Johannes Merz, Sven Simon, Lilly Gropper, Will Workman

Premiere im Großen Haus des Lübecker Theaters
Wie man Kaiser der Selbstsucht wird – an Ibsens „Peer Gynt“ demonstriert

Peer Gynts irisierender Lebenswandel ist weltumfassend. Er beginnt als Schwärmer in der norwegischen Bergeinsamkeit, wird zum verstoßenen Prahlhans, Lügner, Taugenichts und Frauenheld.

Er durchläuft eine Unzahl von reich schattierten Stationen, darunter ein kurzes Gastspiel in der gespenstischen Burg der Trolle. Jahrzehnte später erlebt man ihn als Grandseigneur, der durch Sklaven- und Götterbildhandel ein beträchtliches Vermögen „erworben“ hat und es nun auf einem stattlichen Schiff herumfährt, bis es mitsamt Schiff im Meer untergeht. Sein Gewissen beginnt sich zu regen und führt zu einem Leben als sehr ‚sinnlicher‘ Prophet in der Wüste und als Altertumsforscher in Ägypten.

Er ist ein Getriebener, immer auf der Suche nach seinem Selbst. Am Tiefpunkt landet er in Kairo im Irrenhaus, wo er zum „Kaiser der Selbstsucht" wird. Es ist ein unwirklicher Ort wie einst die Trollburg. Hier zeigt sich das kreisförmige Muster seines zufälligen, zeitweise streng chronologisch geordneten Lebensplans. Grauhaarig inzwischen findet er nach abenteuerlicher Schiffsreise zurück an seinen Ausgangspunkt, findet dort auch Solveig, die Tochter eines Zuzügler-Paares. Er liebte sie einst, und sie harrte auf ihn all die Jahre. Sie ist neben Åse, seiner Mutter, die wichtigste Konstante in seinem Leben und steht diametral den peripheren anderen Frauen gegenüber, der reichen Bauerntochter Ingrid, den drei Sennerinnen, der Grüngekleideten, die ihn zu den Trollen lockt, oder der Beduinin Anitra, Tochter eines Häuptlings, die ihn kräftig ausnimmt.

Vincenz Türpe, Johannes MerzVincenz Türpe, Johannes Merz

Henrik Ibsen (1828 – 1906) hat diese irrwitzige, zum Teil sich an Vorbilder anlehnende Biografie erdacht, die in Ansätzen seiner eigenen ähnelt. Er gilt als größter skandinavischer Dichter, nannte sein Werk „Gedicht“. Das erinnert daran, dass er „Peer Gynt“ zunächst als Versroman verfasste. In seiner Dramaversion behielt er die gereimte Sprachform bei. Das ist eine der Schwächen, die dies Stück für das heutige Schauspiel schwer inszenierbar macht. Dazu ist es die Überfülle von menschlichen wie geisterhaften Figuren, der schnelle Ortswechsel und eine immense Zeitspanne von einigen Jahrzehnten.

All das fürchtete Andreas Nathusius nicht. Warum auch? Solch ein Stück ist in seiner Länge von sich aus nicht auf die Bühne zu zwingen, es muss notwendigerweise gekürzt werden. Er nutzte Peter Steins Textbearbeitung, die der zusammen mit Botho Strauß erschaffen hat. Steins Aufführungen an der Berliner Schaubühne sind legendär, seinen „Peer Gynt“ hatte er allerdings vor knapp 50 Jahren der Stofffülle wegen gleich auf zwei Abende verteilt. In Lübeck musste es unter zwei Stunden bleiben. Corona verbietet bekanntlich Pausen, und länger ist dem Publikum selbst auf den im letzten Jahr überarbeiteten Sitzen ein Verweilen nicht zumutbar. Nathusius musste daher Steins Fassung gewaltig kürzen. Was blieb, hatte dadurch wenig mit Ibsen zu tun.

Henning Sembritzki, Lilly Gropper, Will Workman, Robert Brandt, Sven Simon, Vincenz Türpe, Johannes Merz, Astrid FärberHenning Sembritzki, Lilly Gropper, Will Workman, Robert Brandt, Sven Simon, Vincenz Türpe, Johannes Merz, Astrid Färber

Wer dessen Text nicht kennt, wird Mühe gehabt haben, der Handlung zu folgen, zumal nicht nur die Hauptfigur, wie bei Stein schon vorgedacht, abwechselnd von mehreren Spielern übernommen wurde. Acht sind es in Lübeck, zwei weibliche und sechs männliche, von denen fast alle nacheinander Peer Gynt darstellen mussten. Der Vorteil für die Schauspieler liegt auf der Hand. Der immense Text der Hauptfigur musste nicht von einer oder einem allein erlernt werden. Für den Zuschauer allerdings führte das zu erheblicher Verwirrnis, da der stark verkürzten Handlung schwer zu folgen war, zudem der ständige Rollenwechsel ein Wiedererkennen erschwerte. Aber der Regisseur ist für sein besonderes Theater in Lübeck bekannt. Zuletzt inszenierte er Schillers „Räuber“, in der er Frauen beweisen ließ, dass auch sie zur Bandenbildung fähig sind.

