Während sich das Sommerdreieck bald wieder vom nächtlichen Sternenhimmel verabschiedet, beginnen an anderer Stelle drei neue Sterne zu leuchten, und zwar am Firmament der zeitgenössischen Klavierszene. Die Namen der drei folgenden Künstler sollte man sich merken: Rachel LaFond aus Neuseeland, Daniela Mastrandrea aus Italien und Chris Snelling aus England.
Für alle drei Pianisten ist es das zweite Soloalbum mit Eigenkompositionen, und alle drei haben sich gegenüber ihrem Debüt spürbar weiterentwickelt. Ihre Alben sind nicht nur gleichermaßen empfehlenswert, sie sind auch das Beste, das seit langem in diesem Bereich erschienen ist. Für uns ein Anlass, die Musik der drei Komponisten genauer unter die Lupe zu nehmen und den für sie charakteristischen Stil herauszuarbeiten, mit dem sie ähnlichen Gefühlen eine ganz eigene Energie verleihen.
Mitreißendes Farbenmeer
Als Rachel LaFond das Klavierspielen zu ihrem Beruf machte, wusste sie noch nicht, dass eigentlich das Komponieren ihr wahres Talent ist. Die Tochter einer US-amerikanischen Klavierlehrerin wollte Konzertpianistin werden, studierte in Wien und Seattle und arbeitete jahrelang selbst als Lehrerin. Dann lernte sie ihren heutigen Mann kennen. Er inspirierte sie zu ihrem ersten Stück „Loving in the Rain“. Gemeinsam reiste das Paar ein Jahr lang um die Welt, bevor es sich in Neuseeland, seiner Wahlheimat, niederließ. Die Eindrücke dieser Reise zu sich selbst verarbeitete LaFond auf ihrem Debütalbum „Wandering Soul“.
Ihr zweites Album „Encounters of the Beautiful Kind“ widmet die Künstlerin ihrer neuen Heimat und den Erfahrungen, die mit ihrem Neuanfang verbunden waren: die Neugier auf das dortige Leben, der Abschied von engen Freunden, das Einleben in eine fremde Umgebung und das Staunen über Oasen unberührter Natur auf einem unbekannten Kontinent. Herausgekommen ist ein Album voller Energie und Motivation, das bereits vorab mit der Silbermedaille der Global Music Awards in der Kategorie Bestes Album ausgezeichnet wurde.
Gleich mit ihrem ersten Stück zieht LaFond die Hörer in ihren Bann. „Luminous“ erzählt von Neuseelands leuchtender Unterwasserwelt. An einem eigentlich trüben Tag fühlte sich die Künstlerin beim Tauchen plötzlich in ein Meer aus Sternen versetzt. Das magische Hochgefühl, das sie dabei erlebte, malt sie dem Hörer in schillernden Farben vor das innere Auge.
Die Mehrzahl der elf Titel auf ihrem Album ist geprägt von einer großen Lebensfreude. Mal ist es einfach unbändige Freude („Unrestrained Joy“, „Shout to the Sun“), mal eine sinnliche Liebeserklärung an das neue Klavier, denn LaFond hatte zwei Jahre lang kein eigenes besessen („Your Beauty Calls Me“). Wenn sie an zurückgelassene Freunde und Familie denkt, an verpasste gemeinsame Lebensereignisse, wie die Geburt eines Kindes, mischt sich neben fröhlichen Erinnerungen und der Vorfreude auf ein Wiedersehen auch Melancholie in ihr Spiel („Heart Full of Memories“, „Love’s Labour’s Never Lost“, „Don’t Cry, Calvin“). Doch überwiegen stets die Zuversicht und der Optimismus, die anstehenden Herausforderungen zu meistern („You Will Conquer This Shadow“, „The Questions Your Heart Asks“, „A Knight’s Journey“).
LaFond besitzt die besondere Gabe, ihre Musik unbeschwert und tiefgründig zugleich klingen zu lassen. Ihre Kompositionen sind dynamisch, fließend, anregend und einfach mitreißend. Es scheint selbstverständlich, dass sich jedes von ihr beschriebene Gefühl genauso anhören und anfühlen muss. Die eigenen Gedanken beginnen abzuschweifen, einzutauchen in ein Vollbad aus positiver Energie, um dann frei und ungezwungen zu neuen Ufern der Inspiration zu fliegen.
