Eigentlich gibt es momentan ja nicht viel zu lachen. In der Ukraine explodieren die Bomben Putins in einem wahnsinnigen Krieg, und bei uns steigen die Coronazahlen in nie geglaubte Höhen, während man sich wieder locker macht. Der Klimawandel scheint in den Hintergrund gerückt und wird kaum noch diskutiert. Dafür regt sich die Gesellschaft über hohe Spritpreise und Gasrechnungen auf.
Wie absurd das alles. Damit wir nicht in eine Dauerschleife von Wut, Depression und Trauer verfallen, wäre doch ein wenig positive Ablenkung sinnvoll. Mein Vorschlag: Der Griff zum guten Buch, aber diesmal mit viel Witz, Humor und Verstand.
Meine Buch-Tipps drehen sich um einen ewigen Hippie, der jetzt auch schon Siebzig wird, eine Wiederentdeckung einer alte Groteske, die selbst Thomas Mann gefiel, einen hoch komischen Provinzroman, ein geniales Reisebüro im Osten, mit deren Hilfe man mit Hypnose durch die Welt reisen kann, sowie ein Spezial-Tipp für Liebhaber der sozialen Medien über den klügsten Menschen im Facebook.
Helge Timmerberg, der ewige Hippie-Reisejournalist ist vor Kurzem 70 Jahre alt geworden und hat dazu in seinem mittlerweile 17. Buch ein sehr persönliches Fazit gezogen. Mit „Lecko Mio - Siebzig werden“ hat er jetzt eine Textsammlung von insgesamt 22 kurzen und langen Kapiteln vorgelegt, die sich in seinem speziellen Ton und in seiner unverkennbaren Sprache mit dem Älterwerden auseinandersetzen. Es geht um Bauch, Beine, Po, Gewichtsreduzierung, Drogen, Zahnarztbesuche, Bartwuchs, Eltern, Rauchen, Sexualität, Altenheime, Brillen, den letzten Sommer, Frieden und schönes Wetter.
Helge Timmerberg ist seit den 80er Jahren einer meiner persönlichen Helden. Wie er, habe ich mich jahrelang in Asien, Afrika und der Welt rumgetrieben und dabei immer einmal wieder von seinen Reise-Erfahrungen profitiert. Ein Pop-Literat mit extrem subjektiven Auge, der eine ganze Generation an Kollegen inspiriert hat. Seine Geschichten steckten immer voller persönlicher Erfahrungen, schrillem Humor, großer Unterhaltsamkeit, aber vor allem Weisheit. Es gibt Bücher von ihm, in denen ich früher wegen seiner Genialität jeden zweiten Satz unterstrichen hatte, damit man die schlauen Sätze nicht vergisst. Dabei waren die anderen Sätze nicht weniger klug und weise. Seine im amerikanischen Gonzo-Journalismus geprägten Reisereportagen führten ihn vom geliebten Indien nach Marokko, von der Schweiz bis nach Kuba, wo er auch jeweils lange Zeit gelebt und gearbeitet hat.
Aktuell treten seine abenteuerlichen Reisen etwas in den Hintergrund. Corona, Home-Office und Älterwerden haben selbst ihn ein wenig sesshafter gemacht. So überrascht er sich und seine Leser nun mit vielen anekdotischen Erinnerungen und skurrilen Erzählungen aus seinem bewegten Leben. Dabei gerät er manchmal in amüsiertes Plaudern, dann wieder in seine typische Mischung aus Humor, Witz, Ironie und unterhaltsamen philosophischen Gedanken über alles, was ihn in seinem Leben noch bewegt.
