Foto: (c) Miet Warlop

Kampnagel Hamburg
Bericht vom Sommer-Festival Teil 2

Erst Regenschauer der derben Art, dann Platzregen und auch noch ein Corona-Fall im Ensemble von (La) Horde, die daraufhin ihre sehnlich erwarteten Tanzabende absagen mussten. Das Sommer-Festival auf Kampnagel in Hamburg schien unter keinen guten Sternen zu stehen.

Dann kam aber am Donnerstag und Freitag der Sommer zurück. Der Avantgarden füllte sich mit hoch erfreutem Publikum, die den lauschigen Abend bei verrückter Musik, guten Getränken und angeregten Gesprächen genossen.

Dazu gab es schräg-listig-lustiges Dada-Theater aus Belgien. Die Performerin Miet Warlop hatte ihr anarchisches Theater-Happening „After all Springville“ als Weltpremiere mit nach Hamburg gebracht. Zunächst ist nur ein seltsames Papp-Haus auf der Bühne zu sehen, an das sich ein gelangweilter Sicherungskasten mit Beinen lehnt. Es folgen absurd schräge Figuren, wie ein Papp-Karten mit herausschauendem Rohr zum Schauen und Tasten, ebenfalls mit Beinen, ein auf Pumps und langen schwarzen Beinen wandernder Tisch mit Tischdecke und ein riesig großer Mensch in Trainingsanzug, der alberne Laute von sich gibt und seine Turnübungen macht. Allen scheint ein tragisches Scheitern gemein. Der wandelnde Tisch will schöner gedeckt werden.

Miet Warlop, Foto: Holger KistenmacherMiet Warlop, Foto: Holger Kistenmacher

Also kommt eine große Blumenvase und Kaffee-Gedeck auf den Tisch. Der Sicherungskasten läuft heiß und scheint zu explodieren, während dem Karton das Rohr kürzer gesägt wird. Irgendwann explodiert das gesamte Haus und riesige Schläuche werden aufgeblasen und schlängeln sich über die Bühne und das belustigte Publikum. Es knallt und zischt, während sich die Leute vor Lachen hinter ihren Masken kaum einkriegen wollen. Ein herrlich durchgeknalltes Stück mit wunderbaren Performern. Besonders der laufende Tisch, der sich als langbeiniger Tänzer erweist, durfte sich den Jubelstürmen des Publikums strahlend erfreuen. Super - so kann der Abend weiter gehen.

Es folgte ein neues Stück der österreichisch-französischen Choreografin und Theatermacherin Gisèle Vienne: „Der Teich“. Die Spezialistin für verstörend-beglückende seelische Abgründe hatte sich einen nahezu unbekannten Text von Robert Walser, der diesen eigentlich für seine Schwester geschrieben hatte, die ihn aber erst spät nach dem Tod des Bruders entdeckte, vorgeknöpft. Zunächst ist die Bühne bestückt mit einem recht verlottertem Bett und sieben sitzenden oder liegenden menschlichen Puppen. Alles deutet auf eine wüste Partie hin. Dann erscheint ein Bühnenarbeiter und trägt die Puppen sehr liebevoll von der Bühne. Nun beginnt das eigentliche Stück mit zwei ausgezeichneten Schauspielerinnen, die sich choreografiert in Super-Zeitlupe über die Bühne bewegen und den Text reklamieren.

Gisèle Vienne: 'Der Teich', Foto: Holger KistenmacherGisèle Vienne: 'Der Teich', Foto: Holger Kistenmacher

Dies geschieht auf Französisch mit an die Wand geworfenen Übersetzungen in Englisch und Deutsch. Es geht um die Geschichte von Fritz, der sich von seiner Mutter nicht geliebt füllt. Ein vorgetäuschter Selbstmord soll die Liebe der Mutter auf die Probe stellen. Einerseits wird dem Publikum ein hoch-komplexer Text geboten mit großartigen Darstellern, aber auf die Dauer sind das Textlesen und die teilweise extrem laute Musikuntermalung mit elektronischen Sounds etwas anstrengend. Das Publikum war begeistert, während mich ein Sekundenschlaf fast erwischt hätte.

