Ulli Lust: Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein

Literatur-Tipps zum Jahresende 2017

Geschafft! Die Weihnachtsvöllerei mit Rehrücken, Gans und Karpfen liegt hinter uns. Vorbei ist es mit „Last-Christmas-Gedudel“ und Glühwein-beschickerten Fußgängerzonen-Remplern. Die Tanne nadelt auch schon bedenklich und gehört demnächst in die Tonne.

Schön, dass das Wetter nun ja gar nicht so nach langen Spaziergängen durch tief verschneite Winterwälder verlangt, sondern durch schmuddel-graue Tönung eher zu einer gemütlichen Lesestunde am Kamin verführt. Außerdem gilt es ja auch noch, die diversen Geschenkgutscheine, Geldgeschenke und Umtauschrabatte wieder in die Läden zu tragen. Ich, als Verfechter und Kämpfer für das gute Buch, empfehle deshalb: Rein in die lokalen Buchhandlungen (bloß nicht Amazon und Konsorten die Kohle in den Rachen geworfen), schön rumschmökern und sich ordentlich Lesestoff für graue Wintertage besorgen. Hier kommen also meine Buch-Tipps zum Jahresende, die ich auch als kleine Jahresbilanz meiner Lieblings-Bücher 2017 verstanden haben möchte.

Beginnen will ich mit zwei herausragenden Werken aus Frankreich: Tipp eins ist das preisgekrönte Werk der französisch-marokkanischen Schriftstellerin Leïla Slimani (Titelfoto), die mit „Dann schlaf auch du“ das Psychogramm einer Kindermörderin geschaffen hat. Ein Buch, das selbst kinderlosen Menschen ordentlich an die Nerven gehen sollte. Ein Alptraum für alle Eltern, der auf einem authentischen Fall aus den USA basiert. Schon der erste Satz schockiert: „Das Baby ist tot.“ Aber auch die nachfolgenden drei Seiten lassen niemanden kalt. Es geht um den doppelten Kindsmord einer Nanny an ihren beiden Schutzbefohlenen einer französischen Mittelklasse-Familie. Der Vater ist ein aufsteigender Musik-Manager, der selten zu Hause ist, die Mutter möchte wieder in den Beruf als Anwältin zurück. Also wird eine Tagesmutter mit besten Referenzen eingestellt, die nicht nur die lieben Kleinen liebevoll versorgt und ehrlich zu lieben scheint, sondern gleichzeitig die Wohnung auf Vordermann bringt, hervorragend kocht und sogar in den Familien-Urlaub mit nach Griechenland genommen wird. Mila und Adam lieben ihre Nanny Louise, die Eltern sind begeistert von ihrer Umsichtigkeit und merken dabei nicht, wie sich die fremde Frau immer mehr in ihre Privatsphäre drängt.

Leïla Slimani, die für diesen Roman den wichtigsten französischen Buchpreis, den Prix Goncourt gewann, entwickelt die dramatischen Geschehnisse in Rückblenden, Zeugenaussagen und knallharten Sätzen. Es prallen Welten aufeinander: dort die scheinbar heile Welt der glücklichen Familie und auf der anderen Seite die persönlichen, psychologischen Vorzeichen des Schrecklichen, des Vorlebens von Louise mit ihrer eigenen zerrütteten Familiengeschichte, ihrer Überforderung und Hilflosigkeit sowie ihrer unendlichen Einsamkeit. In großer Nüchternheit beschreibt Slimani das unausweichliche Geschehen, schafft eine Atmosphäre des Schreckens und der Depression durch genaueste Beobachtung von Details und zeichnet ein Bild der Zerrissenheit der französischen Gesellschaft zwischen reicher Mittelklasse und den sozial Abgehängten aus den Pariser Banlieues. Ein großes Buch, das mir böse Träume verursacht hat.

Leïla Slimani: Dann schlaf auch du, Luchterhand, München, 21. August 2017, 224 Seiten

Tipp zwei stammt vom jungen Aufsteiger der französischen Literaturszene, Edouard Louis und könnte fast als männliche Variante der #MeToo-Kampagne verstanden werden, bei der es ja um sexuelle Belästigungen und Übergriffe hauptsächlich gegen Frauen weltweit geht. Autor Dedier Eribon befand: „Der Debütroman von Edouard Louis (Das Ende von Eddy) war ein literarischer Schock. Der zweite ist noch stärker und macht Louis zu einem der bedeutendsten Autoren seiner Generation.“ „Im Herzen der Gewalt“ beschreibt als autobiografischer Roman die rekonstruierten Erlebnisse des Autors in der Weihnachtsnacht in Paris.

