Jetzt im Lese-Frühling möchte ich der geneigten Leserschaft zwei beeindruckende neue Bücher vorstellen, die zwar fiktional, also erfunden sind, aber der bedrohlichen Realität der Jetztzeit beängstigend näher kommen.
Von vielen Seiten als eine der wichtigsten Neuerscheinungen des noch jungen Jahres bezeichnet, kommt mit „Trophäe“ von der flämischen Autorin Gaea Schoeters ein radikaler, wuchtiger Afrika-Roman daher. Ein Roman, der erschüttert und der bis zur letzten Zeile nichts an Spannung auslässt. Dabei erzählt die Schriftstellerin, wie weit wir uns als Menschen aus dem Gefüge der Natur entfernt haben. Sie beschreibt jene Sorte Mensch, die sich als Mittelpunkt des Seins sieht und selbst den Kampf um Leben und Tod zu einem Spiel erklärt, dessen einziger Zweck die Befriedigung einer Herausforderung ist.
Es geht um Hunter White, einen steinreichen Börsenhändler. Der weiße Jäger mit dem nicht zufällig sprechenden Namen hat eine exorbitant hohe Summe gezahlt, um ein Spitzmaul-Nashorn schießen zu dürfen als Krönung seiner Trophäensammlung. Obwohl diese Nashorn-Spezie auf der Liste der besonders bedrohten Arten steht, sieht sich der Protagonist sogar als Wohltäter, denn mit dem Geld trägt er gleichzeitig zur Erhaltung der Art bei. Hunter ist ein erfahrener Jäger, der glaubt, einer der „Guten“ zu sein, für den gleichzeitig Afrika nichts weiter als ein Jagdrevier ist, das er wie einst die Kolonialherren nach Lust und Laune ausbeuten kann. Doch dieses Mal wird der erfolgsverwöhnte Jäger um seine „Trophäe“ gebracht: Wilderer kommen ihm zuvor und schlachten das Tier ab. Eine unstillbare Unruhe ist die Folge. „Das Adrenalin, das sich während der Jagd angesammelt hat, die angestaute Anspannung, die sich in einem Schuss hätte entladen müssen, hat keinen Weg nach draußen gefunden und vergiftet sein Blut“.
Dann geschieht das moralisch Schockierende: Aus der Tier- wird eine Menschenjagd. Souverän erschüttert die Autorin Schoeters die Erwartungen der Leser*innen. In einer Kombination aus Hemingway trifft Kafka und Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ geht der Jäger einen schockierenden Deal ein: Anstatt des Nashorns, seine verbliebene Trophäe aus dem Kreis der „Big Five“ - fast schon ein „Coitus interruptus des Jagens“, wird ihm ein einheimischer junger Jäger angeboten. !Nqate, ein Angehöriger der San-Kultur, kennt sich natürlich bestens aus in der Gegend und hetzt als Jäger seine Jagdbeute durch seine unglaubliche Energie und läuferischen Fähigkeiten zu Tode. Dadurch wird der Roman zum Krimi, zum Pageturner. Jäger und Opfer brechen auf in ein Abenteuer mit offenem Ausgang, einem letzten Gegenübertreten zweier ungleicher Welten, einem Showdown mit tödlichem Ausgang.
„Trophäe“ lässt einen teilweise selbst das Blut in den Adern gefrieren. Es ist ein brillanter Roman von radikaler Konsequenz, ein Schock. Selten wurde das heutige Afrika mit soviel Realismus und Scharfsinn beschrieben. Gleichzeitig ist der Roman eine „Parabel von der Natur des Menschen und der Natur im Widerstand gegen den Menschen. Ein Blitz im Herzen der Finsternis“, befindet Robert Menasse. Das Buch ist nicht einfach eine wilde Geschichte über einen Kontinent, der den meisten Menschen immer noch fremd ist, der noch heute von royalen Fotos von Prinzen und Königen auf Großwildjagd romantisiert wird, der aber gleichzeitig aus westlicher Sicht zum Freizeitpark wird, wo sich Typen wie Hunter in unglaublicher Dekadenz aufgrund absurden Reichtums die Welt Untertan machen. Eine Art Mensch, die sich mit Macht und Reichtum alles erkaufen und meint, leisten zu können, was ihre Lust befriedigt, die das Blut fliessen lassen muss, um sich selbst lebendig zu fühlen.
Gaea Schoeters: Trophäe, Paul Zsolnay Verlag, Wien, 2024, 256 Seiten, 24 Euro.
Auch mein zweiter Buch-Tipp beginnt förmlich mit einem Faustschlag: Venedig, die einzigartige Stadt der Sehnsüchte, die 30 Millionen Besucher pro Jahr den Atem stocken lässt, existiert nicht mehr. Die jährlichen Hochwasser, das sogenannte „Acqua Alta“, vor der sich seit Jahrhunderten Anwohner und Besucher fürchten, hat mit einer riesigen Flutwelle die komplette Stadt zerstört.