Woche drei des Festivals brachte erfrischende und spannende neue Stücke aus Performance, Musiktheater und hochklassigen Tanz. Dazu schien am letzten Samstag noch einmal ausgiebig die Sonne und der Avantgarden war bei lauschigen Spätsommer-Temperaturen bis tief in die Nacht gut besucht. Sehr stimmig und bei bester Laune ging das diesjährige Festival trotz steigender Corona-Zahlen und vierter Welle zu Ende.

Avantgarden, Foto: Holger KistenmacherAvantgarden, Foto: Holger Kistenmacher

Mein letzter Samstag war voll gepackt und es begann mit einer performativen Sound-Installation der brasilianischen Schauspielerin, Regisseurin und Forscherin Gabriela Carneiro da Cunha: "Altamira 2042". Die Performance ist ein Teil einer mehrteiligen Forschungsarbeit und künstlerischen Umsetzung zum Klimawandel und der Zerstörung des brasilianischen Amazonasgebietes und seiner Flüsse, Menschen, Flora und Fauna. Ein breitgefächertes Team aus Künstler/innen, Amazonas-Bewohnern, Wissenschaftlern, Anthropologen und dem Yanomami-Schamanen David Kopenawa hat sich dazu zu einem Dialog versammelt, um seit 2013 zu erarbeiten, was Klimaschutz, Schamanismus und Kunst leisten kann, um das Amazonasgebiet und darüber hinaus die gesamte Menschheit zu retten.

Ausgangspunkt der Performance aus Sound, Tanz, Film und Dokumentartexten ist die brasilianische Stadt Altamira (115.000 Bewohner), die in der Amazonas-Region Para und dem Xingu-Fluss liegt. Seit 2011 wird dort das gigantische Wasserkraftwerk Belo Monte gebaut, welches das gesamte Xingu-Becken und seine Umwelt zerstört. Millionen von Tieren und Pflanzen, ganze Dörfer und kulturelle Erbestätten wurden schon vernichtet. In einer rituellen Form aus Soundcollagen und gemeinsamer Aktion der Performerin und den Zuschauer/innen wurde gezeigt, welche Auswirkungen dieses Großprojekt schon jetzt hat und was man gemeinsam dagegen machen kann.

Gabriela Carneiro da Cunha: Altamira 2042Gabriela Carneiro da Cunha: Altamira 2042Es begann mit einer betörend schönen Klang-Installation aus diversen LED-Lautsprechern aus Urwald-Geräuschen und Wassersounds. Bei geschlossenen Augen konnte man sich förmlich in den Amazonaswald meditieren. Doch dann brachen brutale Geräusche von Motorsägen und Holztransportern jäh in die entspannte Natur-Idylle ein. Die Erde wurde gerodet, Tiere und Pflanzen getötet und die indigene Bevölkerung brutal vertrieben. Dagegen erregte sich vielstimmiger Widerstand sowohl von den betroffenen Menschen, als auch von den spirituellen Existenzen der Erde und des Wassers, wie den Fluss-Zeugen, den Buiunas-Frauen oder den Glühwürmchen-Völkern. Dazu tanzte und führte die brasilianische Performerin rituelle Feuer- und Opfer-Aktionen aus. Am Ende wurden diverse Rasseln, Trommeln und Hammer und Meissel an das Publikum verteilt, um gemeinsam den Staudamm zu Fall zu bringen. Ein politisch, wie gesellschaftlich, aber auch spirituelles Stück Kunst, dass zwischen Erstaunen, Entsetzen und politischem Widerstand alle Perspektiven einer engagierten Kulturarbeit gegen den katastrophalen Klimawandel aufzeigte.

