Foto: Hildegard Przybyla

MuK Lübeck
Großartige musikalische Märchenerzählungen und ein Bratschen-Konzert zum Saisonfinale der Philharmoniker

Besonders gestaltete, in sich beziehungsreiche Programme kennzeichnen diese Saison. Das setzte sich auch im neunten, dem Abschlusskonzert fort. Hier rahmten zwei musikalische Märchenerzählungen den Höhepunkt des Abends, Paul Hindemiths „Der Schwanendreher“, selbst ein Werk, das einen vielsinnigen, epischen Hintergrund besitzt und Vergangenes wachruft, Gutes wie Arges. Und noch eines verbindet alle Kompositionen. Sie sind äußerlich besondere Klangerlebnisse, schön zu hören, dennoch klingt bei allen ein ernster, eher melancholischer Hintergrund durch.

So ist zu Beginn Antonín Dvořáks „Die Mittagshexe“ ein Werk, das sich auf eine tschechische Volksballade bezieht, deren böse Titelfigur für den Tod eines Kindes verantwortlich wird. Eine durch ihre Hausarbeit entnervte Mutter ruft sie herbei, den ungezogenen Sohn zu disziplinieren. Der zum Mittagessen heimkommende Vater findet seine Frau besinnungslos am Boden, das Kind in ihren Armen erdrückt. Man kann Dvořáks Werk hören, ohne Karl Jaromír Erbens Text zu kennen, den er als Vorlage benutzte. Die Spannung zwischen zwei Klangwelten ist deutlich, die zwischen dem Dudelsackspiel des Beginns, den eine Klarinette und der Bordun zweier Fagotte imitieren, hin zu dem bedrängenden ziehenden Ton, der zunächst aufhört, dann wieder einsetzt, bis eine andere, dramatisch wirkende Klangebene einsetzt. Sie hebt sich durch gedämpfte Streicher ab. Dieser Gegensatz wird später aufgelöst, um dann in Stufen zu einem Ende in Moll zu führen.

Das kann genügen. Liest man aber das im Programmheft abgedruckte Poem Erbens zur „Mittagshexe“, löst das erst das richtige Mithören aus. Das erklärt die Wendungen in dem Ablauf und macht sie sinnlich greifbar. Vor allem wird der Schluss verständlich, wenn der Vater zunächst fröhlich gelassen zurückkehrt und sich die Stimmung durch die wirbelnden Zitate der Hexentanzmotive in Verzweiflung wendet. Knapp 15 Minuten benötigt das Orchester für seine packende Wiedergabe, der Rasmus Baumann als Gastdirigent sinnreiche Feinheiten gab.

Eigentlich ein Konzert für die Bratsche ist Paul Hindemiths „Der Schwanendreher“, das im Untertitel „Konzert nach alten Volksliedern für Bratsche und kleines Orchester“ heißt. Es ist eines der wenigen Kompositionen für dieses Instrument, für das Hindemith aber, selbst ein virtuoser Bratscher, zum eigenen Gebrauch mehrere geschaffen hatte. Der „Schwanendreher“ wurde 1935 komponiert und mit ihm als Solist in Amsterdam uraufgeführt. In Deutschland war er, von den Nazis als „Kulturbolschewist“ bezeichnet, kaum mehr geduldet. Selbst andere Musiker wie z. B. Wilhelm Furtwängler, bekamen Schwierigkeiten, wenn sie sich für ihn einsetzten. So bekommt seine im Programmheft abgedruckte karikaturistische Zeichnung zum „Schwanendreher“ eine tiefere Bedeutung, die diesen Text enthält: „Der Schwanendreher, nachdem er hier sein Wesen getrieben, dankt herzlichst für die dabei ihm zuteil gewordene Unterstützung.“ Es unterzeichnete und datierte: „Paul Hindemith 27.I.37. “ Im gleichen Jahr emigrierte er über Frankreich nach Amerika, wo er ab 1940 an der Yale University (New Haven, Connecticut) eine Kompositionsklasse übernahm. (Erinnerungen weckt das an das achte Konzert dieser Saison, das ein Werk eines anderen Emigranten brachte, eines von Arnold Schönberg, der ebenfalls in Amerika Aufnahme fand.)

Der in seiner Bedeutung oft unterschätzte Komponist Paul Hindemith verlangt sich und dem Solisten eine Unmenge ab, technisch wie interpretatorisch. Auch hier gibt das Programmheft einige Hinweise, wie den auf das „mittelalterliche Bild“ als „Vorlage für die Komposition“. Es ist das von einem „Spielmann“ (so in der Einleitung zu Hindemiths Partitur), der „in eine frohe Gesellschaft“ mit „ernsten und heiteren Liedern“ kommt. „Nach Einfall und Vermögen erweitert und verziert er als echter Musikant die Weisen“. Dieses Bild muss der eingeladene Solist Nils Mönkemeyer sehr plastisch im Hinterkopf gehabt haben und setzte es beim Spiel in Bewegung und Klangschönheit um.