Seine zwanzig Kilo Bauchfett zum Beispiel, die ihn beim Hochsteigen der 163 Stufen von der Altstadt in St. Gallen zu seiner Wohnung zum Rosenberg arg in Schweiß und Atemnot brachten, speckte er durch eine Spezial-Diät ab: 8/16. „Unheimlich einfach, total effektiv. Acht Stunden darfst du alles essen, sechzehn Stunden nichts. Und die Hälfte von den sechzehn stunden schläfst du. Nennt sich Intervallfasten, das machen gerade alle, von Jennifer Lopez bis Jesus Christus“. Was ihm als persönliche Nacht-Eule sowieso gut zu Pass kam. Er arbeitet meist nachts bis morgens um sechs, schläft dann bis vierzehn Uhr, gegessen wurde nur zwischen sechzehn und zweiundzwanzig Uhr.
Problematisch waren nur seine Kiffer-Rituale, ohne die er nicht arbeiten kann. Als bekennender Kiffer kennt er natürlich auch den oralen Fressdruck nach dem Rauchen. Konnte sich da aber im Griff behalten. Schwieriger wurde es dann schon, als er sich einer Zahn-OP mit Implantaten unterziehen mußte, wobei er als Kettenraucher mit den Zigaretten für 14 Tage wegen der Infektionsgefahr aufhören musste. Nach vielen harten inneren Diskussionen mit sich, hat er selbst das geschafft. Allerdings musste er sein Dope dafür oral zu sich nehmen, um weiter Schreiben zu können. Da explodiert schon mal der Joghurt. Richtig anrührend sind die Geschichten über seine Eltern und deren Sterben. Vom ungeliebten Vater blieb ihm zumindest ein wunderbarer alter Benz, den er heute noch fährt. Voller Emotionen dagegen sein Bericht über die Mutter, die in einem Altersheim stirbt. Sein Fazit: Lieber Tod als Altersheim.
Aber was ist mit sinkendem Testosteronspiegel, wo er doch früher eigentlich täglich Sex hatte? Mittlerweile ist er altersbedingt bei einmal im Monat angekommen, und das zumeist auch nur noch im Kopf. Auf blaue Pillen hat er aber keine Lust, denn „Sex soll schon auch Spass machen“. Bei den Problemlösern der Pharmaindustrie kam er sich eher wie ein mechanischer Erledigungsroboter vor. Da helfen selbst seine „rattenscharfen Internetbekanntschaften“ nicht wirklich weiter. Also befasst er sich mehr mit Alltagsproblemen wie das Für und Wider einer Gleitsichtbrille, oder ob er als fauler Putzmuffel nun doch endlich eine Putzfrau braucht.
Auch vor super peinlichen Bekenntnissen macht Helge nicht halt. So berichtet er von einer Hochnot- peinlichen Begebenheit in einer Pension bei einer seiner Lesereisen. Beim Frühstück bekam er „in einer atmosphärisch toten, aber putzsauberen Pension im Schwarzwald“ einen „shitstorm classic“. Er wollte wegen Magenkrämpfen einen Druckausgleich herstellen und ein paar Winde fahren lassen. Dabei kam es aber zu einer Explosion mit einem „Durchfall wie ein Blitzkrieg“. Er saute nicht nur sich selbst völlig ein, sondern auch den Stuhl, auf dem er gerade saß. Schockschwerenot! Sein Versuch, sich selbst und später dann das peinlich umgedrehte Polster zu reinigen, ging ebenfalls in die Hose, denn die Vermieterin war schneller und reagierte mit Geruchsneutralisierer, verschränkten Armen und starrem Blick einer geschockten Schwäbin. Blieb ihm also nur die Flucht. Das positive an dieser peinlichen Story: „Die sparsamen Schwaben des Literaturvereins müssen in Zukunft für ihre lesenden Autoren dann doch das einzig richtige Hotel im Ort buchen, obwohl es vier Sterne hat“. Seine Kollegen wird es gefreut haben. Ihm selbst war die Geschichte noch zehn Jahre lang super peinlich, deshalb hat er sie jetzt auch rausgelassen.
