Heute stelle ich ein Lübeck-Buch vor, das so ganz anders als die bekannten Lübeck-Führer daher kommt. Seit vielen Jahren gibt der Hamburger Mare-Verlag Bücher heraus, in denen Autorinnen und Autoren über ihre Lieblingsorte am Meer schreiben. Unter der Rubrik "Mein …." waren bis dato hauptsächlich Inseln das Thema der Reihe. Jetzt hat es der 1969 in Lübeck geborene Schriftsteller, Lektor und Moderator Klaus Ungerer in diese wunderbare Buch-Reihe geschafft.
Mit „Mein Lübeck“ erzählt er von seiner Heimatstadt, obwohl er diese Richtung Berlin bereits im Jahre 2003 verlassen hatte. Auch wählt er einen anderen Ansatz als die gewohnten Lübeck-Beschreibungen aus Holstentor, Marzipan und Nobelpreisträgern, die bei ihm nicht gerade besonders gut weg kommen. Ungerer ist zwar mittendrin aufgewachsen zwischen den alten Backstein-Häusern, geht seine Lübeck-Erzählung aber aus einer ganz anderen Richtung an. Nämlich aus alten Geschichten seiner Urur-Oma Therese, deren Aufzeichnungen er gelesen hat.
Im gesamten Buch geht er deshalb einer alten Liebesgeschichte nach und zeichnet anhand von Therese mit Hilfe vieler Anekdoten und Döntjes ein anderes Bild seiner Heimatstadt. Dabei taucht er tief in die Geschichte der alten Hansestadt ein. Er erzählt von Alt-Lübeck, das es heute gar nicht mehr gibt, aber von dem die Ausflugsbootführer immer gerne berichten, wenn sie mit ihren Schiffen gerade dort vorbeifahren. Er berichtet vom Mövenstein am Brodtener Ufer, der immer tiefer im Sand versinkt, der aber Beliebtheit und Berühmtheit erlangte, weil schon in mythischen Zeiten zwei Riesen sich an der Mündung der Trave bekriegten, so dass der Priwall entstand beim Steineflitschen - aber auch Lilo Pulver soll dort in einem Film schon auf dem Stein gehockt haben.
Und dann kam die DDR, die den Priwall zu einer Halbinsel machte mit Grenzzaun quer über den Strand, wo jetzt noch immer die Passat liegt, das stolze Segelschiff, wo man heute übernachten oder Hochzeiten feiern kann. Das Schwesterschiff versank allerdings vor Kap Horn. Darüber berichtet der Autor ausführlich, weil ja auch schon seine Lehrerin Frau Bolm aus ihm und den anderen Kindern stolze Hanseaten machen wollte; genauso über die geschmolzenen Glocken der Marienkirche, die bei der Bombennacht 1942 in die Tiefe stürzten, als die berühmten Kirchtürme in Flammen standen, wie ihm seine Großmutter bei einem Besuch erklärte. Gemeinsam mit seinem Vorfahren, dem Sagensammler Ernst Deecke fabuliert er über altes und was daraus geworden ist, wenn er eigentlich über seine eigene Geschichte und die erste scheue Liebe erzählt. Dabei blitzt aber immer auch etwas Kritik auf, denn eigentlich gefällt es ihm gar nicht, wie sich Lübeck als die ewig Schöne und Prächtige aus dem Mittelalter präsentiert, die möglichst viele Touristen anlocken will.
„Liebe Touristen, herzlich willkommen in unserer schönen Stadt! Bitte legen sie kurz das Fischbrötchen beiseite. Folgende Attraktionen haben wir für sie hingestellt, bitte kurz abnicken, sie werden in diesem Buch keine Rolle spielen: Dann macht er sich über das Buddenbrookhaus lustig, weil die berühmten Gebrüder Mann dort schließlich nie gelebt haben, und die Stadt es aktuell nicht schafft, das Gebäude zu erneuern, weil sowohl das Geld als auch die Streitigkeiten darüber in einer Endlosschleife aus Parteiengezänk und Denkmalschutz völlig aus dem Ruder laufen. Auch das Grass-Haus bekommt sein Fett weg, weil uns Günter Grass irgendwie zugelaufen sei und sich mit seiner ondulierten Sprache als Wiedergänger von Thomas Mann mit gleicher staatstragender Selbstverständlichkeit erweisen würde.
Überhaupt kommt seine Heimatstadt häufig nicht besonders gut weg, obwohl er Lübeck doch eigentlich liebt. Besonders in seiner Jugendzeit war er viel unterwegs, mochte das Body & Soul lieber als die Disko Hüx, sah im „Hoffnung“, dem ersten Programmkino der Stadt, die „Unerträgliche Leichtigkeit des Seins“, während er brav und schüchtern neben seiner ersten Liebe saß. Danach ging es zum Chili-con-Carne-Essen Richtung Balauerfohr. Und am Wochenende natürlich immer zum VFB ins Stadion an der Lohmühle, wo er 1988 im Mai zum ersten Mal wieder geweint hatte, nach all den schrecklichen Jahren, die man die Jugend nennt.
So schreibt sich Klaus Ungerer, dem man seine Jahre im Feuilleton der FAZ deutlich anmerkt, zu denen ihn Frank Schirrmacher 1998 nach Frankfurt holte, durch eigene und uralte Geschichte Lübecks. Mal lustig, mal bissig, aber immer sehr belesen: von Ernst Deecke bis Dichter Geibel durchstreift er unser Lübeck und berichtet für die Leute da draußen, was unsere Heimatstadt so attraktiv macht abseits von Backsteingotik und Niederegger. Mal in typisch norddeutschen Schnack, mal historisch aufgeladen zeichnet er ein Bild von Lübeck, das sich meist mit meinen eigenen Ansichten und Erlebnissen deckt, dabei bin ich nicht hier geboren, sondern erst Anfang 1980 zugezogen, dafür aber nicht mehr weggegangen.
Und für Besucher hat er auch immer noch so ein paar Tipps auf Lager, die sich wirklich lohnen, wie zum Beispiel Lübecks kleinste Zimmerkneipe, das Tibia Tick oder das Tipasa, wo ich auch schon viel Zeit verbracht habe, damals wie heute. Wie steht es so schön auf der natürlich mit Backstein-Fotos dekorierten Rückseite des Buches: „Weißt du, Gisela, hier will ich sterben“.
Klaus Ungerer: Mein Lübeck, Mare-Verlag Hamburg, 2023, 155 Seiten, 20 Euro.
Das Buch ist in den inhabergeführten Buchhandlungen Belling, Prosa, Buchfink, Arno Adler, Langenkamp, maKULaTUR, Störtebeker, Buchstabe und Bücherliebe erhältlich.