Solist Nils Mönkemeyer, Foto: Hildegard PrzybylaSolist Nils Mönkemeyer, Foto: Hildegard Przybyla

Nur ein kleines Orchester mit 21 Musikern, darunter Pauken und Harfe begleitete ihn. Es war in allen Gruppen verkleinert, bei den Streichern die brillanten hohen Violinen ganz ausgespart. So konnte sich der dunklere, weichere Klang der Bratsche durchsetzen und den Liedtexten aus Franz Magnus Böhmes „Altdeutschem Liederbuch" wunderbar angleichen, wie zum Beispiel gleich im ersten Satz „Zwischen Berg und tiefem Tal“, das einem Abschied Worte und Weise gibt. Die Bratsche beginnt, in der der Solist „als echter Musikant … präludiert“. Wie in barocker Choralbegleitung umspielt er in freier Linie die Melodie, die die drei Hörner und die Posaunen wuchtig anstimmen. Im zweiten Satz wird im ersten Teil das Sehnsuchtslied „Nun laube, Lindlein, laube!" sanft von der Harfe begleitet, während im zweiten Teil ein munteres Fugato zu „Der Gutzgauch auf dem Zaune saß" folgt. Im letzten Satz nutzt Hindemith die Technik der Variation. „Seid ihr nicht der Schwanendreher", das titelgebende Lied, ist hier der Text, geheimnisvoll wie alle. Aber unschwer ist es auf Hindemith selbst zu beziehen, auf sein Schicksal und auf die Vorkriegszeit. In der vierten Strophe nennt der Sänger im Poem sich „Calvinist“, eine sehr passende Parallele zu einer anderen historisch misslichen Polemik.

Auch wenn nicht alles an Andeutungen beim ersten Hören ankommen kann, machte die Reaktion des Publikums deutlich, dass auf jeden Fall Hindemiths Musik durch Nils Mönkemeyers bewundernswertes und mitreißendes Spiel ankam. Dem Solisten wie dem stark geforderten Orchester wurden lange applaudiert. Der Solist bedankte sich gleich zweimal mit Bach-Transkriptionen aus den Suiten für das Solocello.

Nach der Pause folgte auf das gleichsam filigrane Hindemith-Konzert Alexander Zemlinskys „Die Seejungfrau“, ein prächtig instrumentiertes Orchesterwerk (allein 6 Hörner!), das die Lübecker Philharmoniker nur mit einer Reihe von Gästen und den Mitgliedern der Orchesterakademie so farbig und qualitativ gut bewältigen konnten, vielleicht so wie Zemlinsky es sich gewünscht hätte und wie sein Freund, Schüler und Schwager Arnold Schönberg es ihm mit „Pelléas et Mélisande“ (nach dem Schauspiel des belgischen Dichters Maurice Maeterlinck) gleichtun wollte. Zemlinskys Vorlage dagegen war das Kunstmärchen Hans Christian Andersens (1837), das auf der Sage der Undine basiert, eine der späteren Nachfahrinnen der Sirenen.

Foto: Hildegard PrzybylaFoto: Hildegard Przybyla

Weshalb diese beiden Werke zusammen genannt werden, hat einen äußeren Grund. Sie waren beide etwa zur gleichen Zeit (1902/03) entstanden, wurden beide am 25. Januar 1905 vom Wiener Musikverein uraufgeführt, beide von Alexander Zemlinsky dirigiert. Schönbergs Werk hatte großen Erfolg, Zemlinskys fiel durch, verschwand für Jahrzehnte von den Bühnen, tauchte erst 1984 wieder auf. Dabei ist Zemlinskys Werk heute sehr publikumswirksam, wie sich auch bei diesem Konzert bestätigte. Der engagierte Auftritt der Lübecker Philharmoniker, die sich offensichtlich unter Rasmus Baumanns präziser, zugleich inspirierender Leitung wohl fühlten, bescherte ihnen langen Applaus.

Wehmütig wurde das Saisonfinale zusätzlich durch einen blumenreichen Abschied. Für die lange schon, wohl 40 Jahre, als Hornistin dem Orchester angehörige Karyn Dobbs war das Konzert ihr letzter Dienst. Sie durfte sich freuen, dass ihr Instrument in allen drei Werken des Abends eine besondere Rolle spielte. Auch wir wünschen ihr von dieser Stelle aus recht viele und schöne Jahre!


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