Karl Ove Knausgard, Foto: (c) Sølve Sundsbø

Literatur-Empfehlungen
Buch-Tipps für das neue Jahr 2025

Ja ist denn ein Jahr schon wieder rum? Nee, noch nicht ganz. Für das neue Jahr empfehle ich wieder den Griff zum guten Buch. Ich habe in den Neuerscheinungen rumgeschmökert und versucht, für jeden Liebhaber von Literatur etwas besonderes zu finden.

Für Viel-Leserinnen und echte Leseratten gibt es zwei richtige dicke Dinger aus der Romansparte, dazu ganz aktuell zum angesagten Gesellschaftsproblem der zunehmenden Vereinsamung, einen frechen Berlinroman als wilde Irrfahrt durch die Psyche, sowie für Leute mit eher körperlichen Problem, ein gewitztes Buch vom wunderbaren Kolumnisten Axel Hacke über die Geschichte seines Körpers. Und natürlich gibt es auch Buch-Liebhaber*innen, die lieber schauen als lesen. Dementsprechend habe ich auch einen neuen Grafic Novel-Band und ein Foto-Bildband in meine Tipps aufgenommen.

Beginnen möchte ich mit einem scharfsinnigen Sozialroman der amerikanischen Schriftstellerin Barbara Kingsolver: Demon Copperhead, für den sie 2023 den Pulitzer-Preis und den Woman´s Prize for Fiction in den USA erhielt. Mittlerweile ist das über 800-Seiten ebenso komische wie schmerzhaft-wahrhaftige Buch ein Weltbestseller. In dem groß angelegten Gesellschaftsroman beschreibt die Autorin die Geschichte ihres Protagonisten Demon Copperhead, der unter prekären Verhältnissen in der amerikanischen Unterschicht in einem Trailerpark in einer Kleinstadt in Virginia aufwächst. Hier in den Wäldern und Bergen der Appalachen, dem Land der Tabakfarmer und Schwarzbrenner, der „Hillbilly-Cadillac-Stoßstangenaufkleber an rostigen Pickups“ lebt eine arme aber verschworene Gemeinschaft, die vom Rest der amerikanischen Gesellschaft ausgegrenzt und als Hinterwäldler beschimpft wird.

Schon kurz nach seiner Geburt beginnt für den Jungen mit den kupferroten Haaren und der großen Klappe ein zäher Selbstbehauptungskampf. In seiner eigenen schnodderigen Sprache wird sein Jahre währender Kampf gegen Armut, Ausgrenzung und unfassbare Schicksalsschläge erzählt, der häufig auf des Messers Schneide steht. Schon mit elf Jahren ist Demon praktisch ein Waisenkind, um das sich keiner wirklich liebevoll kümmern will. Sein Vater war schon vor seiner Geburt im berüchtigten Devil´s Bathtub ertrunken und seine jugendliche Mutter ihrer Drogensucht nach einer Überdosierung erlegen. Doch der intelligente Junge beweist zähen Überlebenswillen trotz unzähliger Schicksalsschläge und einer deprimierende Chancenlosigkeit.

Schnell werden Parallelen zum berühmten Klassiker von Charles Dickens „David Copperfield“ erkennbar, aber der Autorin gelingt es, durch ihre virtuose Sprache und die Verlagerung der Geschichte in die Realzeit Virginias in die 1990er und frühen 2000er Jahre einen ganz eigenen Sog zu erzeugen. Zunächst wird der Junge durch die unbarmherzigste Bürokratie aus Jugendämter und dubiose Pflegefamilien geschleust, wo er Armut, Hunger und Sklavenarbeit erlebt. Dann scheint es das Schicksal endlich etwas besser mit ihm zu meinen, als er vom Coach des örtlichen Football-Teams aufgenommen und entdeckt wird. Schnell steigt der groß gewachsene Demon zum Star der Mannschaft auf, bis er sich aber schwer am Knie verletzt.