Und eine weitere Besonderheit weist ihre Musik auf: Neben den offenkundigen Gefühlen, die den Rhythmus eines jeden Stückes bestimmen, schwingt im Hintergrund ein zweiter Rhythmus mit, der nicht nur LaFonds Stil entscheidend prägt, sondern auch für den starken Energiefluss verantwortlich zeichnet. Es ist der Rhythmus des Atems, dem ihre Musik folgt, der Rhythmus des Lebens. Wie von selbst fügen sich die feinfühligen und doch kraftvollen Tonfolgen ineinander, werden von den vollresonanten tiefen Tönen energetisiert, um ihre Reise mit Leichtigkeit, Schwung und Frische fortzusetzen. Das Atmen der Kompositionen ist unverkennbar. Man braucht nur wenige Sekunden eines beliebigen Stückes zu hören und spürt instinktiv: Das ist die Handschrift von Rachel LaFond.
Rachel LaFond: Encounters of the Beautiful Kind, Rachel LaFond, 01. Juni 2018, Amazon
Virtuoser Seelenspiegel
Komponieren ist das, was Daniela Mastrandrea schon immer wollte. Dieses Gefühl, wenn eine Melodie im Kopf entsteht, sich ihren Weg in die Finger und schließlich aufs Papier bahnt, ist für sie etwas unbeschreiblich Schönes und Bedeutsames. Bereits im Alter von neun Jahren schrieb sie ihr erstes Stück, nach nur zwei Jahren Klavierunterricht. Es folgten ein Studium an der Musikakademie in Monopoli und verschiedene klassische Komponistenpreise. Inspiriert vom Leben, von Emotionen, Bildern und Orten und motiviert von den Rückmeldungen ihres Publikums komponiert und arrangiert die Künstlerin nicht nur für Klavier, sondern auch für Musikensembles und Orchester.
Im vergangenen Jahr belegte Mastrandrea den ersten Platz eines genreübergreifenden Online-Talentwettbewerbs, der ihr den Plattenvertrag für das aktuelle Album einbrachte. Zu ihrer eigenen Überraschung erreichte sie mit ihren klassisch-modernen Instrumentalkompositionen mehr Videoviews als ihre Musikerkollegen aus den weitaus populäreren Bereichen Elektropop und Rap. Die Freude über ihren Sieg und weitere tiefe Gefühle, die sie auf diesem Lebensabschnitt begleiteten, verarbeitet Mastrandrea musikalisch auf dem vorliegenden Album „Lo specchio“ (Der Spiegel).
Wir alle haben das Bedürfnis, uns zu spiegeln und einen Teil von uns selbst in unserem Gegenüber wiederzufinden, sagt die Künstlerin über das Titelstück ihres Albums, das zugleich ihr Einstiegsstück ist. Und da ein Spiegel nur zurückwerfen kann, was er vor sich sieht, sind wir selbst sowohl Ausgangspunkt als auch Ziel unserer Suche. „Lo specchio“ ist eingängig, offen, heiter und ein Ohrwurm im bestmöglichen Sinne. Das Stück „spiegelt“ sein musikalisches Thema in verschiedenen Variationen und vermittelt ein wohliges Gefühl des Heimkommens, oder besser, des Ankommens bei sich selbst.
Ob der Stil eines Stücks eher modern oder klassisch ist, ob es um eine Eigenkomposition oder die Adaption eines Popsongs geht: Mastrandrea beherrscht alle diese Spielarten, und es gelingt ihr, sie in einem gut durchdachten Konzept auf dem Album zu vereinen. Die 17 Titel stellen sowohl die Einfachheit und Schlichtheit des Soloklaviers als auch dessen vollkommenen Klang heraus und geben einen empathischen Einblick in Licht und Schatten der menschlichen Seele.
„Dentro me“ (In mir) ist wohl das beste Beispiel für Mastrandreas Fähigkeit, verborgene Emotionen hervorzuholen und zu transformieren. Das tiefgehende Stück öffnet das Tor zur eigenen Psyche, lässt Sehnsucht und auch Unbehagen auflodern, um sie schließlich aufzulösen und einem durchdringenden Glücksgefühl Raum zu geben. Wer die Traurigkeit nicht scheut, so die Künstlerin, wer bereit ist, sie zu durchleben, kann viel Licht aus der Dunkelheit ziehen. In „A testa bassa“ (Gesenkten Hauptes) folgt die Erkenntnis, dass eine Niederlage keine Erniedrigung sein muss, sondern dass man gestärkt daraus hervorgehen kann. Aufregung und Bestürzung weichen einer entspannten Gelassenheit. Aus Tränen des Kummers werden Tränen der Erleichterung.
