Sieger aller Klassen auf der Filmpreisnacht: Schauspieler Juan Campilo Ramon Estrada (Gegen den Strom), Foto: (c) Holger Kistenmacher

Islands Filmbranche räumt bei den 60. Nordischen Filmtagen ab
The winner takes it all

Im Fußball würde man von Kantersieg sprechen.

Bei der Filmgala im Lübecker Theater hieß der überragende Sieger: „Gegen den Strom“ von Benedikt Erlingsson aus Island, der die vier wichtigsten Filmpreise (NDR-Filmpreis/Publikumspreis/Baltischer Filmpreis/Kirchlicher Filmpreis) einsackte. Und das völlig mit Recht! Auch für mich war die Öko-Komödie der eindeutig beste Spielfilm der 60. Filmtage.

„Woman at war“, wie der isländische Streifen im Original heißt, glänzt nicht nur durch wunderbaren Humor, sondern hat auch viele wichtige Botschaften: Die Hauptfigur, hervorragend dargestellt von Halldora Geihardsdottir (in einer Doppelrolle als Halla und ihre Schwester) beweist als unerschrockene Umweltaktivistin, die Stromleitungen kappt, dass man auch als Einzelkämpferin gegen ungezügelte Industrialisierung etwas ausrichten kann. Ihre illegalen Aktivitäten werden von der isländischen Staatsmacht und ausländischen Investoren zwar mit allerlei militärischen Kampfmitteln (Drohnen, Hubschraubern, Infrarot-Kameras und hoch bewaffneten Elite-Soldaten) attackiert, aber die mutige Allein-Kämpferin ist immer einen Clou voraus. Mal versteckt sie sich in einem Schafskadaver, mal tarnt sie ihre explosive Sprengfracht unter stinkendem Blumendünger, dann holt sie Stromleitungen mit Pfeil und Bogen runter oder taucht auf der Flucht vor Bluthunden und Soldaten durch eiskaltes Wasser.

Filmszene aus 'Woman at War' mit Halldora Geihardsdottir, Foto: (c) Slot Machine / GulldrengurinnFilmszene aus 'Woman at War' mit Halldora Geihardsdottir, Foto: (c) Slot Machine / Gulldrengurinn

Als Running Gag beziehungsweise als Spaßmacher wie aus der Commedia dell'arte taucht immer wieder ein kolumbianischer Fahrrad-Tourist auf (Juan Camillo Roman Estrada), der andauernd fälschlicherweise als Terrorist verhaftet wird und dann unter spanischem Fluchen wieder entlassen werden muss. Ein weiteres wunderbares Stilmittel des köstlichen Films ist die Musik. Sie ist durch ein musikalisches Trio vertreten, das immer auch wieder im Bild auftaucht, so unter anderem auf einem Dach, als die Heldin Flugblätter über ihr Ansinnen in Reykjavik fliegen lässt. Dazu kommt ein ukrainisches Damen-Gesangs-Trio, das folkloristische Lieder schmettert, während sich Halla in die Ukraine aufmacht, um eine kleine Tochter zu adoptieren. Wie in der klassischen griechischen Tragödie der Chor ist die Musik als Unterstützung und aktiver Teilnehmer für den Inhalt des Films sehr wichtig. Denn auch das wunderschöne Island, das mit Recht stolz ist auf seine einmalige Natur, die eine weitere Hauptrolle in dem Streifen spielt, ist durch Großindustrie und Umweltverschmutzung bedroht.

Mit menschlicher Wärme, Solidarität und Witz kann man aber auch gegen diese scheinbar übermächtige Allianz aus Wirtschaft und Politik ankommen, selbst wenn am Ende des Films alles unter Wasser steht. Die Klimakrise muss dringend bekämpft werden, auch mit illegalen Mitteln, wenn es nicht anders geht. Diese außerordentliche Komödie mit Tiefgang zeigt dies in aller Deutlichkeit. Dass dieses kleine Land, hoch oben im Norden Europas, mit gerade einmal 330.000 Einwohnern eine äußerst produktive und preisverdächtige Film-Kultur besitzt, beweisen noch einige weitere Streifen aus Island, die bei den Filmtagen gezeigt wurden.