Anstatt ihn operieren zu lassen, versucht sein Captain ihn möglichst schnell mit Hilfe von Schmerzmitteln wieder aufs Feld zu bringen. Unaufhaltsam wird er durch die legale Einnahme vom Oxycodon in die Suchtschraube der grassierenden Opioid-Krise in den USA gezogen. Obwohl er andererseits endlich eine Freundin findet und auch mit seinem Talent als Comiczeichner neuen Lebensmut fasst, werden der Suchtdruck durch Drogenkriminalität und das neu auf dem Markt aufkommende Fentanyl, dessen schmerzstillende Wirkung 100 Mal stärker ist als Morphium, erneut zu einer Frage um Leben und Tod. Seine Freundin Dori stirbt dann auch unter übelsten Umständen, während seine alten Freunde aus dem Trailerpark immer weiter ins Elend gezogen werden.

Beinharter Realismus trifft auf ein großes Gesellschaftsdrama, das zutiefst berührt. Die Times sah in dem Roman fast schon sowas „Wie eine Verfilmung der Coen-Brüder des Dickens-Originals“. Ein ganz wunderbares Buch zwischen unsäglichen Schicksalsschlägen, großer Erzählkunst und Komik , aber auch immer wieder aufkeimender Hoffnung. Ein vielseitiger Roman voller großartiger Landschaftsbeschreibungen, einem äußerst diversen und gut ausgearbeitetem Personal, der trotz aller Realität und Sozialkritik großen Spass macht.

Barbara Kingsolver: Demon Copperhead, dtv, München, 2024, 862 Seiten.

Mein nächster dicke Wälzer stammt vom 1968 geborenen Karl Ove Knausgard, einem Vielschreiber und wohl wichtigsten Autor aus Norwegen. Bekannt geworden und zu Weltruhm gekommen ist der Schriftsteller durch seine sechsbändige Autobiografie, „Mein Kampf“, die in 35 Sprachen übersetzt wurde und vielfach mit Preisen ausgezeichnet wurde. Ich habe Knausgard hier zuletzt mit seinem Buch über den deutschen Groß-Künstler Anselm Kiefer vorgestellt. Jetzt hat er sich wieder an eine große mehrbändige Romanreihe unter dem Titel „Der Morgenstern“ gemacht, die weltweit Kritiker und Leserinnen begeistert. Der vorliegende Band trägt den Titel „Das dritte Königreich“, der aber auch als einzelnes, eigenständiges Buch ohne die anderen beiden Vorgänger-Romane gut lesbar ist. „Auslöser der Geschichte“ ist laut Klappentext das plötzliche auftauchen eines neuen Sterns am Himmel. Unter diesem Stern leben die Menschen ihre Leben wie früher, während sich die Welt um sie herum langsam verändert. Es geht um das, was wir nicht verstehen, um das große Drama, betrachtet durch die Linse des kleinen Lebens, und es geht darum, was geschieht, wenn die dunklen Kräfte in der Welt freigesetzt werden“.

Es geht um ein buntes Kaleidoskop von Protagonisten*innen, die mehr oder weniger zwischen normalen Alltag und dem Unheimlichen pendeln. Als erstem fällt in dem Buch, das aus unterschiedlichsten Perspektiven erzählt wird, dem örtlichen Bestatter auf, dass niemand mehr stirbt und seltsame Dinge passieren. Die manisch-depressive, aber hochsensible Künstlerin Tove verkündet: „In zwei Tagen wird ein Stern am Himmel aufsteigen. Die Tore zum Totenreich werden sich öffnen“. Sie glaubt, den Teufel gesehen zu haben und auch seine Stimme zu hören. Dann gibt es die Pfarrerin, die ihre Schwangerschaft gegenüber ihrem Mann, dem Lehrer Gaute verschweigt, der wiederum von krankhafter Eifersucht geplagt wird. Gleichzeitig stellt Kathrine fest, dass sie nicht mehr an Gott glaubt. Die 19jährige Line hingegen spielt mit dem Gedanken, sich von ihrem einerseits faszinierenden wie erschreckenden neuen Freund Valdemar zu trennen, weil der sie beim Sex verletzt hat. Der wiederum hat ein ausgesprochenes Faible für mittelalterliche religiöse Riten und hammerharte Metal-Musik mit handverlesener Fan-Gemeinde.