Danach wurde es musikalisch. Der großartige Schweizer Theaterregisseur und Bühnenbauer Thom Luz und sein fünfköpfiges Ensemble aus Musiker/innen und Schauspielern zelebrierte einen Crash-Kurs in Neukonstruktion bekannter Klavierzyklen von Felix Mendelssohn-Bartholdy und einem Auto-Unfall in den Schweizer Bergen. Langsam und in kleinen Schritten wird die sowohl musikalische, als auch motorisierte Crash-Skulptur auf die Bühne gebracht von den 5 in grauen Anzügen gewandeten Performern und Musikern. Was mit Bremsspuren auf dem Bühnenboden beginnt, endet mit einem qualmenden Auto-Wrack und einem toten Reh, welches den Unfall verursacht hat. Dazu wird die ganze Zeit der Klavierzyklus „Lieder ohne Worte“ von Mendelssohn durch das elektrische Kammermusiktrio gespielt und durch verschiedenste Hall- und Geräuschdimensionen erweitert.

Ein herrlich absurdes Theater voller philosophischer Anspielungen, komischer Slapstick-Einlagen und musikalischer Finessen. Die wunderbare Musik wird überlagert von wüsten Diskussionen und der sich langsam zusammensetzenden Blech-Katastrophe. Am Ende entsteht eine filigrane, minutiös durchdachte Raumkomposition. Mit viel Humor, großartiger Musik und absurder Theaterarbeit gelingt Thom Luz mal wieder ein Musiktheater-Stück der Extra-Klasse.

Thom Luz: 'Lieder ohne Worte', Foto: Holger KistenmacherThom Luz: 'Lieder ohne Worte', Foto: Holger Kistenmacher

Und zu guter Letzt gab es noch in der großen Halle K6 ein sehenswertes Stück modernen Tanzes zwischen klassischem Ballett und Street-Dance: Requiem: „Fire in the air of the Earth“ von A.I.M. des Choreografen Kyle Abraham. Ausgehend von Mozarts berühmten Requiem hat die amerikanische Elektro-Ikone JLIN (Jerrilynn Patton) das Trauerstück dekonstruiert und mit Techno-Rhythmen neu überarbeitet. In einem herrlichen Bühnenbild mit wunderbaren Licht-Effekten und Kostümen des englischen Designers Giles Deacon zaubert der schwarze Choreograf Kyle Abraham ein Tanzstück auf die Bühne, in dem es sowohl um Wiedergeburt und Reinkarnation nach der „erschütternden Pandemie“, als auch um Rassismus und Black Futurism geht.

Sein überwiegend schwarzes Ensemble aus erstklassigen Tänzern und Tänzerinnen überzeugt sowohl mit klassischem Balletttanz, wie auch mit modernen Ansätzen aus HipHop und Streetdance-Elementen und Humor. Dynamische wie auch klassisch-elegante Figuren in Solos, Duos oder als Gruppe sind wunderbar punktgenau auf die Musik von JLIN gesetzt. Ein mitreißender Abschluss, der in voller Berechtigung mit tosendem Applaus bedacht wurde.

A.I.M. by Kyle Abraham, Foto: Holger KistenmacherA.I.M. by Kyle Abraham, Foto: Holger Kistenmacher

Man muss sich bei Andras Siebold, dem künstlerischen Leiter des Festivals und seinem gesamten Team bedanken, dass es ihnen erneut gelungen ist, ein abwechslungsreiches, innovatives und künstlerisch auf höchstem Niveau beruhendes Sommer-Festival trotz typischem Hamburger Schietwetter und Corona-Pandemie auf die Beine gestellt zu haben. Hoffen wir einmal gemeinsam, dass die Pandemie im nächsten Jahr und das Wetter sich von einer anderen Seite zeigt, um ein entspanntes und spannendes Festival 2022 zu ermöglichen. Man sieht sich bestimmt wieder.

Kampnagel Hamburg: Sommerfestival in Coronazeiten und im Regen

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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