Edouard schlendert zu später Stunde durch die Straßen von Paris, als ihm ein junger Mann namens Reda begegnet, der aus Algerien stammt. Eher unwillig kommen sie ins Gespräch, und schließlich nimmt ihn der Autor mit in seine kleine Wohnung am Place de la République. Es entspinnt sich ein kleiner Flirt mit spontanem Sex. Doch plötzlich nimmt das Drama seinen Lauf und endet in einer dramatischen Nacht mit Waffengewalt, Diebstahl und Vergewaltigung. Kühl und sachlich schildert Louis die Geschichte vom zarten Kennenlernen bis zur Anzeige bei der Polizei in Form eines heimlich mitgehörten Gesprächs seiner Schwester mit dem Schwager und eigenen Gedankengängen und Kommentaren. Deutlich werden die unterschiedlichsten Formen von Gewalt sichtbar, indem er von Kindheit, Rassismus, sexuellem Begehren und politischen Machtverhältnissen erzählt. Einerseits ist der Leser hautnah dabei, wenn die Gewalt ausbricht und Reda den Autor mit der Waffe bedroht oder bei der Vergewaltigung fast erwürgt, andererseits erlebt er ein akkurates Bild unserer Gesellschaft mit seiner Ausgrenzung von Ausländern, Homosexuellen und politisch Andersdenkenden. Da stößt die biedere Welt seiner Schwester auf die brutale Realität der Großstadt Paris mit all ihren Problemen. Edouard Louis hat ein sehr mutiges Buch geschrieben, das für ihn wohl absolut lebensnotwendig war und den Leser sehr berührt.

Edouard Louis: Im Herzen der Gewalt, Fischer-Verlag, Frankfurt, 24. August 2017, 217 Seiten

Auch bei meinem dritten Tipp geht es um sexuelle Belästigung. Geschrieben hat es die 1982 in Israel geborene Schriftstellerin Ayelet Gundar-Goshen, von der ich hier auch schon ihren 2015 erschienenen Roman „Löwen wecken“ vorgestellt habe. In ihrem neuen Werk „Lügnerin“ konstruiert sie eine Geschichte, in der ein einziges Wort das Leben zweier Menschen schlagartig verändert. Die junge Nuphar arbeitet in einer Eisdiele und wird von einem älteren Herrn, dem etwas auf dem absteigendem Ast befindlichen Schlagerstar und eitlen Sänger, beleidigt und bedrängt. Das junge Mädchen, ein gehemmter, einsamer Teenager, der scheinbar unsichtbar ist, wird vom selbstgefälligen Ex-Star drastisch angepöbelt mit Worten, die ins Fleisch schneiden. Sie solle sich gefälligst die Augenbrauen zupfen, bevor sie unter Menschen gehe, und überhaupt behauptet er lauthals, dass niemand jemals Lust hätte, „ein Kalbsauge wie sie zu ficken“. Als sie daraufhin auf den Hinterhof flieht, verfolgt er sie, bis sie einen gellenden Schrei der Abscheu und Wut herausstößt. Schnell eilen ihr mehrere Soldatinnen zur Hilfe und glauben, einen sexuellen Übergriff vereitelt zu haben. Nuphar bestätigt diese Vermutung und bekommt endlich die lang ersehnte Aufmerksamkeit ihrer Umwelt. Diese Lüge macht sie zum Familien-Liebling und zum Star in den Medien. Sie wird in Talk-Shows eingeladen und genießt ihren Aufstieg zur „Medienprinzessin“. Der pöbelnde Mann kommt in Untersuchungshaft und steht vor dem gesellschaftlichen und finanziellen Ruin, während die Protagonistin ihre sozialen Beziehungen als Teenager neu definiert und immer mehr Geschmack an der Manipulation der Wirklichkeit findet.