Hinzu kommt der überforderte Polizist Geir, der beruflich ein Blutbad an drei jungen Musikern aufklären soll, sich aber privat nicht zwischen zwei Frauen entscheiden kann. Sogenannte normale Personen gibt es bei Knausgard anscheinend nicht. Als weitere Perspektiven in diesem großen Rätsel aus Krisen, krankhaften Störungen, einschneidenden Lebensereignissen und sogar Begegnungen mit dem Teufel, stösst dann auch noch ein Koma-Patient hinzu, der aus seiner Sicht erzählt, dass ihn mehrere Ärzte fälschlicherweise für hirntod erklärt haben, während sich der sechzigjährige Architekt Helge mit Gewissensbissen plagt, wegen einer angeblichen unterlassenen Hilfeleistung.

Knausgard versteht sich darauf Spannung zu erzeugen, indem er Zweifel sät - bei den Lesern wie bei seinen Figuren.
„Es ist gut, dass wir Geheimnisse und verborgene Seiten haben, auch Wünsche, die wir selbst noch nicht einmal bemerkt haben“, findet Karl Ove Knausgard. „Es wäre fast schon ein Albtraum, alles zu wissen. Gott sei dank können wir das nicht und werden das auch nie können. Wir haben nur einen begrenzten Zugriff auf die Welt“. Dementsprechend lässt er nur Ich-Erzähler*innen sprechen. Die Summe ihrer Perspektiven ist für ihn die bestmögliche Annäherung an die Wahrheit.
So entwirft der Autor einen großen endzeitlichen Roman voller philosophischer, existenzieller Fragen und voller dunkler, verstörender Textsequenzen, die einen magischen Reiz versprühen. Geschickt vermischt Knausgard Hysterie, Horror, Heavy Metal mit Mysterien, Theologie, Philosophie, Okkultismus und Crime und erzählt packend anhand von normalen Erzählbiografien über den Tod und seine Überwindung. Ein opulentes Lesevergnügen, das einem nicht leicht gemacht wird, aber einen auch nicht loslässt.

Karl Ove Knausgard: Das dritte Königreich, Luchterhand-Verlag, 2024, 656 Seiten.

Mein dritter Buch-Tipp behandelt ein aktuelles Thema, das selbst schon die Politik auf den Plan gerufen hat. Es geht um Einsamkeit und Isolation, was in Zeiten von immer mehr Single-Haushalten an gesellschaftlicher Relevanz zunimmt. Dabei denkt man fälschlicherweise eher an alte oder kranke Menschen oder Leute, die im Zuge von Corona allein zu Hause hockten, weil sie das Haus nicht verlassen durften. Dass diese Problematik aber auch scheinbar ganz normale Menschen treffen kann, beweist der Debütroman von Anton Weil: Super einsam.

Dabei ist der 1989 in Berlin geborene Autor eigentlich ein intelligenter und kreativer Mensch, der als Schauspieler, Sprecher und Musiker gearbeitet hat. 2021 veröffentlichte er unter dem Künstlernamen WEIL sein Debütalbum „Groll“, während er gleichzeitig einen ziemlich erfolgreichen Podcast unter dem Namen „Schöner Scheitern“ entwickelte. Jetzt also sein erstes Buch, eine rasante Geschichte über die Suche nach Halt und Zugehörigkeit, Identität und Männlichkeit. Ein ehrliches Debüt, das man nicht mehr aus der Hand legen möchte, super traurig aber auch superlustig. Man fühlt mit dem Protagonisten Vito und begleitet ihn bei seinem ganz eigenen (inneren) Roadtrip.

