„Best of Poetry Slam“ backstage in den Kammerspielen
Die Verwandlung der Raupengestalten

Umgeben von Kleiderständern, Waschbecken, Notizzetteln und Resten eines Sushi-Imbisses sitzen fünf eher dunkel, aber ansonsten unauffällig gekleidete junge Menschen an Garderobentischchen und tun nichts Besonderes – sie wischen auf Smartphones herum und lesen in Zetteln. Verdutzt werfe ich meinen Mantel über den Kleiderständer und klatsche in die Hände. Wo, bitte, bleibt denn hier die Hektik?!

Thomas, der Fotograf, und ich haben die Gelegenheit bekommen, die wir uns seit langem wünschen: Wir dürfen die Zeit vor einem Auftritt backstage verfolgen! Tilo Strauss, der Macher von Slam A Rama, hat uns dazu in die Kammerspiele eingeladen. Seit langem spekulieren wir, was Künstler wohl gegen ihr Lampenfieber tun. „Ist doch klar: Die kippen zwei, drei Bier zur Beruhigung“, wettet Thomas. „Quatsch, das ist Eighties, heute machen die vorher Yoga“, halte ich dagegen. Und nun das!

Tristan, ein langer Lulatsch, lugt in sein Notizbuch mit Fell-Schutzhülle. Doch eigentlich, glaube ich, will er reden. Jetzt nimmt er einen langen Schluck aus der Pulle. Wasser, still. „Das gab’s vor zwölf Jahren nicht!“, kommentiert Tilo. „Da hätten alle Bier getrunken.“ Aha, deshalb liegen ein paar Dosen im Waschbecken, liebevoll in Eiswürfel eingebettet. Tilo weiß, wie der Hase läuft, er ist der Mister Poetry-Slam-Lübeck, hat diese damals blutjunge Kunstgattung 2001 in der Stadt eingeführt. Was ihn daran reizt? „Da tauchen Charaktere auf, die einen eigenen Ausdruck finden.“ Am meisten mag er es, wenn Genre-Grenzen verschwimmen. Tristan hat aufgeblickt und nickt nun heftig. Wo er selbst sich denn sieht, will ich von ihm wissen. „Och, ich will mich nicht festlegen. Ich steh einfach gern auf Bühnen.“

Tristan, Foto: (c) Thomas Schmitt-SchechTristan, Foto: (c) Thomas Schmitt-Schech

Tilo zieht mich zur Seite. „Das ist ein verrückter Hund“, sagt er. „Wirst du nachher schon sehen.“ Doch zunächst werde ich Zeugin der ersten Verwandlung. Tilo und Daniel Groß – Slam-Stammgästen bekannt als „Dr. Zahl“ – werfen sich in Schale. Cargohosen und Schlabberhemden fallen zu Boden, Männerhaut und -haar offenbart sich, dann gleiten edle Stoffe darüber: schwarze, elegante Anzughosen, weiße Smokinghemden. Fliege umgebunden, Dinnerjacket übergeworfen: voilà, zwei Showmaster, wie sie im Buche stehen!

Während jetzt auch Daniel vom Crossover schwärmt, habe ich noch eine Frage an Tristan. „Stehst du hauptberuflich auf Bühnen, oder hast du einen anderen Brotjob?“ Er grinst leicht süffisant; bestimmt ist er noch Musiker oder gibt Deutschkurse, denke ich, das Übliche halt. Da sagt er: „Baumaschinen.“ Wie bitte? „Ich vermiete Baumaschinen, davon lebe ich.“ Ob das stimmt? Immerhin gibt er auf seiner Facebook-Seite als persönliche Interessen an: „Reifenluftdrücke und Gravitation“.

Auch die anderen können eher nicht von ihren Auftritten leben, streben das aber meist an. So wie Kaleb Erdmann, der in Leipzig Literarisches Schreiben studiert und einmal mit dem Texten Geld verdienen möchte, oder wie Paul Weigl, der im technischen Kunden-Support einer Internetfirma tätig ist, bald aber schon wieder slammend im Tonfink stehen wird – vermittelt von Tilo Strauss. Paul hat schon – wen wundert’s – eine professionell wirkende Website.

