In der Aufführung „CirQles II“ wird jongliert, getanzt, gestritten und gesungen, dass es eine Freude ist. Einer dieser Anlässe, bei dem die Zeit viel zu schnell vergeht.
Moment, was soll das heißen? Kennen wir Zeit nicht als etwas Absolutes, immer gleich Getaktetes? Eine Stunde ist eine Stunde ist eine ... und ehe man sich’s versieht, ist man mitten in der philosophischen Debatte. Die läuft wie eine zweite Spur neben den Performances her; man kann sie verfolgen, muss es aber nicht. Denn die Cirque-Nouveau-Stückchen sind auch einzeln eine runde Sache, sozusagen.
Eine Rahmenhandlung erinnert immer wieder ans übergeordnete Thema: Momos graue Herren versuchen das Guthaben der Zeitsparkasse zu mehren. Man sieht sie, die drei Figuren im unscheinbaren Business-Look, und nimmt sie doch kaum wahr, wenn man sich nicht auf sie konzentriert: eine geniale Umsetzung der Ende’schen Romanidee! So kleben sie, sprachlos, verhuscht und verbissen, am Uhrzeiger und missgönnen unsereins den Genuss.
Es sind nicht die ersten künstlerischen Darbietungen in den Ruinen der ehemaligen Werft, doch diese nehmen – und das ist eine weitere zusätzliche Ebene in „CirQles II“ – Bezug auf die Geschichte der Hallen als ältestes Industriegebiet Schleswig-Holsteins. Die erkennbar, aber nicht aufdringlich angedeutete Arbeiterkleidung jener Jahre, die Fließbandbewegungen in der Performance „Zeitraum“, die Anspielungen an ein antiquiertes Frauenbild und seine Überwindung – das Stück setzt die feinfühlige Annäherung an sein Ambiente fort, die schon in „CirQles I“ im Museumsquartier St. Annen begeisterte.
Der Zahn der Zeit hat an den Backsteinhallen genagt, das wird weder verdeckt noch beschönigt: Also gibt es sie objektiv, die Vergangenheit. Doch was genau ist Gegenwart? Die intelligente Darstellung des im Augenblick des Gesichtetwerdens schon ungültigen „Jetzt“ scheint dem Versuch in der Antike Recht zu geben, den Begriff Zeit durch die Aufdeckung innerer Widersprüche ins Reich der Nicht-Realität zu verweisen. Doch dann kommen quirlige Jungs mit ihren Bällen angetänzelt und zerstreuen alle Bedenken im Zeitraffer.
Das Spannungsfeld menschlicher Zeitdeutung wird in der „Ouvertüre“ aufgezeigt: Da erklärt einer (wie Newton) die Zeit zum absoluten Maßstab, während ein anderer auf subjektivem Zeitempfinden besteht und sich gar an Momente der Zeitlosigkeit erinnert. Übergeordnet, darauf lässt der Titel schließen, soll die aristotelische Sicht von der Zeit gelten, die sich gleich einem Kreis bewegt.
Doch wird der Umgang mit Zeit auch ganz alltagsnah vorgestellt: wie man sie verschwendet etwa. Wenn man sich in leeren Versprechungen verliert oder darauf wartet, dass etwas passiert und vor lauter Reden nicht ins Handeln kommt. Da bleibt dann auch über den Vortag nur zu sagen: „Gestern Abend haben wir dummes Zeug gequatscht.“ – „Das tun wir doch ein Leben lang.“ – „Und so vergeht die Zeit.“ – „Die wäre auch sonst vergangen.“
Dynamisch und kraftvoll treten die Jongleure auf – die bereits erwähnten Balljungs. Zuweilen übermütig, spielerisch, dann wieder konzentriert und auch selbstvergessen. Mal schießen sie die Bälle wie Kanonenkugeln gegen das ihnen verschlossene Tor, mal scheinen sie einen Sportwettkampf auszutragen, dann streiten sie um eine Frau und schließlich erwecken sie eine Statue (einen Golem?) zum Leben – immer sind sie in Aktion. Doch auch sie merken, wie die Zeit verrinnt, symbolisch lassen sie Sand auf sich hernieder rieseln, als wären sie im Stundenglas gefangen.
Auch mit dem Breakdance-Ensemble, das Aufbruch und Umbruch symbolisiert, und dem Cyr-Wheel-Artisten begegnet man Künstlern wieder, die schon in „CirQles I“ überzeugt haben. Die Tänzerinnen, die im Museum madonnengleich auftraten, hieven hier als Ausführende der Industrialisierung die Weltkugel auf den krumm gearbeiteten Rücken und lassen nebenbei Newton’s Kugelstoßpendel klacken: Technik und Arbeit und Kraft und Grazie und Anmut vermischen Historie und gegenwärtige Nutzung des Werftgeländes.
Eindringlich verdichtet wird die Wirkung der einzelnen Akte von „CirQles II“ durch die Livemusik: Gesang, Klarinette, Percussion und Cello wühlen auf, fordern gleichmäßigen Arbeitstakt oder steigern Versunkenheit. Wie viel Zeit, kann man sich fragen, muss ein Künstler wohl für Vollkommenheit investieren?
Verweile doch, du bist so schön! Das hätte man zu jedem Augenblick der Aufführung „CirQles II“ sagen mögen – und hätte sich schon in einen Widerspruch verstrickt. Denn das Stück lebt von seiner Vielfalt, seiner Lebendigkeit, und derlei Bewegendes gibt es nun mal nicht ohne das Fortschreiten der Zeit.
Dem Theater Combinale ist erneut ein großer Coup gelungen, an dem viele virtuose Künstler/innen beteiligt sind. Ganz leicht angedacht, so ist zu hören, soll ein dritter Teil sein. Hoffen wir, dass auch diese Idee Gestalt annimmt. Es gibt noch viele ebenbürtige Herausforderungen. Träume zum Beispiel!