Vitos Herz ist kaputt. Ganz allein hockt er in seiner arschkalten Wohnung in Kreuzberg, weil seine Freundin - jetzt Ex - ausgezogen ist. Mit frischen 30 Jahren ist er also wieder Single und fühlt sich super einsam, hat keinen zum Reden und möchte mal wieder endlich in den Arm genommen werden. Sein Vater ist zwar Diplom-Psychologe, aber im Umgang mit seinem Sohn eher hilflos. Auch die Mutter, nach der er sich am meisten sehnt, ist nicht mehr greifbar, weil sie an Krebs gestorben ist, als Vito 17 Jahre alt war. Auch beruflich ist er anscheinend auf einem Weg, der ihn nur im Kreis herumführt, weil neue Auftrage als Schauspieler ausbleiben. Dementsprechend bleibt ihm kaum ein Ausweg, als abendlich in seiner Eckkneipe am Tresen von Claudi das Bier in rauen Menge in sich laufen zu lassen. Dass führt natürlich zum üblichen Kater am Morgen und der Unfähigkeit, etwaige Termine oder Castings wahrzunehmen. Aber was soll man machen, wenn das Bier so gut schmeckt. In diesen Kapiteln der Bierseligkeit erinnert der Roman stark an Herrn Lehmann von Sven Regner, der ähnlich herrlich über die Berliner Schnauze und seine Kneipenkultur schreiben konnte.

Anton Weil hat einen Sprachstil für seinen Protagonisten gefunden, der ziemlich gut die Probleme seiner Generation symbolisiert. Selten hat ein Autor den Ausraster von Vito bei Ikea so adäquat rekonstruiert oder auch seine Panikattacke vor dem Kondom-Regal in der Drogerie beschrieben - herrlich witzig, aber auch tragisch-komisch. Wenn man denkt, Anton Weil hat alle Karten ausgespielt, kommt er mit dem nächsten genialen Kapitel um die Ecke. Denn genauso hat der Schriftsteller sein Buch konzipiert. Kurze Geschichten, die auch allein stehen könnten, reihen sich aneinander. Dabei springen die Kapitel von der Gegenwart in die Vergangenheit, von der Realität in die Fantasie. Am Anfang kommt das außergewöhnliche Debüt noch recht cool daher, was eventuell manchen abschrecken könnte, aber mit der Zeit geht es weiter in die Tiefe, die einen echten Sog entwickelt.

Schlussendlich kann ich mich nur Sandra Hüller anschließen: „Wenn Schicht um Schicht abgetragen wird, fange ich an, Vito zu lieben, ihn zu verstehen und mit ihm zu weinen und mit ihm zu suchen und mit ihm zu wachsen, alles sieht jetzt anders aus. Ein erstaunliches Buch“.

Anton Weil: Super einsam, kein&aber-Verlag, 2024, 240 Seiten.

Mein nächster Tipp stammt von Axel Hacke, der seit den 1990er Jahren regelmäßig Kolumnen für das Magazin der Süddeutschen Zeitung schreibt und diverse Bücher veröffentlicht hat. Wobei man seine Bücher nicht unbedingt einem klassischen Genre zuordnen kann, obwohl sie meistens voller Humor und Alltagsweisheiten stecken. Sein letztes Buch, „über die Heiterkeit in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wichtig uns der Ernst des Lebens sein sollte“, erreichte er 2023 Platz 1 der Bestsellerlisten.