Tilo und Daniel, Foto: (c) Thomas Schmitt-SchechTilo und Daniel, Foto: (c) Thomas Schmitt-Schech

19.20 Uhr: Klick. Klick, klick. Chris Greiß, Hausfotograf bei Slam A Rama, fotografiert Sebastian Lehmann, Typ mit Wuschelhaaren, der nachher einen fulminanten Auftritt als Feature Poet – also einleitender Slammer außerhalb der Wertung – hinlegen wird. Aber das weiß ich natürlich noch nicht. Jetzt sehe ich einen ernst blickenden Mann, der auf Greiß’ Geheiß in den Spiegel schaut, damit der Fotograf ein originelles Porträtbild (Foto siehe unten) machen kann. 

„Haben wir alle?“, ruft Daniel Tilo zu. „Wir haben hier fünf Akteure. Wollten wir nicht sechs fotografieren?“ „Verdammt, wo ist der Musiker?“ Tilo tippt auf sein Telefon, erreicht wen. „Du musst kurz in die Umkleide kommen, wir machen ein Foto. Muss schnell gehen, los.“ Er legt auf und guckt Daniel an. „Das wird nichts. Der isst gerade Döner.“ Habe ich da jetzt endlich Hektik herausgehört? Das erste Fünkchen? Ehrlich gesagt, nicht. Die Profis nehmen es gelassen. Dann werden eben nur die Slammer mit Foto angekündigt.

19.45 Uhr: Sebastian fragt: „Tilo, wie läuft das mit der Anmoderation?“ Tilo erklärt es kurz, aber präzise. 19.48 Uhr: „Ein Bier geht noch“, sagt Paul. Mist – ein Punkt für Thomas, er hat auf Bier als Beruhigungsmittel gewettet. Ich mit meinem Yoga-Tipp liege daneben. Nicht mal Kirsten Fuchs, die einzige Frau im Wettbewerb, bewegt sich auch nur entfernt wie eine Kobra oder ein herabschauender Hund. Oder wenigstens wie ein Fuchs (auch wenn das keine Yoga-Asana ist). Warum sind die alle so cool? Ich frage Kaleb, wie viele Auftritte er schon hinter sich hat. „So ungefähr 600.“

Bier in der Umkleide, Foto: (c) Thomas Schmitt-SchechBier in der Umkleide, Foto: (c) Thomas Schmitt-Schech

19.50 Uhr: Chris, der Hausfotograf, geht nach unten, zur Bühne. „Die Techniker sind auch schon da“, sagt er. Schon? Ich kriege gleich Schnappatmung! Dabei muss ich gar nicht auftreten. Ich ziehe mir einen Stuhl an einen Platz hinter dem Vorhang, an dem ich gut sehen kann. 19.51 Uhr: Tristan schlendert heran. 19.52 Uhr: Tilo und Daniel treten ein, würdevoll, Tilo lässig ein Mikro schwingend. 19.53 Uhr: Tristan schlendert herein. Oh, der war noch mal draußen? Das hatte ich nicht bemerkt. 19.54 Uhr: Ich muss meinen Stuhl wegrücken, der steht mitten im Laufweg der Künstler.

19.56 Uhr: Tristan schlendert auf mich zu. War der schon wieder weg? Jetzt hockt er sich neben mich auf den Bühnenfußboden. 19.57 Uhr: Die Backstage-Tür geht wieder auf, diesmal kommt Kaleb. 19.58 Uhr: Kirsten, Paul und Sebastian geben ihr Stelldichein. Sie hocken sich neben Tristan. Kirsten fällt auf, dass sie durstig ist, sie muss noch mal weg. 19.59 Uhr: Sebastian schnäuzt sich die Nase. Kirsten kommt zurück, eine Bierdose in der Hand. (Der zweite Punkt für Thomas, doch der sieht das nicht, er ist längst vor der Bühne. Ha!)