Als ausgebildete Psychologin weiß Gundar-Goshen um die Höhen und Tiefen der menschlichen Befindlichkeit und deren Verletzlichkeit. Geschickt konstruiert sie eine Parallelhandlung, in der eine alte Frau wegen einer erfundenen Zeitzeugenschaft in arge Gewissenskonflikte gestürzt wird. Mit ihrer scharfen Beobachtungsgabe und einer geschulten Analysefähigkeit zerlegt sie oberflächliche Wahrheiten und vermeintlich objektive Gewissheiten. Ein Roman über die Macht der Worte, die verlockende Süße der Versuchung zu Lügen und die verhängnisvolle Schwierigkeit, zur Wahrheit zurück zu finden.

Ayelet Gundar-Goshen: Lügnerin, Kein & Aber, Zürich 2017, 336 Seiten

Nach so viel Dramatik und Ernsthaftigkeit wird es Zeit, mal etwas Lustiges, Unsinniges vorzustellen. Deshalb als vierter Tipp von mir ein skurriler Weltuntergangskrimi von Hannes Stein: „Nach uns die Pinguine“. Der Autor wurde 1965 in München geboren und lebte als Schriftsteller und Journalist zunächst in Hamburg, dann als Deutschlehrer in Schottland, später in Jerusalem, wo er sein erstes Buch schrieb, und seit 2012 in den USA, wo er sich kurzfristig als Republikaner registrierte, dann ins Lager der Demokraten wechselte, um dann mit „Nach uns die Pinguine“ seinen neunten Roman zu veröffentlichen.

Das Buch spielt auf den fern gelegenen Falkland-Inseln, die als eine der wenigen Ecken der Erde den dritten Weltkrieg nahezu unbeschadet überstanden haben. Diesen Weltuntergang, über den die Protagonisten der Geschichte nicht sprechen, konnte selbst der völlig überforderte US-Präsident mit der eigenartigen Frisur nicht verhindern. Hauptperson dieser skurril, pseudo-philosophisch-postapokalyptischen Vergnüglichkeit ohne viel Tiefgang ist Joshua Feldenkrais, ein jüdischer Mormone, geheim homosexuell und seltsamerweise als Radiomoderator aus London ans andere Ende der Welt verschlagen. Die ganze Welt liegt in Trümmern, nur die windumtosten Falkland-Inseln scheinen irgendwie ungeschoren dem Atom-Kriegs-Wahnsinn entronnen zu sein. Man pflegt sein britisches Understatement, und das Leben verläuft in ruhigen, Tee-trinkenden Bahnen, bis plötzlich der allseits beliebte Gouverneur der britischen Krone mit einer Churchill-Statue erschlagen wird. Joshua wittert die große Radio-Geschichte und gerät dabei selbst in den Dunstkreis der Verdächtigen.

Die ganze Story ist schnell und schnodderig erzählt und liest sich auch so schnell. Zwar kann von echtem englischen „schwarzen“ Humor nicht die Rede sein, aber trotzdem amüsiert die hanebüchene Geschichte durch sympathische Figuren, schräge Verwicklungen des Handlungsablaufs und den einen oder anderen gelungenen Gag. Das Setting des Romans auf den Falkland-Inseln, dem ewigen Zankapfel zwischen England und Argentinien, dürfte Inselfans und Weltenbummler erfreuen. Kurios und verpackt in typisch britischen Klischees entspinnt sich ein Krimi, der eigentlich keiner ist, sondern eher ein Hirngespinst eines Autors, bei dem einiges aus den Fugen gerät. Ganz lustig zu lesen, aber kein echter Knaller.

Hannes Stein: Nach uns die Pinguine, Galiani-Verlag, Berlin 2017, 208 Seiten

Mein fünfter Tipp richtet sich erneut an Inselfreunde und Weltenbummler, diesmal aber am völlig anderen Ende der Erde: Island. Mein persönlich hoch geschätzter Mare-Verlag produziert seit Jahren eine hervorragende Buchreihe von besonderen Kennern, die ihre jeweilige Lieblingsinsel vorstellen. Diesmal geht es also um die Insel aus Feuer und Eis, hoch am Polarkreis gelegen, Heimat von knorrigen, speziellen Menschen mit vielerlei künstlerischen Fähigkeiten (siehe Björk oder Sigur Rós, Filmemachern wie Fridriksson oder andere Stars der Nordischen Filmtage usw.), wilden Pferden, Massen an Schafen und einer berauschenden Natur. Ein Traum für jeden Reisenden.

