Marcus Wiebusch

Kettcar überzeugen bei ihrer Lübeck-Premiere in der MuK
Und das geht so

Seit knapp 20 Jahren gibt es die Hamburger Band Kettcar, aber noch nie hatten es die Gitarrenrocker mit den intelligenten Texten geschafft, in der hanseatischen Nachbar-Stadt aufzuschlagen.

Eigentlich seltsam, denn genügend Fans hätte die Band um die beiden Brüder Lars und Marcus Wiebusch locker versammelt gekriegt, wie das sehr gut besuchte Foyer der Lübecker MuK am letzten Samstag bewies. Also entschuldigte sich Reimer Busdorf, neben Sänger und Gitarrist Marcus Wiebusch Mastermind der Band, auch gleich zu Beginn des begeisternden Auftritts voller magischer Momente. Angetreten mit großer Besetzung und fetter Licht- und Video-Show spielten die Hamburger einen Querschnitt aus alten Klassikern und den aktuellen Hits ihres Albums (2017) „Ich vs. Wir“.

Nach längerer Pause haben sie jetzt ihr letztes Konzert ihrer fast zweijährigen Tour in Lübeck gespielt, ein Konzert voll wunderbarer Anekdoten, krachender Hits und anrührender Momente mit Gänsehaut-Feeling. Und Spaß hatten alle, sowohl Musiker wie auch ein ausgelassenes Publikum jeglicher Altersstufen.

Kettcar in der Lübecker MuKKettcar in der Lübecker MuK

Nach ruhigem Beginn gab es am Anfang gleich ihr grandioses Statement zur Flüchtlingsproblematik „Sommer 89“ zu hören, eine Nummer sowohl zum Mitsingen als auch Nachdenken über Solidarität und Freiheit in Zeiten von Ausgrenzung, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus, wie er von Populisten und AfDler propagiert wird. Noch heute läuft mir jedesmal ein Schauer über den Rücken, wenn ich das Lied höre.

Aber auch die folgenden Nummern, „Benzin und Kartoffelchips“ oder „Trostbrücke Süd“ lassen es ordentlich krachen. Die fünf Musiker in klassischer Formation: Gitarren, Klavier und Schlagzeug (Erik Langer, Marcus Wiebusch, Reimer Busdorff, Lars Wiebusch und Christian Hake) hatten sich für den satten Sound noch drei Bläser angeheuert. Das kongeniale Trio aus Vancouver, Berlin und Lübeck (Philip Cindy, Sebastian Borkowsky und Jason Liebert) sorgte mit Posaune, Saxophon, Trompete, Flügelhorn und Altflöte für ordentlich Druck und Dynamik.

Kettcar feat. Philip Cindy, Sebastian Borkowsky und Jason LiebertKettcar feat. Philip Cindy, Sebastian Borkowsky und Jason Liebert

Dazu boten die LED-Wände mit aufwendigen Videos für die richtige Bühnenbemalung der prägnanten Songtexte. Wer sich Textzeilen wie „Liebe ist das, was man tut“ oder „Auf den billigen Plätzen, jetzt mal hinsetzen“ ausdenken kann, sollte sich nicht wundern, wenn der Spiegel die letzte Scheibe der Band zu „eines der kraftvollsten und wichtigsten deutschen Alben des Jahres“ zählte oder die Schriftstellerin Juli Zeh befand: „Alle reden über Flüchtlinge. Kettcar auch. Ein Song wie gute Literatur“.

Und das ist bei fast allen über zwanzig Titeln so, die Kettcar als Querschnitt über ihre Karriere aus alten und neuen Nummern zu Gehör brachten. Ob nun Liebeslieder wie Baloo, der Bär oder Kampfansagen an Dummheit und Hass mit vielsagenden Ansagen wie „Humanismus ist nicht verhandelbar“, ihre Songtexte haben immer Substanz und reichen weit über das übliche Deutsch-Pop-Gelaber diverser momentan angesagter Leute wie z.B. Max Giesinger oder Johannes Oerding weit hinaus. Ich kann sie eh meist nicht voneinander unterscheiden - alle gleich schlecht und langweilig.