Dieses Horrorszenario, das hoffentlich nicht so bald eintrifft, derweil ich mal wieder in ein paar Wochen die traumhafte Stadt zum Besuch der Kunst Biennale besuchen möchte, kann tatsächlich im Zuge von Klimawandel mit Meeresspiegelanstieg, Stürmen und Stark-Regen Realität werden. Da hilft auch das Milliardengrab des gigantischen Sperrwerks am Rande der Lagune nichts, außer dass sich korrupte Politiker mit gigantischen Summen die Taschen voll gestopft haben. Nicht nur Naturschützer haben jahrelang davor gewarnt, dass dieses Stauwerk „MO.S.E.“ unter Umständen die Gefahr für die Menschen in der Stadt noch steigern könnte.
Die Autorin Isabelle Autissier war die erste Frau, die vor mehr als dreißig Jahren im Rahmen einer Regatta allein um die Erde segelte. Sie war zudem lange Jahre Präsidentin der größten Naturschutzorganisation der Welt, des WWF. Jetzt hat sie als Bestseller-Autorin mit „Acqua Alta“ einen wahnsinnig packenden, wie höchst relevanten Roman geschrieben. Acqua Alta, was auf italienisch Hochwasser bedeutet, beschreibt, was in Venedig passieren könnte, wenn die Stadt überflutet wird. Gleichzeitig erzählt sie vom Zerbrechen einer Familie, einem heftigen Vater-Tochter-Konflikt vor atemberaubender Untergangskulisse. Wobei der Mythos von Untergangsvisionen der Stadt Venedig genauso wie die Nebelschwaden am frühen Morgen, die unzähligen Paläste und Kirchen zur Stadt gehören, wie heutzutage die Touristenmassen, riesige Kreuzfahrtschiffe und die unzähligen Kanäle durch die die Gondeln zahlungskräftige Besucher schaukeln.
Die Hauptfiguren: Guido Malegatti, der aus einfachen Verhältnissen stammt, hat sich als Bau-Unternehmer und Wirtschaftssenator hoch gearbeitet. Seine Frau, die phlegmatische Maria Alba, die aus einer alten Adelsfamilie stammt, die seit Jahrhunderten mehrere Dogen stellte und eng mit der Geschichte Venedigs verwoben ist, lebt in einer Phantasiewelt und verbringt den größten Teil ihres Lebens in der Hollywood-Schaukel auf ihrer Terrasse. Die Tochter Léa hat zwar das Bewusstsein, Teil einer Jahrhunderte alten Geschichte zu sein, beginnt sich aber mit der Aufnahme eines Kunst-Studium für Umwelt und Naturschutz zu engagieren. Aus Liebe zu ihrer Heimatstadt beginnt sie, sich als Umweltaktivistin zu radikalisieren und sich immer weiter von ihrem Vater und der Familie zu entfernen. Als dann das Inferno beginnt, überlebt der Vater, während die Mutter auf der Terrasse erschlagen wird und die Tochter als vermisst gilt. Das komplexe System der Lagune wird zerstört, alles liegt in Trümmern und die Stadt Venedig existiert nicht mehr.
Im Laufe des Romans beginnt der Prozess mit Ansage: Millionen von Touristen zertrampeln die Stadt, während die Stadtoberen und Politiker nur auf das Geld starren. Frühere Handelsströme, die Venedig reich und mächtig gemacht hatten, sind heute durch die Touristenströme ersetzt worden. Am Beispiel der Familie Malegatti, bestehend aus einem Macher, einer phlegmatischen Träumerin und einer aktivistischen Tochter macht die Autorin ein Kammerspiel, bei dem sich die Stadt einem Punkt nähert, von dem es kein Zurück mehr gibt. Ein Drama, das sich auf die gesamte Welt übertragen ließe. Und dieses irgendwann ist nicht eine weit entfernte Dystopie, sondern findet an vielen Ecken unserer Welt schon jetzt statt. Isabelle Autissier gelingt mit ihrem Roman eine Mischung aus Sachbuch und Fiktion, die fesselt, aufrüttelt und Sorgen bereitet. Denn nach wie vor scheinen Einnahmen aus dem Tourismus wichtiger als der Erhalt der Stadt Venedig, selbst wenn die größten Kreuzfahrtschiffe mittlerweile verbannt sind und die Horden von Touristen mit einem Eintrittsgeld ins Museum Venedig abgeschreckt werden sollen.
Isabelle Autissier: Acqua Alta, Mare Verlag Hamburg, 2024, 208 Seiten, 23 Euro
Die Bücher sind in den inhabergeführten Buchhandlungen Belling, Prosa, Buchfink, Arno Adler, Langenkamp, maKULaTUR, Störtebeker, Buchstabe und Bücherliebe erhältlich.