Jetzt hat er sich seinen Körper vorgenommen, den er trotz bekennender Hypochondrie erstaunlich wenig kannte, obwohl er regelmäßiger Leser des „British Medical Journal“ sei, der Pflichtlektüre für den Hypochonder von Welt. Dabei sind wir doch ohne unseren Körper nichts und umgekehrt der Körper ohne uns auch nichts sei. Also hat er sich als neugieriger und viel belesener Autor daran gemacht, die Geschichte seines Körpers aufzuschreiben. Und weil Hacke 68 Jahre alt ist, heißt das Buch dementsprechend „Aua!“

In insgesamt 15 Kapiteln erforscht er nun seine Organe und Körperteile und lässt dabei im übertragenen Sinne ziemlich die Hosen runter und erkundet den Körper, mit dem er sein ganzes Leben verbringt. Als Meister der Heiterkeit untersucht er sich selbst auf Herz und Hirn, Knochen und Zähne, Darm und Penis, wobei gleich am Anfang relativ deutlich wird, dass er es bedauert, dass der Mensch zu den wenigen Wirbeltieren gehört, die nicht über einen Penisknochen verfügen. Erektionsprobleme wären damit dann wohl eher selten. In dem speziellen Kapitel zum Thema geht es aber nicht nur um sein persönlich bestes Stück, sondern er erzählt von einem Freund, der nach einer Prostata-Operation neuerdings nach Innen ejakuliert.

Auch erfährt man, dass es in den 70er-Jahren Wissenschaftler gab, die das Phänomen von Penisverletzungen erforschten. Sein Lieblings-Urologe hatte damals seine Dissertation über Verletzungen des nicht erigierten Penis bei der Masturbation mit Staubsaugern geschrieben. Besonders beliebt war damals wohl das Modell „Kobold“, bei dem nach nur 11 cm Saugstutzen allerdings der rotierende Ventilator kam - Aua! Ich hatte schon früher von solchen Genitalverletzungen gehört, wobei die „Vampyrette“ eine einschneidende Rolle spielte, wie auch ein daran angelehntes böses Theaterstück von Charlotte Roche beschrieb. Hacke persönlich gehörte nicht zu den Geschädigten, hatte aber in der Jugend Probleme mit seiner Phimose, über die im Elternhaus natürlich aus Scham nicht gesprochen wurde. Also konnte er die notwendige OP erst in München, wohin er als 20jähriger Student ging, vornehmen lassen.

Ansonsten erfährt man über seine Handhaut, die altersbedingt „fleckig sei wie ein Tarnanzug“ oder dass er sich beim Meditieren schon einmal eine Rippe gebrochen habe, weil er nach Innen genießt habe, denn er zählte familiär zu den „Explosivprustern“ und „Niesvesuven“. Von seiner Körpermitte könne er stets auf seinen seelischen Zustand schließen, warum er seinen Bauch auch als „gewölbten Sorgenschwabbel“ beschreibt. Und als er einmal eine Wunde hatte, bildete sich eine dunkelrote Wucherung von überschießendem Fleisch, welches sein Arzt als „wildes Fleisch“ bezeichnete. „Ein Ausdruck, den ich nie mehr vergessen habe, weil er wie der Titel eines Pornos klingt“.

Natürlich gibt es noch vielerlei Eigenartigkeiten, die seinen und somit unserer aller Körper betreffen. Denn er hat gelesen, dass der menschliche Körper zu ganz wesentlichem Teil aus nicht menschlichen Organismen besteht. Auf und in jedem einzelnen unserer Körper existieren mehr fremde Lebewesen als Menschen auf der ganzen Welt: „Wir sind selbst ein Planet. Wir sind Besiedelte, Wir sind von Mikroben, von Milben, von Milliarden Lebewesen bewohnte Planeten.“

So staunt, schmunzelt, lacht man über 224 Seiten lang über das, was Hacke über dieses obskure Ökosystem herausgefunden hat, welches wir unseren Körper nennen. Wobei noch als weiterer Fakt hinzukommt, dass 98 Prozent der Atome im menschlichen Körper im Laufe unseres Lebens sowieso ausgetauscht werden.

Axel Hacke: Aua - Die Geschichte meines Körpers, Dumont-Verlag, 2024, Köln, 224 Seiten.