Filmszene aus Sommerkinder, Foto: (c) LjósbandFilmszene aus Sommerkinder, Foto: (c) Ljósband

Als bester Kinder- und Jugend-Film wurde „Sommerkinder“ von Gudrun Ragnarsdóttir ausgezeichnet. Dabei geht es um zwei Kinder, deren Eltern sich trennen, woraufhin sie für den Sommer in ein entlegenes Kinderheim verfrachtet werden, wo die Heimleiterin Pálina ein strenges Regiment aus Strafen und Demütigungen führt. Eigentlich sollen die sechsjährige Eydis und ihr Bruder Kári als Sommerkinder dort nur bis zum Winteranbruch bleiben, aber sie werden dann nicht wieder abgeholt. Also machen sich die beiden auf eine abenteuerliche Rückreise durch eine wilde, verwunschene Natur. In den magischen Bildern des Films treffen reale Nöte der Kinder auf die Kraft kindlicher Fantasie. Trotz aller Härten der grausamen Heimunterbringung verlieren die Kinder nie ihren Mut und ihre Zuversicht, ihre Mutter, die im Krankenhaus liegt, wiederzusehen.

Aber auch in der Spielfilm-Sektion gab es noch zwei absolut sehenswerte Streifen aus Island. „Atme ganz normal“ ist ein realistisches Sozialdrama über zwei Frauen, die am Abgrund stehen, sich aber solidarisch helfen. Die alleinerziehende Mutter Lara lebt mit ihrem Sohn Eldar in einer grauen, tristen Siedlung am Rande des Flughafens Keflavík. Sie ist verschuldet und verliert ihre Wohnung, obwohl sie gerade einen Job bei der Pass-Abfertigung am Flughafen gestartet hat. Folglich müssen sie und ihr Sohn im Auto übernachten und sich von Probier-Häppchen aus dem Supermarkt ernähren.

Filmszene aus 'Atme ganz normal', Foto: (c) Zik Zak FilmworksFilmszene aus 'Atme ganz normal', Foto: (c) Zik Zak Filmworks

Dann trifft sie auf Adja, die illegal mit gefälschtem Pass über Island mit ihrer Tochter nach Kanada reisen will. Sie wird erwischt und in Abschiebehaft genommen. Nach dreißig Tagen Haft landet sie im Flüchtlingslager, wo sie auf die Deportation wartet, aber gleichzeitig auch Lara und ihrem Sohn Unterschlupf bietet. In tristen, kargen Farben wird das Schicksal der beiden Frauen bebildert, während die Kälte, der Regen und der ewige Wind förmlich in den Kinosaal kriechen. Die Regisseurin Isold Uggadóttir zeichnet trotz der schicksalhaften Dramatik des Geschehens eine realistische Geschichte aus Wärme, Menschlichkeit und Solidarität. Trotz des konsequenten Realismus des Filmes gewinnt am Ende die Hoffnung.

Von Hoffnung kann in dem Anti-Drogen-Film „Lass mich fallen“ von Baldvin Z überhaupt keine Rede sein. Auf herzzerreißende Weise zeichnet der derbe Streifen den Niedergang von jungen Frauen von der spaßigen Party-Drogen-Szene bis zum bitteren Heroin-Horror-Elend. Selten wurde die selbstzerstörende Macht der Drogen in ihrer Ausweglosigkeit dermaßen bitter und realistisch verfilmt. Dabei geht der Film auf wahre Begebenheiten des heutigen Islands zurück. Regisseur Baldvin Z hat viel recherchiert zum Thema von verschwundenen jungen Frauen. Beispiel dafür ist die 15-jährige Magnea, die eigentlich wohlbehütet und als Klassenbeste aufwächst, sich aber in eine Abwärtsspirale aus Party-Pillen, falschen Freunden, Kleinkriminalität und Sex begibt.

Filmszene aus 'Lass mich fallen', Foto: (c) The Icelandic Film CompanyFilmszene aus 'Lass mich fallen', Foto: (c) The Icelandic Film Company

Zunächst lernt sie die etwas ältere Stella kennen, die sie bei ihren Drogen-Freunden einführt. Sie schwänzt die Schule, geht lieber auf Partys oder raubt mit der Freundin Männer aus, die auf Kontaktanzeigen reagieren. Der Drogenkonsum nimmt zu und der langsame und bittere Absturz in Sucht und Hilflosigkeit nimmt immer mehr Formen der Selbstzerstörung und des Missbrauchs an. Langsam, aber unausweichlich begibt sich Magnea in die Hölle aus Abhängigkeit, sexueller Ausbeutung und sozialer Verelendung. Irgendwann geben auch die Eltern, die Schule und die Freunde alle Versuche auf, sie aus dem Drogensumpf zu befreien. Mit Schrecken verfolgt der Beobachter die unausweichliche Spur, die in die Hölle führt. Eigentlich sollte der Film zur Abschreckung in Schulen eingesetzt werden, denn seit dem Anti-Drogen-Film „Requiem for a dream“ von Darren Aronofsky hat kaum ein anderer Film die Hoffnungslosigkeit und das Drogenelend so realistisch und bestürzend verarbeitet.

Impressionen von der Filmpreisnacht im Theater Lübeck

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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