Foto: Thomas Schmitt-Schech

Max-Goldt-Lesung in den Kammerspielen
Vom Kummer beim Entziffern des Sauerkrautdosenetiketts

Wenn der japanische Tenno in den Filmkisten seines Vaters einen Streifen entdeckt, der John Lennon beim Geldabheben zeigt, weil er 15 Millionen Dollar an die Initiative „Waffen für El Salvador“ spenden will, der Tenno den Film für die Dokumentation eines gewaltfreien Banküberfalls hält und der Unesco vermacht – dann darf man getrost davon ausgehen, dass Max Goldt seine Finger im Spiel hat.

Jedem anderen würde man übertriebene Albernheit attestieren und sich kopfschüttelnd abwenden; Goldt jedoch steht seine einzigartige Sprachkunst zur Verfügung, mittels derer er eine Skurrilität an die nächste schmiedet, bis er schließlich ein glänzendes Collier gefertigt hat. Meister der Abschweifung hat man ihn genannt, dabei jedoch den Kern übersehen, den Daniel Kehlmann so charakterisiert: „Dass sich hinter seinen trügerischen Gedankenfluchten die genaueste Komposition und eine blendend helle moralische Intelligenz verbergen, entgeht noch immer vielen, die nur aufs Lachen und auf Pointen aus sind.“

Bei seiner Lesung am Mittwochabend in den Kammerspielen präsentiert Goldt beides, kunstvolles Arrangement und schnellen Witz. Für den „gemeinnützigen Zweckverband zweite Meinung“ erntet er vergnügte Lacher, als er die Gründungsmitglieder nennt: Ärzte, Handwerker, Gutachter, Rechtsanwälte. Auch als Wortdrechsler zeigt er sich, indem er etwa beginnendes Siechtum beschreibt: Man denke noch nicht ausschließlich an das Würmerheer, sei aber schon „ältelnd“ und „muskellasch“.

Der erste Teil der Lesung lebt von den Wirren um besagten John-Lennon-Film. Außer dem Tenno sind eine dänisch-schwedische Zofe, das Beatles-Museum, der Berliner Bär und schließlich Yoko Ono darin verwickelt. Insgesamt sind diese neueren Geschichten – zumindest für langjährige Goldt-Verehrer – arg brav. Die Ungenauigkeiten öffentlich-rechtlicher Berichterstattung: nun gut. Ein gnadenloser Induktionsherdverkäufer: ganz lustig. Das Horten verbotener Glühlampen, der „Prachtbirnen“: verständlich, besonders, wenn man die Verzweiflung beim Entziffern eines Sauerkrautdosenetiketts bei schlechter Beleuchtung vor Augen geführt bekommt. Da ist die Kochanleitung in winziger Schrift abgedruckt, weil sonst kein Platz mehr wäre für das Wellnesswochenenden-Gewinnspiel mit Sauerkrautkönigin. Das Dosenetikett macht sich gut als Projektionsfläche für Goldt’schen Ideenreichtum. Doch man vermisst im ersten Teil das Schrille früherer Tage, das Grottenolmige der Titanic-Kolumne aus den Neunzigern.

Zum Glück gibt es ein Lesen nach der Pause. Dabei taucht ein „Meinungspingpong kläglichster Art“ auf, dann ein Satz, der sich aus einem Gespräch ins nächste verirrt, eine hochsommerliche Note zu Paul Celans Todesfuge, der Werbespruch „Flugzeuge stürzen ab. Flughäfen niemals.“ und die Frage, wer denn schon von jemandem mit roten Pünktchen auf den Armen liebend umfangen werden möchte. Da ist sie wieder, scharf zündend und verlegen machend zugleich: seine herzzerreißend erbarmungslose Beobachtungsgabe.

In seiner Heimatstadt Göttingen gilt Max Goldt als scheu; Fotografen hatten lange keine Chance, ihn vor die Kamera zu bewegen. Betrachtet man seine Mimik und Gestik während der Lesung, glaubt man das sofort. Er nimmt keinen Augenkontakt mit dem Publikum auf, geht von der Anmoderation sofort zum Text über, ohne den Appetizer genüsslich wirken zu lassen, er hält den Zeitplan beinah peinlich genau ein. Reichte ihm jemand eine Tarnkappe, er würde sie in derselben Sekunde aufsetzen, darf man vermuten. Vielleicht kann nur so einer, der sich selbst aus dem Vordergrund herauszerren möchte, derart grandios beobachten. Als Autor ist Goldt (auch) Entertainer, als Darsteller nicht. Seine Stimme aber weiß er einzusetzen, moduliert damit die verschiedenen Charaktere, wie kein Schauspieler es besser könnte.

Das Lübecker Publikum dankt es ihm. Es ist ein freundliches und zugetanes – eines, das Max Goldt verdient.

Karla Letterman
Karla Letterman
Karla Letterman ist Krimiautorin aus dem Harz mit Leidenschaft für Norddeutschland, Nebel und Schattenboxen. Lebt seit 2017 in Lübeck. Höchst interessiert an Filmen, Literatur und Sprechkunst. Thomas Schmitt-Schech ist nicht nur Fotograf mit unbezwingbarem Hang zu Nachtaufnahmen, sondern auch nebenberuflich als Tai-Chi- und Qigong-Lehrer unterwegs. Karlas liebster Lichtfänger und Schattenboxer. www.karla-letterman.de / www.lichtblick-fotokompass.de

Sie haben keine Berechtigung hier einen Kommentar zu schreiben.