Wer mehr auf Graphic Novels steht, für den könnte mein nächster Buch-Tipp als Weihnachtsgeschenk in Frage kommen. Der in Berlin lebende und 1970 in Hürth bei Köln geborene Comic-Zeichner und Illustrator Reinhard Kleist hat mit „Low - David Bowie´s Berlin Years“ nach „Starman - David Bowie´s Ziggy Stardust Years“ seinen 2. Band über das Leben des englischen Rockstars veröffentlicht. Der vielfach Preis-gekrönte Zeichner hatte bereits sehr erfolgreiche biografische Comics von Jonny Cash oder einem anderen großen Erzähler der Musikwelt, Nick Cave produziert. Aber auch berühmte Bücher, wie George Orwells „1984“ oder „Schöne neue Welt“ von Aldous Huxley hat er mit seinen Illustrationen in neue Welten zeichnerisch erhoben.

Jetzt also die Berliner Jahre von David Bowie, der 1976, müde von seinem Ruhm und vollgepumpt mit Drogen, Los Angeles verlies, um in der von der DDR ummauerten Stadt in Ostdeutschland eine neue Freiheit zu suchen. Paranoide Jahre, in denen er die verschiedensten Rollen auf der Bühne spielte, wie Ziggy Stardust, Major Tom, The Thin White Dude oder Halloween Jack lagen hinter ihm. Er sehnte sich danach, nicht mehr auf allen Straßen als Rockstar erkannt zu werden und wieder sein wahres Ich zu finden. Also musste er die Stadt wechseln und fand in Charlottenburg zusammen mit seinem ebenfalls schwer den Drogen verfallenem Kumpel Iggy Pop, sowie seiner persönlichen Assistentin Coco Schwab eine Altbauwohnung. Dabei war Berlin augenfällig eigentlich nicht gerade der richtige Ort, um seine zerrissene Seele zu heilen. Anderseits konnte er gemütlich mit dem Fahrrad alle interessanten Orte der Stadt, die irgendwann immer an einer Mauer endeten, erradeln und sich so frei fühlen wie nie.

Er machte zwischen 1976 und 1978 den kalten Entzug von den harten Drogen und schaffte es sogar, selbst Iggy aus dem dunklen Sumpf der Abhängigkeit zu retten. Berlin stellte sich als rettendes Sanatorium für die beiden Rock-Kumpels heraus. In den nahen Hansa-Studios, die direkt an der Mauer im Niemandsland lagen, nahm Bowie dann sein Album „Low“ auf. Und selbst Iggy schaffte von dort aus sein Comeback. Bowie nahm damit Abschied vom Glam-Rock und alten Titeln wie „Young Americans“ und besann sich auf seine Wurzeln aus Funk und Soul. Veränderungen, wie Abschiede und Aufbrüche gehörten schon immer zum Leben von David Bowie, wie man auch in verschiedensten Rückblenden von Bowies Leben, bevor er nach Berlin ging, im Buch nachvollziehen kann. Den knallbunten Farben der frühen 70er Jahre stellt Kleist immer wieder Rückblenden in Brauntönen gegenüber.

Ein weiterer Kunstgriff des Comiczeichner ist, dass er wie bereits im ersten Band eine persönliche Ebene zwischen dem Erzähler und dem Gegenstand herstellt, indem er Bowie mit „Du“ anredet. Einfarbig kommen auch einzelne Passagen wie die Rückblenden vor der Berlin-Zeit wie beim Gespräch mit John Lennon daher. Gleiches gilt für die Auseinandersetzungen mit seinem früheren Management oder seiner ersten Frau, Angela, die in grün oder gelb-braun gezeichnet sind. Ansonsten berichtet Kleist über die Zeit, in der Bowie und Iggy Pop gemeinsam die Stadt entdecken, durch die angesagten Clubs wie den Dschungel ziehen ohne von lästigen Fans beglotzt und angesprochen zu werden und überwiegend kaum auffallen. Zusammen gehen sie auf Konzerte der angesagten deutschen Avantgarde-Bands wie Kraftwerk und Can. Bowie freundet sich auch mit Ingo Froböse von Tangerine Dream an und sieht Auftritte von Billy Idol und wundert sich: „So sieht also die Zukunft der Pop-Musik aus“? Auch besuchen sie den Ostteil der Stadt und fühlen sich wie in einem anderen Land, dass nach Kohlen und Kohl stinkt.

