Alan Gilbert, Foto: (c) Peter Hundert

Die Elbphilharmoniker mit faszinierenden Klangwelten
Von fernen Sphären, Feen und Elefanten

Wieder einmal hatte Alan Gilbert für seine Elbphilharmoniker in diesem fünften Lübecker Saisonkonzert (21. Februar 2020) eine Folge von reizvollen Klangwelten zusammengestellt.

Der erste Beitrag war ein Orchesterwerk der 1961 in Seoul geborenen und jetzt in Berlin lebenden Komponistin Unsuk Chin. Nur zweieinviertel Jahr liegt die Uraufführung ihres „Chorós Chórdon“ zurück, in dem sie ungewöhnliche, das Publikum jedoch niemals überfordernde Klänge fand. Sinnvoll schloss sich die Suite aus dem Ballett „Der holzgeschnittene Prinz“ von Béla Bartók an, 100 Jahre vorher entstanden. Die markanten stilistischen Eigentümlichkeiten des Ungarn, vor allem seine rhythmischen Eigentümlichkeiten, waren für die Komponistin selbst ein großes Vorbild geworden. Das Solokonzert, gewöhnlich im Zentrum, folgte erst nach der Pause. Es war Sergej Rachmaninows drittes Klavierkonzert in d-Moll, stilistisch noch in der Spätromantik verankert. Wegen seiner ungewöhnlichen Länge und der immensen Anforderungen an den Solisten hatte kein geringerer als der legendäre Pianist Artur Rubinstein es als „Elefantenkonzert" deklariert. 1909 hatte Rachmaninow es komponiert, acht Jahre, bevor Bartók mit anderen auf dem Weg in die Moderne war.

Die Ohren wurden zumindest in allen drei Beiträgen stark gefordert. Einerseits war manches nur durch konzentriertes Lauschen zu vernehmen, andererseits mussten kaum noch zu durchdringende Klangkaskaden erfasst werden. Gleich anfangs entwickelte Unsuk Chin ihr Werk aus einem scheinbar aus unendlicher Ferne kommenden Pianissimo, bei dem selbst noch das Rascheln von Papier sich gegen das Orchester durchsetzte. Langsam realisierte sich der Klang. Die Streicher, zunächst durch Flageoletts ätherisch flimmernd, verdichteten sich später durch das Einsetzen der Bläser zu einem immer festeren Gefüge, in dem selbst melodiöse Ansätze zu hören waren. Im Programmheft war die Komponistin mit dem zitiert, was sie inspirierte. Es seien „musikalische und poetische Reflexionen über Naturphänomene und unsere physische Beziehung zum Kosmos“. Bewundernswert, mit welcher Konzentration das Orchester diese Vorstellungen verwirklichte.

In eine Märchenwelt führte Bartóks klangsinnliches Tanzspiel. Es umschreibt die Idee einer künstlerisch verlebendigenden Schaffenskraft, eines Anhaltspunktes, den auch Strawinsky fast zur gleichen Zeit in Andersens „Nachtigall“ fand. Dort ist es die Kunst des natürlichen Nachtvogels, der einem Kaiser seine Lebenskräfte zurückgibt, hier ist es der Prinz, der mit seinem Schnitzwerk, nur ein Abklatsch seiner selbst, die Liebe seiner Prinzessin nicht erwerben kann. Erst Naturkräfte in Feengestalt helfen dem Paar, zueinander zu finden. In die leider selten gespielte Suite hatte Bartók etliche der Szenen, dazu Vor- und Nachspiel übernommen. Bildhaft fingen sie die Handlung ein, vital, nie banal. Dem Orchester schenkten sie zudem eine große Zahl von im Wortsinn „fabel“haften Aufgaben. Hörner, grummelnde Kontrabässe und dumpfe Paukentremoli erweckten die Naturmacht des Waldes. Das Orchester, vor allem die Holzbläser malten den sprudelnden Fluss, ein Klangbild, wie von Smetanas „Moldau“ inspiriert. Der Klarinette wurde der kapriziöse Charme der Prinzessin anvertraut und sehr anschaulich übernahm das Xylophon den hölzernen Charakter des künstlichen Prinzen. Alan Gilbert formt all dies mit differenzierter Gestik und ließ das Orchester einen wunderbar feinen Klang entwickeln.

Yefim Bronfman, Foto: (c) Frank StewartYefim Bronfman, Foto: (c) Frank Stewart

Für das monumentale Solokonzert hatte man den 1958 in Taschkent geborenen Pianisten, seit früher Jugend in Israel lebenden Yefim Bronfman eingeladen. Er zählt zur Weltelite. Gilbert gab ein sehr flüssiges Tempo vor, zu dem der Solist staunenswert kühl, fast distanziert das erste Thema gestaltete. Selbst schwelgerische Akkordbrechungen im Zusammenspiel mit dem Orchester entwickelte er, ohne sich an dem Klang zu berauschen. So wirkte sein Spiel sehr überlegen, in fast jedem Moment den übermäßigen Klangmassen noch musikalisch Sinn gebend. Aufmerksam im Zusammenspiel mit dem Orchester, sicher begleitet vom Orchester und ebenso geleitet vom Dirigenten erlebte das Publikum eine mitreißende Wiedergabe, die nur in wenigen Momenten leichte Verwischungen erfuhr, die aber routiniert aufgefangen wurden. Bronfman vermied durch seine überzeugende, eher abgeklärte Gestaltung jegliches äußere Klangrauschen, so dass seine unglaubliche Technik das Stück auch in dieser Wiedergabe zum glanzvollen Ende führte, zu einer fulminanten Klangentwicklung im Finalsatz. Der lange Beifall wollte nicht enden, brachte aber hier nicht wie in Hamburgs Elbphilharmonie eine Zugabe. Schade war das, aber nach der ungeheuren Kraftanstrengung zu verstehen.

Sympathisch war das kleine Gerangel zwischen dem Solisten und dem Dirigenten, wem der größere Anteil am Applaus gebührte. Der Solist wusste und wollte wohl ausdrücken, dass nur solch ein sicheres und befähigtes Orchester ihm solch eine Interpretation ermöglichen konnte.

Arndt Voß
Aufgewachsen in Neumünster, in Lübeck seit 1959. Studium in Kiel und Hamburg (Musik- und Literaturwissenschaft). Ständige Mitarbeit an den Lübeckischen Blättern von 1974 bis 2014, Berichte und Kritiken darüber hinaus in einigen anderen Organen. Schwerpunktthemen: Musiktheater, Schauspiel, Konzerte.

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