Shakèd Bar (Rossane), Maria Elena Pepi (Mirena), César Cortés (Orconte)

Theater Kiel
Barocke Oper und Urban Dance – Jungbrunnen für Alessandro Scarlattis „Il Cambise“

Mit der Aufführung von Alessandro Scarlattis „Il Cambise“ ist Kiels Oper etwas Besonderes gelungen.

Eine Reihe von barocken Werken stand dort schon auf der Bühne. Zuletzt war es 2019 Bekanntes wie Monteverdis „Krönung der Poppea“ (UA 1643) oder im Jahr davor Rares wie Legrenzis „La divisione del mondo“ (UA 1676). Immer gelang es, das Barocke musikalisch lebhaft, vor allem jedoch optisch spektakulär zu präsentieren. Jetzt, am 8. Mai 2022, folgte die Annäherung an eine Oper, die erst noch entdeckt werden will. Hierbei wagte das Opernhaus noch mehr, belebte den alten Corpus mit einem eigentlich wesensfremden Atem, dem Urban Dance.

„Il Cambise“, in Kiel um „Geliebter Feind“ im Titel erweitert, ist bislang nur einmal inszeniert worden und das vor 303 Jahren, am 4. Februar 1719 am Teatro San Bartolomeo in Neapel. Alessandro Quarto, Spiritus Rector und zugleich musikalischer Leiter dieses musikalischen Ereignisses, hat das Aufführungsmaterial erstellt. Sein Fund stammt ebenfalls aus Neapel, aus der Bibliothek des dortigen Musikkonservatoriums. Das, was jetzt zumindest als eine deutsche Erstaufführung präsentiert wurde, enthält zudem noch Zwischensätze aus Scarlattis „12 Sinfonie di Concerto grosso“ und aus einer Serenata. Scarlatti war ein fleißiger Opernkomponist. Dies ist seine vierzigste, doch zugleich letzte. In ihr hält er sich nur teils an Hergebrachtes, nutzt zwar die Polyphonie, weist dennoch in vielem stilistisch über seine Zeit hinaus. So findet sich weniges im starren Prinzip der üblichen Da-capo-Arie, dafür gibt es etliche Ensemble-Formen bis hin zum Quartett. Zudem ist das Ernste mit dem Heiteren vermischt und die zwei komödiantischen Intermezzo-Figuren in das seriöse Geschehen eingefügt.

Der Librettist Domenico Lalli, der eigentlich Sebastiano Biancardi heißt, hatte seinen „Helden“-Stoff wie im Barock üblich in alten Zeiten gefunden, im sechsten Jahrhundert vor Christus. Herodot erzählt davon, auch von der Schlacht auf dem Sinai, die als Vorgeschichte diente. Bei ihr haben die Perser unter König Cambise (vielleicht besser bekannt als Kambyses II.) im Mai 525 die Ägypter bekriegt und besiegt und es begann damit im Land der Pharaonen die erste Perserherrschaft. Aber das wäre noch kein Opernstoff. So folgt die Opernhandlung des Weiteren mehr Lallis dramatischem Instinkt als Herodot. Denn hätte Cambise nicht den Pharao, sein Name Psammetich III. sei aus Gründen der Vollständigkeit eingefügt, im Kampf erschlagen und hätte der das Bild seiner jüngsten Schwester, der Prinzessin Mirena, nicht mit sich getragen, hätte Cambise es ihm nicht rauben können und es seine Wirkung nicht entfalten können. Wie es auch in anderen Opern sich ereignet, muss auch dieses Bildnis „bezaubernd“ schön gewesen sein, so dass der Perser seinen Gefühlen folgte und als Krieger Sidaspe (und natürlich verkleidet) nach Memphis reiste. Dort war Mirandas ältere Schwester Rossane derweil Pharaonin geworden. Wie es kommen musste, verliebten sich just nun aber beide Schwestern in den zunächst geheimnisvollen Fremdling, was Böses ahnen lässt. Aber auch so wäre der Plot noch zu einfach.

Deshalb übergibt Cambise seinem General Argiro die Befehlsgewalt, allerdings mit der Weisung, Ägypten nur erneut anzugreifen, wenn Cambises (oder Sidaspes) Plan, die Hand von Mirena zu bekommen, nicht aufgehen würde. Er wollte auf dem Felde der Liebe streiten und bot Frieden, wenn Mirena sich ihm ergab. Pech nur, dass gleich zwei männliche Mitstreiter um die Gunst der Damen vorhanden waren. König Orconte von Arabien war der eine, offizieller Bewerber um die jüngere der königlichen Schwestern und auch deshalb zur Hilfe gegen Cambises kriegerische Perser verpflichtet, und Prinz Ernesto der andere. Er war bereits der Verlobte der nun gerade Herrscherin Gewordenen, der also von Rossane. Das ist nun durchaus eine vertrackte Situation, aus der sich drei Akte trefflicher Wirrung gestalten lassen.

