Melanie Charles von Heritage

Das 10. Überjazz-Festival auf Kampnagel
Jung, experimentell, provokativ und weiblich

Unter der Losung „cutting edge music beyond genre“ wurde wieder einmal während des 10. Überjazz-Festivals auf Kampnagel in Hamburg der Jazz gegen den Strich gebürstet. Es wurde ein bunter Querschnitt, hauptsächlich sehr junger und experimenteller Musik jenseits des Mainstreams präsentiert.

Die aktuelle, innovative Jazzszene kommt dabei hauptsächlich aus London, Los Angeles New York und vom Berliner Label „KRYPTOX“, die den „Kraut Jazz Futurism“ im deutschsprachigen Raum ausgerufen haben. Die Einflüsse dieser Musik liegen irgendwo zwischen Elektronik, Afrobeat, Krautrock und Jazz. Vertreter dieser Richtung waren zum Beispiel die in Österreich schwer gehypten „Shake Stew“ mit ihrer ungewöhnlichen Besetzung aus jeweils 2 Schlagzeugern und Bassisten, sowie 3 Bläsern.

Desweiteren war sehr augenscheinlich, dass immer mehr junge Frauen das Bild des Festivals bestimmen. Besonders die wortgewaltige Kate Tempest, eine Londoner Spoken-Word-Künstlerin erster Sahne konnte mit ihrer von minimalistischen Beats unterlegten Show aus poetischen und politisch aggressiven Schnellfeuer-Texten wie einstmals der junge Eminem überzeugen. Sie brachte hauptsächlich neuere Stücke von ihrem aktuell von Rick Rubin produzierten Album „The Book of Traps & Lessons“ zu Gehör – großartig.

Kate TempestKate Tempest

Als Gesamtkunstwerk hatte sich die junge Cellistin und Sängerin Kelsey Lu aus L.A. ankündigen lassen. Mit Schlagzeug und Elektroniker im Schlepptau bot die exzentrische Diva eine schrille Show. In ihrer Mischung aus Kammer-Pop und Future R&B griff sie teilweise selbst zur Gitarre und spielte neue Stücke ihres ersten Albums „Blood“. Ein Augen- und Ohrenschmaus.

Ebenfalls auf der großen K6-Bühne war auch der stark japanisch beeinflusste Pianist und Komponist Mark De Clive-Lowe mit großer Band zu Gast. Vier Streicher und die hervorragende Flötistin Melanie Charles, sowie Schlagzeug und Bass begleiteten seine Kompositionen, die man sich wunderbar als Untermalung von japanischen Filmen vorstellen könnte. Opulente Bilder entstanden im Kopf, während auf der Bühne mit wieder einmal wunderbarer Beleuchtung und Video-Hintergründen der Hamburger Videokünstler Rio Grande und seine Design-Agentur „Aufderlichtung“ eine Installation aus Licht, Film und Musik zelebriert wurde. Ganz großes Kino!!

Mark De Clive-LoweMark De Clive-Lowe

Eine Entdeckung, die junge Duendita aus Queens/New York, die einen witzigen, sexy Auftritt mit Elektronik-Spielereien und schrägem Gesang ablieferte. Überhaupt war in der heimeligen Atmosphäre der KMH diesmal New York angesagt. Auch die bunte Truppe von „Sinkane“, deren Mitglieder aus allen Ecken dieser Welt stammen, vom Sudan bis Japan, von Kenia bis USA trat dort auf und lieferte eine deftige Melange aus Rock, Kraut, Reggae, Soul und Afrofunk ab. Auch über die neuesten Entwicklungen aus dem Sudan, wo eine überwiegend junge Bevölkerung nach Jahrzehnten der Diktatur und des Militärs friedlich trotzte und nun wieder Hoffnung auf Demokratisierung schöpft, wurde ausgiebig berichtet. Auch solche Statements sollten immer Platz finden beim Überjazz.

Ebenfalls gefallen konnte die junge Londoner Band Maisha, die sich an spirituelle Helden wie Pharao Sanders orientierten und die hervorragende Saxofonistin Nubya Garcia und Gitarristin Shirley Tetteh zu bieten hatten. Wieder einmal ein buntes Programm, welches einem gehörig die Gehörgänge durchgeblasen hat, und für mich als gelungene Abwechslung zu den Nordischen Filmtagen genau richtig kam, auch wenn mein kulturelles Programm der letzten Wochen kaum noch zu toppen war.

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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