Karl Wetzig, 1956 in Düsseldorf geboren, hat viele Jahre auf Island gelebt und war von 1992 bis 1998 Lektor an der Universität Reykjavik. Er hat die kleine Insel mit seinen 300.000 Einwohnern bei jedem Wetter erlebt und erkundet. Wobei seltsamerweise sein Buch unter Palmen beginnt: ein Blick von einer Feste aus über den Indischen Ozean. Dorthin verschlug es den isländischen Abenteurer und Reisenden Jon Olafsson im 17. Jahrhundert. In bunten schillernden Farben beschrieb dieser später seine Erinnerungen an den Orient. Ausgehend von diesen frühen Zeugnissen isländischer Entdeckerlust beschreibt der Autor Wetzig die vielschichtige Geschichte der Insel am Polarkreis. Hinzu kommen natürlich als Quelle die berühmten Island-Sagas und seine umfangreichen persönlichen Erfahrungen aus seinem Leben auf Island.

Seine Geschichten führen sowohl durch die quirligen Gassen der multikulturellen, bunten und jungen Hauptstadt Reykjavik mit ihrer wilden Kneipenkultur, als auch in die abgelegensten Ecken der Westfjorde oder zu entspannten Neujahrsbädern in heißen Quellen in verschneiten Flusslandschaften. Er beschreibt ausgiebige Wanderungen über Lavafelder, zu grandiosen Wasserfällen und durch mondartige Vulkangegenden. Er besteigt die Hegla, den Eingang zur Hölle im Hochland, wohin nur wenige Touristen vordringen. Überhaupt ist das gesamte Buch von der Liebe und der großen Kennerschaft von Wetzig geprägt. Gerade heutige Reisende, die nicht im Massenmeer der Touristen, die mittlerweile die Insel förmlich überrennen, untergehen wollen, bietet der Autor durch seine Tipps hervorragende Möglichkeiten, Orte abseits der üblichen Routen zu entdecken, die es noch zu entdecken lohnt. „Die Natur in Island schenkt einem früher oder später ein Gefühl zurück, das wir seit langem verloren haben: ein kleiner, verschwindend kleiner Teil von etwas zu sein, das größer, vieler größer ist als der Mensch, diese weltbeherrschende und -verderbende Spezies.“

Karl Wetzig: Mein Island, mare-Verlag, Hamburg 2017, 240 Seiten

Auch mein nächster Tipp stammt aus dem mare-Verlag und ist ein Fest für Auge und Sinne, das neueste Fotobuch über die wohl meistfotografierte Stadt der Welt: Venedig. Und wieder gelingt es dem rührigen Verlag der Meere, einige der besten Fotografen der Jetztzeit zu engagieren, um die sagenumwobene Lagunenstadt mit ihrer einzigartigen Schönheit und den dazugehörigen unvermeidlichen Klischees aus unterschiedlichsten künstlerischen wie perspektivischen Blickwinkeln abzulichten. In fünf höchst verschiedenen Kapiteln gelingt dem Buch durch die jeweilige persönliche Bildsprache eine ungewöhnliche Annäherung an die italienische Traumstadt. Jeder der fünf Fotografen besuchte exklusiv für diesen spannenden Bildband die Stadt.

Robert Voit (Jahrgang 1969 aus Erlangen) gelingen in seinem Kapitel „Die steinerne Stadt“ Aufnahmen voller Anmut und Schönheit, die durch ihre Farben teilweise an mittelalterliche Malereien erinnern. So erstrahlt sein Canale Grande in goldgelbem Licht. Die blaue Stunde und herrliche Architekturaufnahmen sind sein Thema.

Gueorgui Pinkhassovs (1952 Moskau) Aufnahmen sind Fotografien von flirrender Schönheit und Leichtigkeit. Sein Hauptaugenmerk liegt auf dem „Glanz der Serenissima“. Seine Fotos spiegeln das Leben der Venezianer in Licht und Schatten. Teilweise unheimlich, dann wieder königlich glitzernd erscheinen Details und Menschen, spiegeln sich in dunklen Wasserflächen oder jubeln im Glanz von Geschichte und Architektur.

Paolo Pellegrin (1964 Rom), hat sich in seiner Fotoserie erneut gegen die Stereotypen und für den Zauber der Stadt entschieden. Für ihn gab es hinter jeder Häuserecke eine neue Welt zu finden, eine Kulisse aus Traum und Zauber. Seine Wasserwelten in Schwarz-Weiß entstanden hauptsächlich auf Fahrten mit den unterschiedlichsten Schiffen und Booten, die die Kanäle der Lagunenstadt bevölkern, vom Linienschiff Vaporetto, dem Bootstaxi Motoscafi, den schmalen Holzbooten, den Traghetti bis hin zu den berühmten Gondeln.