Wirrungen sind das auch für den heutigen Opernfreund, der in Intrigen und spontanen Irrungen nicht so geschult ist. Das macht aber nichts. Denn die raffinierte Bühnenausstattung von Lena Scheerer half wie vor allem die Inszenierung von Joachim Rathke. Das Vorspiel ließ er als Schattenspiel mit inverser Farbgebung darstellen, die Figuren also weiß und alles andere im Dunklen. Dafür wurden die späteren Motivationen der Damen sichtbar, so zum Beispiel, dass vor allem Rossane dem echten Perserkönig nicht vergeben könne. Er hat ja ihren Bruder getötet, weshalb sie, dem Opernbesucher stets sichtbar, heftig trauert. Sie trägt nämlich ihren Bruder ständig im Arm, als Asche in einer Urne. Solange sie nicht weiß, dass Sidaspe der verkleidete Cambise ist, daher ihr Erzfeind, geht alles gut. Nur ändert sich das. Deshalb ist das Ende dann doch so verworren, wie eine Barockoper eben sein muss.

In Kiel besann man sich wieder auf den schon mehrmals dienlichen Effekt, die Personen zu doppeln. Was die Sänger zum Verständnis über das Wort und den Gesang an Stimmakrobatik liefern müssen, lieferten zum anderen vier Damen und vier Herren mit körperlichem Ausdruck, gestenreich und nonverbal. Wer das Bewegungsvokabular von klassischem oder modernem Ballett einigermaßen kennt, war bei ihrem Bewegungsstil dennoch verloren. Es wird unter Urban Dance subsumiert und enthält vielerlei Facetten, die sich auswahlweise und alphabetisch geordnet beispielsweise Footwork oder Hip Hop nennen, Jumpstyle, Locking, auch Waving oder Whining. Daraus hatte die Choreografin Anja Jadryschnikova mit ihren Tänzern ein Bewegungsrepertoire entwickelt, das „Ausdruck von Emotionen“ und zugleich zeitlos ist. „Und ob diese Emotionen 300 Jahre alt sind oder von heute, spielt keine Rolle“, stellt sie im Programmheft fest.

Die meisten der Bewegungen lassen sich unmittelbar deuten. Manches vertieft den Ausdruck der Musik und hilft, der Musiksprache Scarlattis zu folgen, dies vor allem bei den reinen Instrumentalstücken mit ihrem Versuch, Zwischenhandlungen zu illustrieren. Zu vermuten ist zudem, dass diese Art des Tanzes ein sehr junges Publikum mehr anspricht als klassisches Ballett und so möglicherweise neues Publikum anzieht. Es wäre zu wünschen. Schließlich sei angemerkt, dass ein puristisches Musizieren in historisch korrekter Form nicht Aufgabe eines Stadttheaters sein kann. In dieser Melange allerdings ist die Barocksprache mitreißend, vor allem durch die so engagierte wie differenzierte Leitung von Alessandro Quarta.

Sein vitales Dirigieren inspirierte alle, die Musiker des Kieler Orchesters wie die Sänger auf der Bühne. Darunter war der makellose, auch in der Tiefe markante Mezzo von Adriana di Paola zu bewundern. Er gab der Titelfigur Stärke und Würde, aber auch im Finale der Enttäuschung Klang, das Ziel nicht erreicht zu haben. Die beiden Schwestern unterschieden sich charaktervoll. Die Rossane gab Shakèd Bar lebendig wie klar, glaubhaft in fordernder Strenge, während Maria Elena Pepi mit ihrem schönen Mezzo die Mirena als eine empfindsame Frau zu zeichnen verstand. Soweit musste das Theater Kiel Gäste verpflichten, hatte aber auch aus dem Ensemble passende Stimmen. Darunter war wie immer Tatia Jibladze als Ernesto mit ihrem verlässlichen wie wandlungsfähigen Alt, zudem der weichere Sopran von Vigdis Bergitte Unsgård als Argiro, schließlich der lebendige Tenor von César Cortés, der Orconte Stärke und Tatkraft gab. Mit besonderem Spaß gestalteten Heike Wittlieb und Matteo Maria Ferretti ihre komischen Partien als Dienerpaar.

Kiel zeigt sich mutig und geschickt, solch einen musikalischen wie opernhaften Schatz zu heben. Das Premierenpublikum dankte dafür mit begeistertem Applaus.

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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