Um Texttreue oder gar Werktreue ging es also nicht, eher um geschicktes Anpassen der Vorlage an Corona. Dabei halfen Filmeinspielungen (Thomas Lippick), stimmungsvoll Wald- und Felslandschaft auf die Bühne zu zaubern oder mit einer Handkamera die minimalisierte Wüstenlandschaft mitsamt Beduinenzelten und Kamelen groß herauszubringen. Wichtigste Bühnenrequisiten (Ausstattung: Annette Breuer) wurden ein paar schmucklose Tische und vor allem Kartons in Überfülle, die Projektionsflächen waren oder als ‚einstürzende Neubauten‘ für Bewegung auf der Bühne sorgten. Annette Breuer hatte den Bühnenzauber entworfen, auch die Kostüme, bei der viel Jeansstoff und weiße T-Shirts Hinterwäldlerisches sowie weiße Anzüge und breitkrempige Hüte sozialen Rang demonstrieren sollten.

Henning Sembritzki, Vincenz TürpeHenning Sembritzki, Vincenz Türpe 

Bei Ibsen ist das Selbst ein zentraler Begriff, in vielen Varianten benutzt. Er gibt auch der Lübecker Fassung einen roten Faden, weist auf Selbstbespiegelung bis hin zum selbstzerstörerischen und andere vernichtenden Größenwahn. Das lässt sich wunderbar auf Heutiges anwenden, wobei kurze Clips mit kindlichen Verlautbarungen wie „Wir müssen uns einfach mal am Riemen reißen“ Tiefe suggerieren sollten. Wie Moralisten hatten sie die Aufgabe, auf Themen wie Umwelt, Klima und Fehlverhalten im Sozialen hinzuweisen. Das wird dann noch in einer (viel zu) langen Nachbesinnung ausgewalzt, getarnt als Rückblick aus der Zukunft, hoffnungsvoll darin die Prophetie, dass es 2076 immer noch Theater gibt, 200 Jahre nach der Uraufführung des „Peer Gynt“. Sollte das dramaturgisch ein Gegengewicht zu dem Anfang sein, bei dem an vier Tischen vier gelangweilte Schauspieler eine halbe Stunde lang den Aufführungsbeginn abzuwarten hatten, hinter ihnen Textzitate wie „Wollen wir gemeinsam durch die Welt reisen?“ oder „Ich lege Dir die Welt zu Füßen!“?

Mehr im Kopf bleiben die schauspielerischen Leistungen und einige gut gearbeitete Szenen. Astrid Färber spielte mit, sowohl als Åse oder als sich wandelnder Tod immer präsent. Neben ihr hatte Lilly Gropper den anderen Frauen Gestalt zu geben, besonders überzeugend als Solveig, die für Peer am Schluss Mutter und Geliebte in eins wird. Henning Sembritzki bewies wieder, wie großartig er Gitarre spielen und dazu singen kann, geschickt eingesetzt nicht nur als brillanter Pausenfüller bei Umbauten.

Astrid FärberAstrid Färber

Sven Simon gab dem alten Peer Würde, während Johannes Merz, Vincenz Türpe und Will Workman durch ihre vielseitigen Aufgaben Tempo und Kraft vermittelten. Robert Brand, Spezialist inzwischen für Schräges und Groteskes, hatte einen exzellenten Auftritt als Puppenspieler. Mit vier Konterfeis an Händen und Füßen gelang eine so köstlich wie irre, zugleich artistische Selbstbefragung. Szenisch eindrucksvoll wie eindringlich war die Rückreise mit dem Schiffsuntergang, weniger der wegen der Textverkürzung kaum nachvollziehbare dramatische Überlebenskampf zwischen Smutje und Peer. Sie stellte die böse Frage, welches Leben mehr zählt, das eines Familienvaters oder das eines Einzelnen, eines zahlenden Passagiers.

Ibsens Stück ist merkwürdig modern, das offenbarte diese lebhafte, ein wenig lautstarke Inszenierung unzweideutig.

(Grundlage des Berichtes ist der Besuch der zweiten Premiere am 13. September)

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

Sie haben keine Berechtigung hier einen Kommentar zu schreiben.