalen Club zu machen, den sie passenderweise „Beatrice“ nennen.

Über Nacht wird ihr Club legendär und das Who is Who der Szene drängelt sich um Plätze auf der Gästeliste. In wilden Verkleidungen und mit Perücken werden Mottoparties zelebriert. Erotik, Glücksspiel, Selbstinszenierung und Kunstperformance verschmelzen zum neuen Hotspot der Berliner Kulturszene. Dabei verwischen immer mehr die Grenzen zwischen Realität und Inszenierung, Kunst und Leben, Wirklichkeit und Fiktion, weil Hailey eigentlich alles nur veranstaltet, um die neugierige Krimiautorin mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Alles wird natürlich auf Facebook und anderen Social Media Kanälen gepostet. Das hippe Pariser Purple Magazin schickt einen Fotografen. Die beiden verhinderten Kunststudentinnen fühlen sich angekommen auf dem Olymp des Ruhms.

Doch dann passiert ein Mord und die Ereignisse überschlagen sich. Calla Henkel kennt sich in dieser Szenerie so gut aus, weil sie selbst in Neuköln Mitbegründerin der zwar kurzlebigen, aber schnell mythischen „Times Bar“ war. Heute betreibt sie das „TV“ , eine Bar an der Potsdamer Straße, die auch als Performancebühne und Filmstudio dient. Mit dem Künstler Max Pitegoff machte sie Ausstellungen und produzierte nebenbei mit der Filmemacherin Alexa Karolinsky das Drehbuch für eine Verfilmung der Geschichte als Mini-Serie, für die ein amerikanischer Produzent bereits die Filmrechte erstanden hat.

Aber bereits der vorliegende Roman ist ein komplexes Meisterwerk, spannend und witzig geschrieben, voller Verweise in die Berliner Kunst- und Clubszene, inklusive Namedropping, Erotik und Genderthematik, dazu originell und hoch amüsant. Ein absolutes Kultbuch - schon jetzt.

Calla Henkel: Ruhm für eine Nacht, kein & Aber, Zürich, 13. September 2022, 448 Seiten, Amazon.

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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