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70 Jahre und kein bisschen leise - Dieter Meier auf Kampnagel

„Who the hell is Dieter Meier?“, werden sich jetzt wohl einige jüngere Leser fragen, während die Altvorderen unter den Musikfreunden schnell auf die Band YELLO kommen dürften.

In den 80er Jahren war diese Schweizer Synthie-Pop-Band neben Kraftwerk eine der einflussreichsten Bands der Elektronik-Welle, die ihrer Zeit weit voraus waren. Gemeinsam mit Boris Blank war die Band aus der Punk- und Wave-Bewegung hervorgegangen, zu der sich Meier als Alt-Punker noch heute bekennt. Zwar war der Schweizer nie ein begnadeter Sänger, aber er besaß eine rhythmische Begabung, aus der heraus er seinen Sprechgesang entwickelte. Dabei ist und war Meier in vielen Bereichen der Kreativität und der Lebenswut unterwegs: Vier Jahre lang betätigte er sich als Zocker und professioneller Pokerspieler, danach war er als Künstler früh anerkannt. Seine Kunstaktionen wurden als radikale, absurde und humorvolle Situationsaktionen bezeichnet. Zum Beispiel in New York bezahlte er 1971 Leuten auf der Straße jeweils einen Dollar, wenn sie ihm das Wort ja oder nein auf Band sprachen. Zur Kasseler Documenta 5 betonierte er vor dem Hauptbahnhof eine Tafel ein mit der Aufschrift: „Am 23. März 1994 von 15 bis 16 Uhr wird Dieter Meier auf dieser Platte stehen“. Was er nach 22 Jahren als inzwischen gereifter Star tatsächlich vor begeisterter Menge 60 Minuten lang machte.

Daneben war er Weinbauer, Schriftsteller, Schauspieler, Fotograf, Filmer und Viehzüchter. 2010 wird das Multitalent im ZKM in Karlsruhe mit der Ausstellung Dieter Meier - Works 1969 – 2011 and the YELLO Years geehrt und gefeiert. Auch 2011, als Meier in der großen Retrospektive als durchtriebener Konzept- und Performancekünstler in der Hamburger Deichtorhallen gezeigt wurde. Aber immer wieder kommt der nun 70jährige zur Musik zurück. Im Juni 2012 veranstaltete er vor dem größten Wasserfall Europas, den Rhein-Fällen, eine großartige Musik-Performance mit Licht und Sound.

Mittlerweile hat er auch wieder eine neue Band um sich gescharrt und 2014 eine Scheibe auf dem Markt geworfen. Out of Chaos, als Reminiszenz an alte Punk-Zeiten heißen sowohl Band wie aktuelles Album. Am Freitag gaben sich die Herren Musiker in der Hamburger Kulturfabrik Kampnagel ein gefeiertes Stelldichein. Lässig mit Hand in der Hosentasche, markantem Schnauzer und grau-weißer Haarpracht schreitet Meier auf die Bühne, wo bereits seine wilde Band einen schrillen Einstiegspart aus Free-Jazz und elektronischen Zerrgeräuschen vorgelegt hat. Angetrieben vom „Teufelsgeiger“ Tobias Preisig, dem Jonny Depp der Jazzgeige und dem Spezialisten für Special Effects und Electro-Sound T. Raumschmiere bildet die 5köpfige Out of Chaos-Band den perfekten Rahmen für die Kunst des älteren Herren, die sich zwischen Tom Waits, Chansonnier, Elektro-Punk, Geschichtenerzähler und Pausenclown bewegt.

Die Show beginnt mit Paradise Game, einer alten Punk-Nummer in neuem Gewand. Meier sagt seine Songs an und erklärt dem Volk seine Gedanken dazu. Bei der zweiten Nummer Lazy Nights geht es um die Nacht, die eng und träge ist und in der man auf etwas wartet, aber nicht weiß worauf. Es folgen The prisoner of soul und „The ritual“, wobei es wiederum um das Warten geht, diesmal allerdings als Beweis dafür, dass man noch am Leben ist, solange man zum Beispiel noch auf die Liebe des Lebens wartet. Die Nummern kommen sehr rhythmusorientiert rüber, viel Echo und Schall lässt die Stimme Meiers mit dem rollenden R diabolisch erscheinen und ein wenig an Tom Waits denken.

Als die Maschinen von Raumschmiere nachjustiert werden müssen, mutiert Meier zum Pausenclown und erzählt amüsante Annekdoten aus seinem Leben. Zum Beispiel von seiner ersten Punk-Single Cry for fame, die in der Miniauflage von 200 Stück auf den Markt kam und es sogar bis in eine Musicbox in einer Hamburger Punkkneipe schaffte, wo Meier sie damals überrascht hörte und sich freute. Beim Rausgehen wurde er von einem örtlichen Punk angesprochen: „Die Musik ist scheiße, aber der Name Meier ist geil“. Überhaupt, sein Name sei ja nicht gerade glamourös, und so ergab sich eine weitere Begebenheit während eines Interviews beim Bayrischen Rundfunk, bei der ihn der Reporter immer mit Müller ansprach. Gegen Ende des Gesprächs habe Meier dann gesagt, dass ihn viele Leute mit Meier ansprächen, worauf der Reporter sich nicht wieder einkriegen wollte und meinte, wie idiotisch die meisten Leute doch seien. 

Es folgten kleine Gedichte, untermalt von Bass-Gebrummer und experimenteller Geige, zum Beispiel über den New Yorker Junkie Rudi, der sich prostituiert, um den nächsten Schuss zu kaufen oder die Geschichte vom Nachtportier, der während seiner Schichten kleine Zeichnungen von seinen Gästen anfertigt. Und dann kommt wieder Jimi im harten Tekkno-Stile und bringt die Leute zum Hüpfen. Im Hintergrund laufen psychedelische Kunstvideos, die nur bei der Nummer Loveblind („ein Gefühl, dass wir wohl alle kennen sollten“) gegenständlich wird: Ein Schwimmer kämpft sich durch bedrohliches Wasser und droht jederzeit abzusaufen.

Nach gut eineinhalb Stunden ist Schluss und die „junge Band“ braucht den Applaus, damit sie noch einmal für eine Zugabe zurück auf die Bühne kommt. Mit der elektronisch aufgemotzten Punknummer Down, down, wird dann das begeisterte Volk in die Nacht entlassen. Schade eigentlich, denn man hätte dem Meier-Dieter noch lange lauschen können. 

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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