Gleichzeitig führt Bowie aber auch eine Beziehung zur transsexuellen Künstlerin Romy Haag, die ihm den Kopf verdrehte und ihr berühmtes Cabaret „Chez Romy Haag“ zu einem der angesagtesten Locations der Siebziger Jahre machte. Die Dekadenz der 20er Jahre sind auf einen Mal wieder total in, aber auch Bertolt Brecht ist für Bowie in der geteilten Stadt wichtig. Und dann gelingt Bowie mit der Aufnahme von „Heroes“ sein größter Hit aller Zeiten, der von zwei Liebenden im Schatten der Mauer erzählt. Wenig später produziert Nile Rogers mit ihm den nächsten Kracher: „Let´s dance“. Die Entstehung dieser bahnbrechenden Pop-Songs wird ebenfalls im Band erzählt.

So gelingt Reinhard Kleist mit Low eine detailreiche, wunderbar gezeichnete und aufregend farbig gestaltete Biografie eines der brillantesten Musikern der Pop-Geschichte, der in seiner Vielseitigkeit unübertroffen ist. Zwar schreibt sein Verlag Carlsen: dass dies der zweite und letzte Teil der Bowie-Geschichte sei, aber das Leben des exzentrischen Stars ja noch viele Jahre anhielt. Bleibt zu hoffen, dass sich der Verlag und Reinhard Kleist das noch einmal anders überlegen.

Reinhard Kleist: Low - David Bowie´s Berlin Years, Carlsen Comics, Hamburg, 2024, 178 Seiten.

Zum Abschluss meiner Buch-Tipps für Weihnachten habe ich noch einen wunderbaren Band für Leute, die lieber schauen als lesen. Der Hamburger Mare-Verlag bringt immer am Ende des Jahres einen Bildband über eine Stadt oder Landschaft heraus. Dazu laden sie berühmte Fotografen und spezielle Kenner ein, die meist mehrfach die jeweilige Stadt besuchen. Das war im aktuellen Fall gar nicht nötig, denn Palani Mohan, ein Australier wohnt in Hongkong, der großartigen Stadt in China, die zu den sogenannten Mega-Cities gehört.

Eigentlich war der Verlag zunächst nur an einer Geschichte über die sogenannte Star-Ferry interessiert, die die Zentren der Stadt mit seinen insgesamt 263 vorgelagerten Inseln verbindet. Der Fotograf sollte eigentlich nur etwa fünf Fotos schicken, aber der überraschte den Verlag mit ein paar Dutzend beeindruckend sensiblen, geheimnis- und stimmungsvollen Aufnahmen, die nicht nur den Hafen thematisierten, sondern ein Gefühl für die Stadt übermittelten und gleichsam tief die Seele berührten, wie der Herausgeber Nikolaus Gelpke in seinem Vorwort im Band berichtet.

Also folgte die logische Konsequenz mit der Beauftragung des Fotografen mit einem Bildband. Hongkong ist nicht nur ein sicherer Hafen, ein Schmelztiegel von chinesischer Bevölkerung mit britisch kolonialer Geschichte, sondern auch einmalig in seiner weltoffenen Vielfalt, auch wenn in den letzten Jahren die versprochene Demokratie mit den zwei Systemen nach dem Abzug der Briten aus ihrer ehemaligen Kolonie durch knallharte Politik und Gewalt von Zentralchina wieder einkassiert wurde. Wer erinnert sich nicht an die massenhaften Proteste der Bevölkerung? Im Jahr 2014 gingen vor allem junge Leute für Monate auf die Strassen mit Regenschirmen in den Händen, um sich vor den Wasserwerfern und dem Pfefferspray der Polizei zu schützen. Als „Umbrella Movement“ gingen die Demonstrationen für Demokratie in die Geschichte ein. Trotzdem konnten auch erneute Proteste die Verabschiedung der verhassten Nationalen Sicherheitsgesetze zwischen 2019 und 2020 nicht verhindert werden.