Mark Power (1959 England) nennt sein Kapitel „Inselwelten“ und zeigt in seinen Alltagsaufnahmen das normale Leben der Venezianer, abseits der touristischen Pfade. Er besuchte die äußeren Inseln der Stadt, zeigt das Gesicht des eher unbekannten Venedigs. Seine Bilder sind unspektakulär und spiegeln die reale Wirklichkeit auf Burano, La Giudecca, Santo Spirito oder Pellestrina. Mal ist es nur eine Tankstelle, dann ein Tennisplatz im Flutlicht oder ein Ruinenhaus in San Giacomo in Paludo.

Martin Parr (1952 England) wird seinem berühmten Ruf gerecht und präsentiert wieder einmal seine humoristische Sicht auf Touristen in schrägen und quietsch-bunten Farben. Für ihn war Venedig wieder so aufregend wie ein Vergnügungspark. Sein Thema „Der Tourist ist auch ein Mensch“ zeugt erneut von seiner satirischen Sichtweise auf Menschen, die sich unbeobachtet fühlen und ihren Klischees bedenklich nahekommen – herrlich!

Nikolaus Gelpke (Hrg.): Venedig, mare-Verlag, Hamburg, 28. November 2017, 135 Seiten

Mein siebenter und letzter Tipp für heute richtet sich an Freunde des Comic beziehungsweise der literarischen Form, der Graphic Novel. Das Buch stammt von der österreichischen Zeichnerin Ulli Lust, geboren 1967 in Wien, und ist die Fortsetzung ihres gefeierten autobiografischen Erstlings „Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“. Mit „Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein“ setzt sie schonungslos ihr Leben in gezeichneten Bildern fort und macht sich förmlich nackt. Während sie sich in ihrem preisgekrönten Debütroman keinerlei Schonung für Dummheit, Unbedarftheit und Naivität gönnt – offen beschreibt sie ihr wildes Leben als 17-jährige Punkerin auf Flucht in Italien, ohne Geld, ohne Dach über den Kopf, sich prostituierend und tief absinkend in die Fänge der Mafia –, setzt sie in Teil zwei ihrer persönlichen Rückschau noch ordentlich einen drauf. Sie bekommt ein Kind, das sie wegen Geldmangels bei den Großeltern parkt, obwohl sie den Sohn Philipp liebt und regelmäßig besucht. Mit Gelegenheitsjobs hält sie sich notdürftig über Wasser, obwohl sie eigentlich Kunst studieren möchte.

Befreundet ist sie mit Georg, einem 18 Jahre älteren Schauspieler. Er ist lieb, gut zum Kuscheln und reden, aber beim Sex eher langweilig. Deshalb sucht sich die rollige Protagonistin einen Liebhaber. Der heißt Kimata und kommt aus Nigeria. Mit ihm kann sie kiffen, rauschhaften Sex haben, denn er hat natürlich einen großen Schwanz und fast immer Lust. Mit krakeligem Stift zeichnet Ulli Lust die explosionsartigen Ausbrüche der sexuellen Rauscherfahrungen. Sie scheut nicht vor Schweiß, Tränen und in sich verwirbelten Körperteilen zurück. Hier wird nichts schöngefärbt, obwohl sie erneut die schwarz-weißen Zeichnungen mit einer weiteren Farbe ergänzt, diesmal ein blasses Lila-Rosa. Aber es geht nicht nur um Sex, trotz unzähliger erigierter Penisse und tropfender Vaginen, sondern auch um Fremdenhass, Ausgrenzung und Gesellschaftskritik. Ulli Lust gelingt ein schamloser Comic, knapp am Porno vorbei, dessen Dramaturgie einen Sog entwickelt, so dass man das Buch kaum wieder aus der Hand legen möchte.

Ulli Lust: Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein, Suhrkamp, Berlin, 11. September 2017, 367 Seiten

Die Bücher sind in den inhabergeführten Buchhandlungen Prosa, Buchfink, Arno Adler, Langenkamp, maKULaTUR und Buchstabe erhältlich.

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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