Mastrandreas musikalische Sprache ist ebenso klar und elegant wie leidenschaftlich und intensiv. Mit großer Fingerfertigkeit und Präzision entfaltet sie ihre Themen und gibt ihnen teils überraschende Wendungen, die unsere Antizipationen umgehen und uns geschickt in eine andere Richtung lenken. Trotz schwerwiegender Thematik ist die Energie ihrer Musik gleitend, aufbauend und motivierend. Man möchte tanzen zu dieser Musik, sich fallen lassen und getragen werden von den gekonnt gesetzten Impulsen einer Künstlerin, die schon heute eine Meisterin ist.
Daniela Mastrandrea: Lo specchio, Believe digital, 18. Mai 2018, Amazon
Bittersüße Sinfonie
Bereits der erste Kontakt mit einem Klavier löste bei Chris Snelling im Kindesalter eine große Faszination für das Instrument, für dessen Klang, aber auch für dessen Anatomie aus. Seine Leidenschaft war so groß, dass er sich selbst ein Klavier aus Pappkartons baute und die passenden Töne sang, während er auf der Tastatur spielte. Als er schließlich sein erstes echtes Instrument bekam, brachte sich Snelling das Klavierspielen und Komponieren weitgehend selbst bei.
Einigen Hörern mag der Künstler bekannt sein durch seine ausdrucksstarken Interpretationen beliebter Klavierballaden, allen voran die Kompositionen von Ludovico Einaudi. Ebenso beeindruckend sind Snellings Eigenkompositionen. Wenn er nicht gerade Musik für Theater oder Film schreibt, lässt er sich von seiner Intuition leiten, folgt Inspirationen aus dem Alltag und aus seinen Träumen oder improvisiert gänzlich frei. Auf seinem Album „Piano Stories“ erzählt der Komponist mit jedem Stück eine eigene kleine Geschichte. Zusammengenommen ergeben sie das Mosaik einer sehr persönlichen musikalischen Reise, die den Fokus auf die wesentlichen Dinge im Leben lenkt und zugleich den Horizont öffnet für die Vielfalt an Gefühlen, die man mit den Titeln der Stücke verbinden kann.
„Autumn Dance“ fängt das bittersüße Spätsommer-Gefühl ein, wenn man die tiefer stehende Sonne noch warm auf der Haut spürt, während man den herannahenden Herbst schon riechen kann. Bunt gefärbte, im Wind umherwirbelnde Blätter erfreuen uns mit ihren Farbvariationen. Und doch können sie die Stimmung nur kurzzeitig aufhellen angesichts der bevorstehenden dunklen Tage.
Die Bandbreite des Albums reicht von Kompositionen mit Hit-Potenzial wie „Echoes of You“ und „Colours“ bis zu kleinen, zarten, fast zerbrechlich wirkenden Stücken, die sich allmählich zum Fels in der Brandung entwickeln. „A Safe Place“ beispielsweise erzählt von einem verzweifelten Freund, der bei Snelling Trost suchte. Sein Zuhause wurde für den Bekannten zu einem sicheren Ort, einem Zufluchtsort. Ähnlich gefühlvoll, jedoch dynamischer ist „Puzzle“, ein Stück mit einer einfachen, fließenden Struktur, das einer herzlichen Umarmung gleicht. Wie Puzzleteile greifen die einzelnen Abschnitte des Stückes ineinander und fügen zusammen, was zusammengehört.
„Piano Stories“ ist ein besinnliches, nachdenkliches und etwas verträumtes Album, das eine angenehm ausgleichende Wirkung entfaltet. Man kann sich anlehnen an eine imaginäre Schulter, während man den einfühlsamen, mit einem Hauch von Mystik versehenen, musikalischen Erzählungen lauscht. Neben den zehn selbst komponierten Stücken präsentiert Snelling auch seine berührende Interpretation von „To Zanarkand (Final Fantasy X)“, das sehr gut in dieses Programm passt. Durch seine harmonisch erzählende Energie und den emotionalen Tiefgang könnte das Stück ebenso gut aus der Feder des Komponisten stammen.
Snelling besitzt ein feines Gespür für die Emotionen, die äußere Stimmungen im eigenen Gefühlsleben hervorrufen, und für die vielen kleinen Nuancen, die einen Moment einzigartig machen. Wollte man einen besonderen Tag mit all seinen Facetten in Musik übersetzen lassen, um die damit verbundenen Gefühle für andere erlebbar zu machen, man würde ihn damit beauftragen.
Chris Snelling: Piano Stories, Classical Acoustica, 03. Juni 2018, Amazon