Wunderbarerweise durfte ich vor Kurzem mal wieder die einzigartige Lagunenstadt für 5 Tage besuchen, um mir die größte, wichtigste und schönste Kunstausstellung für moderne Gegenwartskunst des Jahres anzuschauen. Neben all der vielfältigen Kunst aus aller Welt ist Venedig natürlich auch wieder ein Hochgenuss in Sachen Architektur, mediterraner Küche und Dolce Vita, wie einem Bad auf dem Lido und dem abendlichen Aperol Spritz bei besten Sommerwetter am Wasser. Hier mein Bericht mit ausführlichem Fototeil.
Die diesjährige 60. Biennale ist in Sachen Kunst, Politik und Ausrichtung ein Spiegel unserer Zeit und fordert zu einem Perspektivwechsel, wie auch zu so einigen kontroversen Diskussionen in der Kunstwelt heraus. Erstmals durfte ein Kurator aus Lateinamerika, der schwule brasilianische Ausstellungsmacher Adriano Pedrosas (Sao Paulo) die Großveranstaltung gestalten. Unter dem Titel „Stranieri Ovunque - Foreigners Everywhere (Fremde Überall) liegt sein Fokus in der Kunst von Minderheiten und dem Globalen Süden.
Nie zuvor wurden in Venedig so viele indigene Künstler*innen aus Afrika, Asien und Südamerika und aus der queeren Community präsentiert. Themen wie Kolonialismus, Vertreibung, Flucht, Herkunft, Gender und Unterdrückung standen in vorderster Front. Berühmte Künstler aus dem Westen sind eher Mangelware. Dafür gibt es aber eine fast unüberschaubare Anzahl an innovativer Gegenwartskunst aller Genres. Malerei, Skulptur, Installationen, Fotografie und Videos ohne Ende, dazu Tanz und Performances.
Folgerichtig wurde dementsprechend auch der Goldene Löwe für den besten Nationen-Pavillon auch an Australien vergeben, wo der indigene Aborigines-Künstler Archie Moore in monatelanger Fleißarbeit seinen Stammbaum über 65.000 Jahre an die Wände und Decke des Ausstellungsraum geschrieben hatte. Unter dem Titel „Kind und Kegel“ hat er seine Familie aus Aborigines-Völkern wie der Kamilaroi und Bigambul, sowie Großbritannien, der Heimat seines Vaters akribisch durchforstet, bis er bei Pflanzen und Tieren ankam, wie es der Vorstellungswelt seiner indigenen Vorfahren entspricht.
Gleichzeitig sind, durch einen Wassergraben getrennt, stapelweise Dokumente der australischen Behörden ausgestellt, die auf ungeklärte und ungesühnte Todesfälle von Aborigines in Gefängnissen hinweisen. Unrecht und Ausgrenzung, die First-Nations-Personen weltweit widerfahren, sind ein Leitthema der diesjährigen Biennale.
Daneben gibt es in den Giardinis, den Gärten von Venedig, wo die meisten Nationen-Pavillons ihren Standort haben, viel bunte, schrille und kontroverse Kunst zu bestaunen. Auf die Spitze getrieben hat dies der amerikanische Kurator Jeffrey Gibson, der auf seine eigene indigene Herkunft verweist, indem er das Gebäude in einer Farbexplosion aus geometrischen Formen und roten Säulen umgestaltete, wo indianische Tänze aufgeführt wurden. Im Pavillon stehen riesige Perlen-besetzte Skulpturen aus Mensch und Tier und wilde Videos zeigen Performances der verschiedenen indigenen Stämme der USA.
Wie immer arbeiten sich die Künstler*innen, die im deutschen Pavillon präsentiert werden, am alten Nazi-Bau ab. Diesmal lässt der deutsch-türkische Künstler Ersan Mondtag den Eingang mit einem Berg anatolischer Erde versperren, während er im Inneren die tragische Geschichte seines Großvaters Hasan Aygün erzählt, der als Gastarbeiter nach Deutschland kam, um in einer Berliner Asbestfabrik den sozialen Aufstieg zu suchen, aber an den Fasern verstarb.
Dazu hat die israelische Künstlerin Yael Bartana als Spiegelung dieser Dramatik der Erinnerung eine Vision der Zukunft komponiert. Ihr virtuelles Projekt zwischen Sciences Fiction und Leni-Riefenstahl-Ästhetik sorgt für lange Schlangen am Deutschen Haus. Ausgelagert auf die verwilderte Insel La Certosa sind außerdem akustische Kunstwerke von Michael Akstaller, Nicole L´Huillier, Robert Lippock und Jan St. Werner zu hören. Die gesamte Konstellation des deutschen Nationen-Beitrag wurde mit Recht von vielen Seiten als Kunstsensation gefeiert.