20 Uhr! Das Publikum murmelt. Tilo dreht sich noch mal um. „Okay, Leute, es geht los. Toi, toi, toi!“ Paul wirft sich rücklings auf den Boden. 20.02 Uhr: Tilo sagt bezaubernde Worte über die Kammerspiele, stellt dann Daniel Groß vor. 20.03 Uhr: Daniel stellt Tilo vor. Dann werden die Fotos der Slam-Poeten, die Chris vor einer gefühlten Ewigkeit geschossen hat, eingeblendet. 20.06 Uhr: Tilo erklärt den Ablauf. 20.09 Uhr: Die Publikumsjurys werden ausgewählt. Sebastian läuft auf und ab, bindet sich die Schnürsenkel. Fünf Minuten später ist er endlich dran. Und präsentiert „Telefonate mit meinen Eltern“: witzig, scharfsinnig, treffend, stimmlich perfekt moduliert. Glück für die anderen, dass er außerhalb der Wertung slammt ...

Paul und Kaleb, Foto: (c) Thomas Schmitt-SchechPaul und Kaleb, Foto: (c) Thomas Schmitt-Schech

Die vier hocken hinter der Bühne, mehr oder weniger aufrecht, lachen dann und wann, starren aufs Smartphone, dunkle Gestalten, professionell unaufgeregt, jede für sich eingebettet in einen unsichtbaren Kokon, gesponnen aus Zweifeln, Wünschen und Zuversicht. Bloß keine Hektik. Ich halte es nicht mehr aus, muss zu den Zuschauern vor die Bühne.

Und da erlebe ich die nächste Verwandlung, und dann noch eine, eine nach der anderen. Jede von den dunklen, ruhigen Raupengestalten entfaltet sich auf der Bühne zu wahrer Pracht! Kaleb lästert wort- und redegewandt über deutsche Traditionen, verbindet dabei Ostern mit der olympischen Disziplin Curling und nimmt später gekonnt die „Selbstoptimierungsimperative“ aufs Korn.

Paul erzählt, dass er aus Berlin kommt – „also aus Bayern“ – und dichtet, was das Zeug hält, über Freiheit und über Evolution, wird politisch und provokant. Er rezitiert seine Texte ohne Skript und verhaspelt sich kein einziges Mal.

Foto: Thomas Schmitt-SchechFoto: Thomas Schmitt-Schech

Kirsten plaudert so schnoddrig-offen über Wochenbett und Kinderfreuden, dass es eine wahre Freude ist, zumal sie jeden Kitsch stilsicher vermeidet. Und Tristan – ja, Tilo hat Recht: Das ist ein verrückter Hund! Ich kann seine aberwitzigen Plots nicht wiedergeben, deshalb sei hier nur ein Anfang zitiert: „Kennt ihr das, wenn ihr völlig dicht nachts in einen Reitstall einbrecht, um Pferdehaare zu klauen, die ihr rauchen wollt?“ Äh – klar doch ...

Es ist ein unterhaltsamer Abend, und man möchte alle Schmetterlinge zum weiteren Verweilen verleiten! Doch schließlich endet die Show, wie sie enden muss: Punkte addieren, Gewinner ausrufen, Pokal in die Hand drücken, Gruppenfoto, vorbei. Daniel Groß macht es noch einmal spannend, indem er per „manuellem TED“ die Entscheidung zwischen Platz 1 und 2, Kirsten Fuchs und Paul Weigl, nachstellt. Als Paul ruft: „Ich liebe diesen TED!“, kann man das zweideutig verstehen. Ich aber, ich weiß, dass er das nicht nur sagt, weil er gewonnen hat. Denn das mit dem TED hat er vorhin, um – Moment: 19.33 Uhr – schon Kaleb erzählt. Denn diesen „Hand-TED“, den gibt es nur bei Slam A Rama in Lübeck!

Karla Letterman
Karla Letterman
Karla Letterman ist Krimiautorin aus dem Harz mit Leidenschaft für Norddeutschland, Nebel und Schattenboxen. Lebt seit 2017 in Lübeck. Höchst interessiert an Filmen, Literatur und Sprechkunst. Thomas Schmitt-Schech ist nicht nur Fotograf mit unbezwingbarem Hang zu Nachtaufnahmen, sondern auch nebenberuflich als Tai-Chi- und Qigong-Lehrer unterwegs. Karlas liebster Lichtfänger und Schattenboxer. www.karla-letterman.de / www.lichtblick-fotokompass.de

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