Ein großartiges Programm der eher nachdenklichen Art hatte der NDR den Besuchern zur Saisoneröffnung angeboten. Und es hinterließ, der Beifall verriet es, ein stark beeindrucktes Publikum. Das gilt sowohl für den eher ruhigen und spätromantischen Anfang als auch für den hochdramatischen zweiten Teil mit seiner neueren, expressiven Tonsprache. Bei beiden war Tod und Vergänglichkeit das gemeinsame Thema.
Zunächst waren Richard Strauss‘ „Vier letzte Lieder“ zu hören. Sie sind der Abschied eines über viele Jahrzehnte sich im Stil und seiner Haltung treu gebliebenen Tonschöpfers. 1949 starb er, 85 Jahre alt. In den zwei Jahren zuvor waren diese Lieder als sein letztes größeres Werk entstanden. Das erste Lied, „Frühling“ betitelt, ist vom Text her ein Traum aus „dämmrigen Grüften“, eine Retrospektive, die sich an die Schöpferkraft von einst erinnert. Hier bringt Strauss sich selbst ein, wie er auch zum lyrischen Ich im zweiten Lied wird, zum Gärtner, der im „September“ in seinem „Garten trauert“. Es endet resignierend: „Langsam tut er die großen / Müdgewordenen Augen zu.“ Im dritten Lied dann, „Beim Schlafengehen“, deutet sich bereits im Titel das Metaphysische an. Hier klingt die Musik nobel, wunderbar differenziert, aber wie aus einer anderen Welt. So auch im letzten Lied, zu dem Eichendorff-Text „Im Abendrot“. Ein einsam gewordenes Paar fragt im melancholischen Abspann: „Wie sind wir wandermüde -- / Ist dies etwa der Tod?“
Foto: Das NDR Elbphilharmonie Orchester unter Leitung von Semyon Bychkov, (c) Hildegard Przybyla
Die Texte, die Strauss inspirierten, erfassen die Welt in ästhetischer Weise, äußerlich in sehr feinsinniger Sprache, innerlich nobel dem Thema folgend. Es sind zunächst drei dreistrophige Gedichte von Herrmann Hesse (1877-1962), dem Literatur-Nobelpreisträger des Jahres 1946. Sie entstanden in dessen jüngeren Jahren, in den knappen drei Jahrzehnten von 1899 bis 1927. Auch wenn Strauss‘ Musik erreichte, alles wie einen Zyklus wirken zu lassen, ist die Liedfolge von ihm nicht so geschaffen worden. Und auch die Hesse-Texte haben eine eigene Chronologie. Deshalb ist es schließlich die Aufgabe der Interpreten, der Sängerin mit ihrer Stimme und des Orchesters mit der rauschenden Klangwelt des Komponisten, die lyrische Welt dieser Gebilde als eine Einheit zu erschaffen. Die junge schwedische Sängerin Christina Nilsson offenbarte dabei ein selbstverständliches Geschick. In allen Lagen, auch in jeder Lautstärke klang ihre Stimme bemerkenswert schön. Nie wirkte etwas aufgesetzt, im Gegenteil faszinierten die große Ruhe und die wenigen Posen, mit denen sie auskam. Bewundernswert war auch ihre Einheit mit dem erfahrenen Dirigenten Semyon Bychkov, der das Orchester beispielhaft ruhig wie differenziert leitete. Grandios erreichte er, dass die Orchesterstimmen mit ihrem Vokalklang sich verbanden, nie das eine Timbre das andere überdeckte.
Die beunruhigenden Weltkriegsjahre, die bei der Entstehungszeit der Lieder kaum vergangen waren, erlebte Richard Straus zumeist in Garmisch-Partenkirchen, sein Refugium am Ende seines Lebens. Dmitrij Schostakowitsch aber, dessen „Stalingrader Sinfonie“ im Programm folgte, litt unter den Zeitverhältnissen weit stärker. Physisch bewirkte das der Angriff auf Leningrad mit der schrecklich langen, unsinnigen Belagerung seiner Heimatstadt, psychisch waren es die Repressalien, die er wegen der rigiden Kunstpolitik Stalins erlitt. Alle drei Sinfonien, die er in der Kriegszeit schuf, die bekanntere Siebente, auch „Leningrader “ genannt, die Achte in c-Moll, mit dem Beinamen „Stalingrader“ und der eher sarkastischen Neunten in Es-Dur zum Ende der bösen Zeit, sind auch durch die Kriegszeit geprägt. Am stärksten aber reflektiert das Geschehen die Achte.
Foto: Christina Nilsson und Semyon Bychkov, (c) Hildegard Przybyla
Auch deshalb musste der NDR in seinem ersten Saisonkonzert mit einer großen, sehr differenzierten Besetzung nach Lübeck kommen. Die Partitur auszuführen war ein Klangapparat nötig, in dem alle Instrumentalgruppen zumindest vierfach besetzt waren. Während Strauss aber in den ersten Nachkriegsjahren über Tod und Abschied sehr distinguierte Töne fand, hatte nur fünf Jahre vorher Dmitrij Schostakowitsch in seiner Sinfonie all das in Klänge gepackt, was die Menschen erlitten. Ihren Gram, ihr Leid, auch ein Aufbrausen und inneres Aufbegehren ist im weiten, gespannten Prolog des ersten Satzes eingefangen. Der zweite dagegen wirkt wie eine groteske, brutale wie triumphale Marschmusik. Im Allegro des mittleren Satzes mit seinen tiefen Bratschen zu Beginn meint man ein hektisches Sammeln von Kräften zu hören, eine heftige Bewegung, aber zugleich eine in schreiender Hast. Attacca lässt der Komponist das Largo folgen, in dem eine weit gespannte Passacaglia mit großartigen Klangeffekten für eine elegische Ordnung sorgt, während der fünfte, der Finalsatz, wieder unmittelbar in großer Geste anschließt, nicht jubelnd, aber doch ein wenig hoffend.
Über eine Stunde dauerte das Werk Schostakowitschs, das wieder in exzellenter Spannung von Semyon Bychkov, wie der Komponist in Leningrad geboren, mit großer Aufmerksamkeit geleitet wurde. Großartig aber auch das Orchester, das wie auch schon im ersten Teil seine Qualität bei vielen Soloeinsätzen bewies.
Fotos: (c) Hildegard Przybyla