KettcarKettcar

Dazwischen streuen sowohl Wiebusch als auch Busdorff immer mal wieder lustige und oft auch sehr private Geschichten aus ihrem Leben ein, wie der Moment, wo Reimer Busdorf mit seiner kleinen Tochter im Hanni und Nanni-Film sitzt und sich wie ein Päderast fühlt. Dazu fährt man auf der Video-Wand per Bus quer durch Hamburg und hört den wunderbaren Klassiker „Landungsbrücken raus“, einfach nur wunderbar.

Ein ganz besonderer Moment, sowohl für Band wie Publikum, ist die Nummer über einen homosexuellen Fußballer „Ein Tag wird kommen“, als Wiebusch die Leute auffordert, zum Refrain zu winken, um ihre Solidarität gegen Homophobie zu bekennen und der gesamte Saal mitmacht - großartig!!

KettcarKettcar

Kettcar lassen sich nicht unterkriegen, nehmen konkret Stellung in Sachen Klima-Debatte, („natürlich geht meine Tochter Freitags auf die Demo, anstatt zur Schule, und das ist gut so“) und lassen sich durch Begriffe wie „Gutmensch“ nicht beschimpfen, sondern schreiben auch noch einen großen Text darüber, wie in „Den Revolver entsichern“: „An die guten Geister, die Romantiker der Welt. An die mitfühlenden Seelen und was uns noch zusammenhält. … Oh, what´s so funny about Peace, Love and Understanding? Von den verbitterten Idioten nicht verbittern lassen.“

Nach ausführlicher, musikalischer Party und jeder Menge Spaß auf und vor der Bühne, sowie einem reichlichen Zugabenteil von weiteren fünf Nummern (u.a. Deiche) ist dann endlich Schluss, Kettcar verabschieden sich von ihrem beseelten Lübecker Publikum mit dem Versprechen, bestimmt wieder zu kommen. Wollen wir mal hoffen, dass das nicht wieder zwanzig Jahre dauert.

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

Kommentare  

# Kettcar KritikSandra Günther (05.02.2020, 17:08)
hallöchen, eine wirklich schöne konzertkritik zu kettcar, die ich glatt unterschreiben würde, bis auf eine sache. ist es nicht möglich, eine kritik zu schreiben, ohne andere künstler im vergleich zu diskreditieren? ich habe die erfahrung gemacht, dass künstler selber nicht dazu neigen, andere kollegen anzuprangern, die journalistische musikpolizei jedoch sehr gerne. ich mag kettcar, aber auch einen oerding, der sich auch klar gegen die afd stellt und sich deutlich zu der flüchtlingsfrage geäußert hat. beim letzten echo hatte er eine tolle laudatio auf fetsum gehalten und engagiert sich auch auf peacebypeace. live ist er ein toller musiker und künstler. man muss die musik natürlich nicht mögen, aber vielleicht muss man sich, auch wenn es einem widerstrebt, als journalist, tatsächlich mit den krititsierten deutschpop-jungs intensiver auseinandersetzen, bevor man sie pauschal aburteilt. nichs für ungut. weitermachen. gruß sandra
# Kettcar-KommentarAutor Kistenmacher (07.02.2020, 13:06)
Hallo Sandra, zunächst Dank für deine Kritik meines Artikels. Bezüglich der Musikerkollegen wie Giesinger oder Oerding ging es mir in erster Linie um deren Texte. Ich wollte das gesellschaftliche Engagement eines Johannes Oerding, welches ich sehr begrüße, nicht herabwürdigen. Allerdings geht mir bei den "möchtegern-sozialkritischen" Texten speziell von Giesinger, wie bei "wenn sie tanzt" ziemlich der Hut hoch, selbst wenn ich keinen trage. Die meisten der Texte, auch von diversen Kollegen von Giesinger gehen doch selten über ein reines Schlagerniveau mit ein wenig Rock-Pop-Anleihen hinaus. Andererseits will ich jetzt aber nicht die große Tüte der Allgemeinkritik aufmachen. Meine Devise: Soll doch jeder das hören, was er/sie mag.

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