Ieva Prudnikovaite (Carmen), Changjun Lee (Zuniga), Konstantinos Klironomos (José), Chor und Extrachor des Theater Lübeck, Foto: Jochen Quast

Theater Lübeck
Carmen wie auf dem Röntgen-Bild

Zunächst das Wort zum Sonntag: In der aktuellen Produktion werden Farben und Facetten gnadenlos zusammengestrichen. Wenig geschieht hier im Zwischenraum der Extreme von schwarz und rot, verrucht und brutal.

Ja, Georges Bizets Carmen handelt von einem Femizid. Und ja, es ist absolut legitim, diese ohnehin schon bestimmende Facette der Vorlage zur allesbestimmenden einer Inszenierung zu machen. Denn die Assoziationen, die Carmen mit ihrer Habanera hervorruft, sind doch im Allgemeinen vielfarbige, von spanischem Temperament, von quälend großer, vor allem aber: schicksalhafter Liebe – und von schicksalhaftem, durchaus vonseiten Carmens provoziertem Tod. Und dabei setzt sich dieses „Schicksalhafte“ still und leise ab und führt seine eigene, femizidverharmlosende Existenz. Eine zwischenzeitliche Reduktion auf das Wesentliche geschieht da ganz recht.

Ieva Prudnikovaite (Carmen), Changjun Lee (Zuniga), Konstantinos Klironomos (José), Chor und Extrachor des Theater Lübeck, Foto: Jochen QuastIeva Prudnikovaite (Carmen), Changjun Lee (Zuniga), Konstantinos Klironomos (José), Chor und Extrachor des Theater Lübeck, Foto: Jochen Quast

Die Frage ist ja: Was kann diese Inszenierung darüber hinaus noch sein?
Da ist zunächst einmal das Bühnenbild (Dieter Richter), das einem bei aller Reduziertheit dank kompositorischer Finesse fast schon cineastische Bilder schenkt. Mit wenig Mitteln und viel Licht (Falk Hampel) wird hier minimalistische Ästhetik geschaffen, die den darstellenden Raum wirken lässt - so viel Raum, dass ihre gewollt holzschnittartigen Charaktere sich zuweilen ganz schön strecken müssen, ihn zu füllen. Schon an den verwechselbaren Kostümen wird deutlich: Hier steht nicht eine Frau einem Mann gegenüber, sondern das Männliche dem Weiblichen. Die zarte Micaela (gewohnt stimmschön: Evmorfia Metaxaki) ist letztlich doch nur die andere Seite der Carmen-Medaille.

Da sind Hauptdarstellerin und Hauptdarsteller, die sich der schauspielerischen Herausforderung, die immer selbe Seite ihrer hochgradig toxischen Beziehung in immer neuer Art zu präsentieren, mit großer Ambition und Können widmen. Diese Carmen (Ieva Prudnikovaite) holt alles heraus, was ihre bloßen Beine und Stimmbänder an Verruchtheit in sich tragen, wie um zu sagen: Und trotz Allem, trotz meines ach so unmoralischen Verhaltens, bleibt der Mord an mir ein Femizid. Schattierungen der Sinnlichkeit gibt es hier keine.

Konstantinos Klironomos (José), Evmorfia Metaxaki (Micaëla), Foto: Jochen QuastKonstantinos Klironomos (José), Evmorfia Metaxaki (Micaëla), Foto: Jochen Quast

Ihr José (Konstantinos Klironomos) leidet durchweg in pathologischer Weise und unter Aufbietung aller stimmlicher Gewalt, die sich alsbald schon auch physisch entlädt. Es ist ein José, der kaum charakterliche Entwicklung erfährt und der deshalb auch weniger tragisch daherkommt als man es gewohnt ist. Das Messer ist von Anfang an dabei. Der erste Mord an seinem Offizier Zuniga (Changjun Lee) schon im zweiten Akt. Sein getriebener Blick, wenn Carmen sich lustvoll unter Escamillo windet, jagt Schauer durch die vorderen Reihen. Von vornherein kommt hier kein Zweifel auf, dass dieses Techtelmechtel ein abscheuliches Ende finden wird. Fast könnte man gewillt sein, diesen José als Psychopaten abzustempeln, aber das wäre schade, denn dann würde die Tatsache, dass ein Femizid oft genug aus heimtückisch alltäglicher Richtung zustößt, ja wieder entschärft.

Da sind Regie-Ideen (Philipp Himmelmann), die einem eindrücklich ins Gedächtnis rufen, was das Spiel auf der Bühne ausmacht: dass es echt ist. Der kurze Schrecken, der einen packt, wenn sich der von hoch oben herabgeworfene Degen mit sattem Laut so tief in den Bühnenboden bohrt, dass sein Besitzer, der Torero (beeindruckend: Jacob Scharfman) ihn mit ganzem Körpereinsatz herauswuchten muss. Die Frage, wer solche Löcher später stopft. Ob die in den Orchestergraben segelnden Spielkarten eigentlich beim Musizieren stören. All dies verfängt.
Da ist der Bühnenboden, der sich im Wirbel der verratenen (und verratenden) Gefühle dreht und die Singenden nicht nur stimmlich zu akrobatischen Einlagen treibt.
Da sind 20 Quadratmeter rotes Tuch (oder Red Flag?), die nur scheinbar vor neugierigen Blicken schützen. Und da ist jener, der dieses Tuch wie kein anderer zu schwingen weiß und dessen prachtvolle Torero-Tracht (Kostüme: Meentje Nielsen) in all der Tristesse fast schon als Karikatur erscheint. Überhaupt ist Escamillo all das, was José in dieser Carmen nicht sein darf und das versöhnt auch uns im Gestühl.

Ensemble, Foto: Jochen QuastEnsemble, Foto: Jochen Quast

Da ist ein Stefan Vladar, dem man, wie so oft, anmerkt, dass er eine ganz bestimmte Idee verfolgt. Dass diese darin besteht, eine ohnehin schon kurze Carmen durch rasante Tempi noch zu straffen, fördert das Erlebnis häufig. Das Schmuggler-Quintett gerät dann auch zu einer Meister:innenleistung in Sachen stimmlicher Präsizion (auch insgesamt überzeugend: Delia Bacher und Andrea Stadel als Mercedes und Frasquita).

Beim minutenlangen Applaus darf Klironomos dann endlich auch mal lächeln. Und schließlich ist da ein durchschnittlich ungemein junges Publikum, dass angeregt diskutierend und trotz aller Reduziertheit die Habanera pfeifend das Haus verlässt. Wie erfüllend kann doch mutiges Theater sein.


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