Überraschend schrill und abgedreht kommt die biedere Schweiz daher: Eine Wasser-spuckende Göttin mit glutroten Augen erwartet einen beim Eintritt in den mit falschen Marmorsäulen ausgestatteten Räumen. Dazu zeigt die brasilianisch-schweizerische Transkünstlerin Guerreiro do Divino Amor (Krieger der göttlichen Liebe) mit einer abgedrehten Installation aus Skulpturen, schrillen Videos und bunten Hologrammen ein Bild der Schweiz aus Heidi und Kitsch-Revue mit römischer Wölfin, die so gar nicht dem Eigenbild der reichen Alpenrepublik entspricht. Sehr viel Humor und Wirtschaftskritik gegen Nestlé und Schweizer Bankenwesen inklusive. Super!
Der Vatikan zeigt ebenfalls Humor und sich selbst wenig nachtragend, indem es dem spanischen Skandalkünstler Maurizio Catellan, der 1999 noch den Papst Johannes Paul II. von einem Meteoriten als Skulptur erschlagen ließ, erlaubte, den Länderbeitrag des Heiligen Stuhls, das Frauengefängnis von Venedig auf der Insel Giudecca, von außen mit riesigen, geschundenen Füßen zu bemalen. Leider braucht man eine langfristige Voranmeldung, um dann von Gefängnis-Insassinnen durch die Ausstellung im Inneren des Gefängnisses geführt zu werden. Also konnte ich die Ausstellung, die selbst von Papst Franziskus besucht wurde, ebenso wie den israelischen Pavillon nicht besichtigen, weil dieser aus Protest der teilnehmenden Künstler nicht geöffnet wird, bis ein Waffenstillstand im Gazakrieg stattfindet.
Die diesjährige Überraschung der Nationen-Pavillons ist das afrikanische Land Benin, welches zum ersten Mal in Venedig präsent war. Energie und politische Haltung versprühend glänzt die Schau durch wunderbare blaue Gemälde, riesige Tapisserien aus kolonialen Bildern und fragiler Glaskunst. Die eindrücklichste Arbeit stammt von Romuald Hazoume, der aus Benzinkanistern einen Iglu-artigen Kuppelbau aus Gesichtermasken aufgebaut hatte: ein Raum wie eine Anklage aus den Hunderten Gesichtern, die einen anstarren.
Ägypten zeigt märchenhafte Geschichten-Videos von Wael Shawky, die um die Niederschlagung der britischen Kolonialzeit kreisen, sowie verrückt-fantastische Skulpturen. Im türkischen Pavillon hängen herrliche Kronleuchter aus Murano-Glas, die allerdings mit Stacheldraht umwickelt sind. Mehrfach ist der Krieg in der Ukraine Thema in verschiedenen Räumlichkeiten. So ließen die polnischen Künstler Menschen von der Straße in Kiew die Geräusche von herannahenden Raketen und Geschossen in Mikrophone sprechen, die vom beeindruckten Publikum nachgesprochen werden sollen.
Im Garten des österreichischen Pavillon steht eine Reihe ausgedienter Telefonzellen, von denen Geflüchtete mit ihren Liebsten in der Heimat telefonieren können. Dazu zeigt die Exil-Russin Anna Jermolaewa eine Performance und Videos von Schwanensee, um darauf hinzuweisen, dass es immer wieder und oft tagelang das Ballett von Tschaikowsky im russischen Fernsehen zu sehen gibt, wenn ein russischer Machthaber verstirbt. Natürlich wünscht sich die nach Österreich geflohene Künstlerin eine baldige Neuauflage, damit Putin endlich verschwindet.
Schimmelig und heiter geht es im japanischen Haus zu, wo Energie aus vor sich hin gammelnden Obst und ominösen Wasser-Installationen gewonnen wird, um Glühbirnen leuchten zu lassen. Mythisch wird es im Libanesischen Pavillon, wo die Neuinterpretation des antiken Mythos von Europa und Zeus aus weiblicher Sicht neu interpretiert wird.
Im labyrinthischen Zentralpavillon der Giardinis, der von außen mit quietschbunten Malereien von lateinamerikanischen Indigenen gestaltet ist, findet die zentrale internationale Ausstellung statt. Dort hat der Kurator Adriano Pedrosa überwiegend Positionen aus dem globalen Süden anzubieten. Im Zentrum stehen dabei Künstler*innen, die Themen wie Krieg, Flucht, Kolonialverbrechen, Queerness, Homosexualität und „Fremde überall“ in allen Variationen bespielen. Es gibt abstrakte Kunst aus allen Kontinenten und 100 Porträts von Menschen aus Mexico bis Malaysia, von Syrien bis Südafrika und von Turkmenistan bis zur Türkei. Es gibt ein riesiges Video-Archiv, in dem man sich stundenlang Filme über Widerstand, Revolutionen, Demonstrationen und Kämpfe von Unterdrückten aus aller Welt anschauen kann.
