Der 'Avantgarden' auf Kampnagel, Foto: (c) Holger Kistenmacher

Kampnagel Hamburg
Sommerfestival in Coronazeiten und im Regen

Zum zweiten Mal muss das Sommerfestival in Hamburg unter Corona-Bedingungen stattfinden, und auch das typische Hamburger Schmuddelwetter zu Beginn sorgt nicht gerade für ausgelassene Festivalfreuden.

Natürlich kommt dementsprechend auch ein etwas abgespecktes Programm zur Aufführung. Doch trotz aller äußerer Widrigkeiten ist es Festivalleiter András Siebold und seinem Team gelungen, ein anspruchsvolles, interdisziplinäres und ausuferndes Programm zwischen Avantgarde und Schweizer Mundart zusammen zu stellen.

Los ging es mit einer wunderbar intimen Konzert-Präsentation der kanadischen Sängerin Feist, die ihr neues Album „Multitudes“ im kleinen Kreis vor ca. 200 Zuschauer/innen auf Pappkartons präsentierte. Ein bisschen Lagerfeuer-Stimmung lag in der Luft, als die Folk-Pop-Sängerin ihre winzige runde Mini-Bühne inmitten des Publikums betrat. Da der Zuschauerraum nicht abgedunkelt war, kommt eine gewisse Nähe und Intimität zwischen Publikum und Performern auf. Und genau darum geht es Feist in Zeiten von Corona - nämlich die Rückeroberung der Bühne gemeinsam mit den Zuhörerinnen.

Feist, Foto: (c) Holger KistenmacherFeist, Foto: (c) Holger Kistenmacher

Obwohl sie Titel wie „Everybody is on their own“ (Jeder ist allein) singt, spürt man doch sehr bewußt das Gemeinschaftsgefühl, das sich breit macht. Dafür sitzt man quasi mit der Sängerin fast gemeinsam auf der Bühne, wenn sie nur von der eigenen Gitarre begleitet ihre sanfte, zarte, aber glasklare Stimme erhebt. Häufig sampled sie sich selbst und begleitet sich damit im Chor. Dann kommen ihre beiden Musikbegleiter, die Multiinstrumentalisten Todd Dahlhoff und Amir Yaghmai zu ihr an die Bühne. Die Musik wird elektronischer, druckvoller und fast schon rockig. Die Elektrogeige, Bass, Synthesizer und E-Gitarre kommen zum Einsatz.

Während im Hintergrund Fax-Geräte und Drucker unaufhörlich Papier produzieren und zwei verspielte Kameramänner alles zwischen Boden, Handtaschen, Schuhen und Decken ablichten und gleichzeitig auf die Wände projizieren, singt Feist gegen ihre eigene aufgenommene Stimme an: „I'm not a persons Sweater“. Am Ende verläßt sie die Mini-Bühne, auf der sie sich zwischenzeitlich gerekelt hat, und öffnet den Vorhang zur großen leeren K6-Halle, die mystisch beleuchtet ist. So wird der Blick in den eigentlichen Zuschauerraum frei und dem Publikum wird klar, wie intim die vorherige Show eigentlich war.

Dabei hat Feist sowieso Großes vor: an insgesamt 5 Tagen gibt sie jeweils 2 Konzerte, summa summarum 10 Auftritte - reife Leistung und wahrlich eine Zurückeroberung von Musik und Publikum.

'The Hidden Cameras', Foto: (c) Holger Kistenmacher'The Hidden Cameras', Foto: (c) Holger Kistenmacher 
Derweil ist es draußen im quietschbunten "Avantgarden" trotz kühler, nieseliger Witterung etwas voller geworden. Man fühlt sich wie auf einem etwas schrägen Spielplatz für Groß und Klein. Auf der kuscheligen Waldbühne schmettert „The Hidden Cameras“ im Goldglitzer-Anzug seine schmissigen Lieder unters Volk, das auf Steinen und auf Plastikplanen knutscht und schunkelt. In der hinteren Ecke machen sich diverse Leute bereit, mit ihrem Krachkisten-Orchester ordentlich Gefiepe und Geschrammel zu produzieren, während sich das amüsierte Volk an einer bezaubernden Luftballon-Maschine austobt. Es gibt Speis und Trank und viel Gelächter.

In den Hallen selbst bestimmt Schweizer Mundart und blutiges Splatter-Theater der grotesken Form aus Norwegen das Programm. Suzy Wang lässt es komödiantisch wieder richtig krachen, während Star-Theater-Macher Christoph Marthaler die verschrobenen Texte von „Schimmel-Künstler“ Dieter Roth mit Gesang und einer Bühne in Form einer Apotheke präsentiert: „Das Weinen“.

'Das Weinen', Foto: (c) Holger Kistenmacher'Das Weinen', Foto: (c) Holger Kistenmacher

Aber auch die nächsten beiden Wochen haben es noch so richtig in sich. Vor allem Freundinnen des modernen Tanz kommen noch so richtig auf ihre Kosten. Der US-Tänzer und Choreograf Kyle Abraham gilt als Meister der Vermischung von HipHop, Streetdance, Ballett und Ausdruckstanz. Mit „Requiem - Fire in the Air of the Earth“ wirft er eine explizit schwarze Perspektive auf den Klassiker der westlichen Trauermusik: Mozarts Requiem in futuristischer Version mit Clubmusik der Avantgardistin Jlin.

Es folgen das „Ballet National Marseille - la Horde“ mit einer Frischzellenkur für den Tanz: Das Kunstkollektiv (La)Horde zeigt mit vier Arbeiten von Tanzikone Lucinda Childs, der Expressionistin Tania Carvalho, der Voguing-Größe Lasseindra Ninja und der Sozialrealistin Oona Doherty eine großartige Feier des zeitgenössigen Tanzes.

Auch das neue Stück der Theaterkunst-Spezialistin für seelische Abgründe „Giselle Vienne“: Der Teich, nach Texten von Robert Walser als Kammerspiel mit zwei Star-Schauspielerinnen dürfte ein besonderes Ereignis werden.

Foto: (c) Holger KistenmacherFoto: (c) Holger KistenmacherGespannt bin ich ebenfalls auf die Performance von „Miet Warlop“: After all Springville, eine Weltpremiere, die als anarchisches Theater-Happening über das tragische Scheitern einer Gemeinschaft mit einem laufenden Tisch, einem bunten rauchenden Häuschen und einem frustrierten Sicherungskasten angekündigt ist.

Dazu natürlich noch viel buntes Programm im "Avantgarden" auf drei Bühnen ohne Ticketkosten und im Solicasino, dem "Migrantpolitan", sowie diverses Programm in der Weite der Hansestadt Hamburg. Es gibt thematische Spaziergänge, Podiumsdiskussionen und Gespräche, aktuelle Vorträge, Konzerte in der Elphi oder im „Übel und Gefährlich“, eine Ausstellung von Dieter Roth und vieles mehr im Kaufhof, in der St. Katharinenkirche oder an den Magelan-Terrassen.

Also nicht vom Wetter aufhalten lassen und auf zum Sommer-Festival auf Kampnagel in Hamburg. Das Festival läuft noch bis zum 22. August. Infos über Programm und Tickets im Internet unter www.kampnagel.de oder per Tel.: 04027094949.

Viel Spass und trockene Füsse wünscht Holger Kistenmacher!

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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