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Beim 8. Konzert der Lübecker Philharmoniker: ein außergewöhnliches Programm

In Zeiten von „Reichsbürgerprozessen“ und anderem, in denen viele Mitmenschen offensichtlich vergessen haben, wie die Welt bei uns vor 80 oder 90 Jahren ausgesehen hat, ist solch ein Programm, wie es die Lübecker Philharmoniker in ihrem achten Saisonkonzert boten, mehr als angemessen.

Es zeigt, dass wenigstens Musik keinesfalls unpolitisch ist, dass sie Nachsinnen in die richtige Richtung steuern kann. Sie kann vor allem im Melodram die verbale Mitteilung emotional ummanteln und dadurch vertiefen. Gleich zwei in Österreich geborene Komponisten waren im ersten Teil mit einem Werk dieser Gattung zu hören, beide Opfer der damaligen Verhältnisse. Der eine, der jüngere, büßte mit seinem Leben, der andere hatte das Glück, rechtzeitig emigrieren zu können.

Musikwerke müssen nicht immer lang sein. Die Kürze ist zum Aufrütteln, zum Erwecken von verdeckten Erinnerungen wirksamer. Wieder einmal bewies das Arnold Schönbergs „Ein Überlebender aus Warschau“. Das Stück greift an, so, wie es der Rezensent vor einigen Jahrzehnten erstmals erfuhr und wie es etliche der Zuhörer bei dem Montagskonzert der Lübecker Philharmoniker (3. Juni 2024) vielleicht erstmals erlebten. Gleich anfangs reißt ein schrilles Trompetenmotiv die Aufmerksamkeit an sich, ein Trommelwirbel folgt, beide unbedingte Achtsamkeit fordernd, so wie beides nicht nur in Musikstücken oft missbraucht wurde. Was folgte, dauerte nur knappe sieben Minuten, lief in einer hoch gespannten, grellen Sprache ab. Einen immer größer werdenden Sog entfaltete das, was ein Augenzeuge von einer gnadenlosen Vernichtung in einem Ghetto weitergeben konnte. Merkwürdig still war es danach. Langsam nur, wie um Verzeihung bittend, setzte Beifall ein, für den Sprecher, den Männerchor und für das Orchester. Für beide hatte Schönberg, der so bedingungslose Vertreter der atonalen Wiener Schule, 1947 dieses außergewöhnliche Werk geschrieben. Es ist seine fulminante Auseinandersetzung, vielleicht Abrechnung mit dem, was ihn bewogen hatte, nach 1933 vom Katholizismus zum jüdischen Glauben überzutreten. Schließlich war er nicht nur familiär jüdischer Herkunft, mehr noch im Bewusstsein. Ein Briefzitat, schon aus dem Jahre 1923, belegt das. Das, was er damals im Hader mit dem Maler Kandinsky hätte lernen müsse, sei, dass er „kein Deutscher, kein Europäer, ja vielleicht kaum ein Mensch“ sei, sondern, „dass ich Jude bin“. Er emigrierte über Paris nach Amerika, wurde 1940 amerikanischer Staatsbürger und lehrte bis 1944 an der University of California, bis er 1951 im Exil verstarb.

Auch das nächste Stück weckte Gedanken, die sich nicht nur mit der Musik beschäftigten. Es war eine Komposition Viktor Ullmanns, 1944 komponiert. Wie Schönberg wurde er in Österreich geboren, wurde sogar dessen Schüler und instrumentierte Werke von ihm. Manches verband sie, nur das nicht, als Juden die Nazizeit überleben zu können. Als Prag, wo Ullmann zu der Zeit lebte, im März 1939 besetzt wurde, gelang es ihm nicht, die Stadt zu verlassen. Er wurde stattdessen 1942 mit seiner Frau ins Theresienstädter Konzentrationslager gebracht. In dem zynischen „Musterlager“, in dem die Nazis der Welt ein Leben voller Freiheiten für die Juden vorgaukelten, übernahm er ein „Musikstudio“, betätigte sich als Journalist und komponierte u.a. „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“. Als Textgrundlage diente ihm Rainer Maria Rilkes weithin bekannte Erzählung aus dem Jahre 1899. Sie wurde 1912 durch die Veröffentlichung in der Insel-Bücherei zunächst im Ersten, dann auch im Zweiten Weltkrieg als Soldatenlektüre in unzähligen Tornistern gesteckt. Aus dem fertigen Particell spielte er, selbst Pianist, im Lager noch die Uraufführung, begleitete den befreundeten Sprecher, der vor ihm den Weg in die Gaskammern von Auschwitz anzutreten hatte. Ullmann musste zusammen mit seiner Frau nach knapp drei Wochen folgen, als die zweite Aufführung schon angesetzt war. Aus dem Particell konnte er nur wenige Seiten für die Partitur fertigen. Was in Lübeck zu hören war, war eine erst Jahrzehnte später sorgfältig instrumentierte Fassung von Henning Brauel, der Stefan Vladar und das Orchester einen sensiblen Klang gaben.

Ullmanns Musik fesselte. Sie konnte wunderbar die fast impressionistischen Stimmungen wie auch die expressiven Partien einfangen und gab dem bildhaften Text durch die Musik sehr attraktive Partien. Fast mehr noch bei ihr als bei dem „Überlebenden aus Warschau“ entfaltete sich dabei die Stimme von Klaus Maria Brandauer, den Stefan Vladar für den Sprecherpart gewinnen konnte. Obwohl er mit heute 81 Jahren die bösen Zeiten nicht mehr bewusst erlebt hatte, steht er dem Graus doch deutlich näher. Grandios formte er die verschiedenen Ebenen bei Schönberg, gab vor allem dem wütenden Feldwebel seine stimmliche Unmenschlichkeit. Sehr viel sensibler konnte er die verschiedenen Stimmungen in Rilkes Text einfangen, so dass auch der sich beeindruckend entfaltete.

Nach der Pause entließ Johannes Brahms die Zuhörer mit seiner weit stimmungsvolleren Klangkunst. Mit seiner dritten Sinfonie, mit dem Hin und Her zwischen Dur und Moll, der Feinarbeit im Satz und der weit schwingenden Thematik schien Vladar in eine beruhigende Welt zurückführen zu wollen. Man konnte nur staunen, welch andere Ausdrucksdimensionen durch das gleiche Medium sich entfalteten. Der lange Beifall bewies, dass dies ankam. Beide Welten hatten das Publikum mitgenommen.

Fotos: Hildegard Przybyla

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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