Dann kann man zwischen riesigen Malereien von einer indischen LGBTQIA+ Frauengruppe spazieren oder filigrane kleinteilige Gemälde von Aborigines-Künstler*innen bestaunen. Riesige Wandteppiche wechseln sich ab mit Skulpturen aus Ton, Glas und Marmor. Der queere Blick auf die Welt spielt ebenfalls eine große Rolle. Explizite und erotisch aufgeladene Bilder aus aller Welt behandeln Lust und Leidenschaft, während daneben Menschen aus den ärmeren Ländern des Südens um das tägliche Überleben kämpfen. Vielfalt, Humor, Bitternis, Anklage und Solidarität liegen ganz häufig eng zusammen und zeichnen ein überragend vielschichtiges Bild der Gegenwartskunst unserer Zeit.
Am Eingang des Arsenals, wo früher Kriegsschiffe anlegten, schleppt sich ein mit einem Astronautenhelm, afrikanischen Stoffen und einem Netz voller Arbeit bestückter Mensch durch die Menschenmassen, um die Last der Welt zu tragen, während draußen in der gleissenden Sonne seltsame ägyptisch anmutende Säulen mit grinsenden Köpfen stehen. In den Hafenbecken leuchten in allen Farben und Sprachen Leuchtskulpturen, die das Thema der Biennale spiegeln: „Fremde überall“.
Ich könnte jetzt noch stundenlang erzählen..., aber auch innerhalb der Stadt selbst in diversen Palazzi, aufgegebenen Kirchen und Kunsttempeln reicher Milliardäre sind noch verschiedene, sogenannte Collaterali (Ausstellungen) zu sehen. Ich habe es noch in in die drei wichtigsten geschafft, bevor der Kopf vor lauter Kunst geplatzt ist. Im Palazzo Rocca Contarini Corfu gibt es zum Beispiel eine große Schau aus 32 neuen Werken des US-amerikanischen Malers und Bildhauers Jim Dine, der unter dem Titel „Dog on the Forge“ Popart, Skulpturen und Malerei präsentiert.
In der Punta della Dogana, dem riesigen Museum des französischen Milliardärs Pinault, kann man die unheimliche und ziemlich düstere Großschau des Konzeptkünstlers Pierre Huyghe bestaunen, die sich irgendwie zwischen Mensch und Tier, Künstlicher Intelligenz und das Verschwinden der Menschheit, zwischen Maschinen und Systemen dreht. Eine Frauenfigur ohne Gesicht geistert am Anfang auf der Leinwand, während später Filme aus der heißen Atakama-Wüste Gerippe und karges Land zeigen. Unheimliche Wasserbecken wirken wie leblos, während eine Maskenfrau mit tierischen Fellhänden und Füßen durch ein Wohnung schleicht, alles sehr spooky und mystisch. Aber der eigenwillige Künstler, der schon in Kassel bei der Documenta einen Bienenschwarm im Kopf einer Frauenskulptur leben ließ und einen mageren weißen Hund das eine Bein bunt bemalte und in der Gegend rumlaufen ließ, sorgte schon früher sowohl für Kopfschütteln oder fragende Blicke. Auf jeden Fall absolut sehenswert!
Der unglaubliche Kracher einer überbordenden Schau gelingt mal wieder dem Skandalkünstler Christoph Büchel aus der Schweiz, der mit seiner Mega-Installation „Monte di Pieta“ in der Fondazione Prag alles schlägt. Vor einigen Jahren hatte er ein originales und sehr marodes Flüchtlingsboot aus dem Mittelmeer am Hafen des Arsenals platziert. Nun hat er den barocken Kunstpalast völlig zugefüllt mit unfassbar viel Material, das man hier gar nicht aufzählen kann. Anscheinend hat er monatelang sämtliche Flohmärkte Italiens plus Archive und Kaufhäuser, wie Elektrohandel und Werkstätten geplündert, um sein sozialkritisches Widerstandsnest zu installieren. Man fühlt sich zwischen Müllhalde, Waffenarsenal, Flüchtlingslager oder historisches Stadtarchiv hin und her gerissen und weiß gar nicht, wo das Auge eigentlich länger verweilen sollte. Ein komplexes Bild für den Irrsinn unserer Zeit zwischen unverschämtem Reichtum und bitterster Armut, zwischen Trump und Neofaschismus in Italien, zwischen Räuberhöhle und Überwachungsstaat. Unfassbar und unüberschaubar.
Aber wie immer, wenn der Kopf bis oben hin gefüllt ist mit den verschiedensten künstlerischen Eindrücken, liegt draußen vor der Tür noch die wunderbare Stadt Venedig und versöhnt mit Gourmet-Genüssen und mediterraner Lebensfreude, die das Gehirn wieder frei spült.
Ich freue mich schon auf die nächste Biennale in zwei Jahren!
Fotos: (c) Holger Kistenmacher