Seitdem mussten die meisten Aktivisten das Land verlassen oder wurden für Jahre in die Gefängnisse gesperrt. Die Demokratie-Bewegung scheint Geschichte zu sein. Trotz allem ist Hongkong immer noch einzigartig. Es lässt sich in der Stadt gut leben, wenn man das nötige Geld und die Beziehungen hat. Neben einer bemerkenswerten Lebensqualität punktet Hongkong auch heute weiterhin mit seiner Wirtschaftskraft und einem BIP pro Kopf von etwa 46.000 Euro, welches Deutschland entspricht, wie Jan Keith im Band begleitend erklärt.

Und der Fotograf Palani Mohan schafft es in seinen Bildern, diese ganzen Widersprüchlichkeiten abzulichten. Weil er sich gut in Hongkong auskennt, weiss er wann er an welchen Orten sein muss, um die richtigen Lichtverhältnisse zu erwischen. Welche Tageszeiten richtig sind, um das sprudelnde Leben zu zeigen. Mal ist er bei Wind und Wetter unterwegs oder im Nebel oder bei rauer Hitze. „Ich fotografiere Hongkong seit mehr als 25 Jahren. Jedes Mal, wenn ich durch die Straßen gehe, sehe ich etwas, was ich noch nie zuvor gesehen habe; das finde ich sehr aufregend. Ich liebe dieses Geheimnisvolle. Diese Stadt wird mir nie langweilig“, befindet Mohan.

So zeigt er Bilder der glitzernden Hochhaus-Stadt, aber auch intime Momente und Porträts einzelner Bewohner, wie den Gitarristen, der in sich versunken vor den Lichtern des Hafens am Ufer sitzt. Er zeigt Armut und Reichtum, die berüchtigten Käfighäuser, wo Menschen eingezwängt in kleinen Metall-Käfigen leben, weil sie sich keine Wohnung leisten können. Selbst Wohlhabende müssen meist mit 40 - 50 Quadratmeter-Wohnungen zufrieden sein. Denn eingezwängt zwischen Festlandchina und dem Meer ist der Platz knapp, auch weil immer mehr Flüchtlinge und Zuwanderer in die Stadt strömen. Man erfährt aber auch, dass es über 100.000 Millionäre in Hongkong leben, während 20% der Bevölkerung unter dem Existenzminimum leben müssen.

All diese Gegensätzlichkeiten zwischen 5-Sterne-Hotels und Luxus-Restaurants und den Wellblechbuden der Menschen, die trotz Vollzeit-Job keine Wohnung finden, schaffen es auf die Bilder von Palani Mohan. Ebenso wie Fotos von gerupften Enten in den Schaufenstern von Restaurants oder chinesische Schriftzeichen auf Mahjong-Spielsteinen. Dazu immer wieder sehr intime Porträts der Bewohner der Stadt oder beeindruckende Meeresbilder in Sturm und Regen - großartig wie eigentlich immer in den Bildbänden aus dem Verlag der Meere aus Hamburg.

Palani Mohan: Hongkong, Mare Verlag Hamburg , 2024, 132 Seiten, mit Texten vom Herausgeber Nikolaus Gelpke und Jan Keith.

Die Bücher sind in den inhabergeführten Buchhandlungen BellingProsa, Buchfink, Arno Adler, Langenkamp, maKULaTUR, Störtebeker, Buchstabe und Bücherliebe erhältlich.

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

Sie haben keine Berechtigung hier einen Kommentar zu schreiben.