Dann doch lieber ein paar wirklich wichtige Gedanken eines alten weisen Mannes, der sich nicht mehr Cancel Culture und den Besserwissern aus der jungen Generation unterwerfen will und der keine Lust verspürt, dem Zeitgeist in den Knackarsch zu kriechen. „Ich bin weiß. Ich bin alt. Ich bin ein Mann. Und meine Privilegien habe ich mir verdient. Das Privileg der Jungen ist der Ozean an Leben, den sie noch vor sich haben. Unverdient. Das ist ein Geschenk. Mein Vorschlag zur Güte wäre, dass jeder seine Privilegien genießt und keiner den anderen zuquatscht. Denn dafür habe ich einfach zu wenig Zeit. Die durchschnittliche Lebensdauer des europäischen Mannes beträgt siebenundsiebzig Jahre. Statistisch bleiben mir nur noch 2555 Tage. Ich schipper vor der anderen Küste des Ozeans. Also salve, ihr neuen Cäsaren! Die Todgeweihten grüßen euch“.
Helge Timmerberg: Lecko Mio - Siebzig werden, Piper Verlag München, Januar 2022, 192 Seiten.
Bereits aus dem Jahr 1914 stammt der absurd-groteske Klassiker „Solneman der Unsichtbare“ von Alexander Moritz Frey. Jetzt ist im Elisor-Verlag eine Neuausgabe dieser Satire auf den Geist des deutschen Kaiserreichs mit einem sinnlich zu lesenden Vorwort von Sibylle Lewitscharoff erschienen. Ein zeitlos komisches Buch, das selbst Kurt Tucholsky amüsierte: „Es geht alle an, die Spaß an barockem Humor haben. Ich sage absichtlich nicht: grotesk - das ist der Humor auch -, aber da ist doch noch ein Ton, der aufhorchen macht, und der nicht auf der Mohnwiese E. A. Poes gewachsen ist: ein schneidender, eiskalter Ton“. Auch Thomas Mann gefiel der Roman mit seiner grotesken Überwirklichkeit und milden Absurdität, die aber mit literarischer Höflichkeit und still parodistischer Hergebrachtheit vorgetragen sei, „eine Haltung, die ich schätze“.
Die Geschichte ist ebenso zeitlos wie amüsant. Solneman, also rückwärts gelesen: Namenlos, kommt als geheimnisvoller Fremder in eine deutsche Großstadt und kauft von der Stadt für die damals absurde Summe von 150 Millionen Mark den dortigen Park. Um seine absolute Anonymität und seine Privatsphäre zu schützen, lässt er eine dreißig Meter hohe Mauer um das gesamte Areal bauen. Sein geheimnisvolles Eigentum bestückt er dann mit Elefanten, Tigern, Gnus, Affen und einer riesenhaften schwarzen Frau. Auf dem Rund der Mauer veranstaltet er Wagenrennen oder legt später einen Kanal an, auf dem er mit einem Rennboot seine Runden dreht. Je absurder und geheimnisvoller seine Aktivitäten im Park ausfallen, desto mehr steigert sich die Neugier und Sucht nach Erklärungen in der Bevölkerung und in den Obrigkeiten.
Dabei taucht der Geheimnisvolle anscheinend immer mal wieder unerkannt in der Stadt auf. Also versucht man alles, um hinter seine obskuren Geheimnisse zu kommen. Man versucht es mit einem Klein-Flugzeug, gräbt riesige Tunnel oder versucht, die immense Mauer zu erklimmen. Aber alle Versuche scheitern, oder werden vom frei laufenden Tiger vereitelt. Selbst die Tochter des Bürgermeisters versucht sich an den angeblich einsamen, aber märchenhaft reichen Mann ranzuschmeißen. Mit knappen, schnellen Dialogen und einem atemberaubenden Erzähltempo entwickelt sich eine unglaubliche Groteske über Eitelkeiten, verfilzte Bürokratie und Hysterie in der Bevölkerung bis hin zum Kaiser Wilhelm II., der selbst neugierig vorbei schaut.
Größtes Skandalon ist die Frau an Solnemans Seite , eine „Negerin“ und „Riesin“ mit angeblich außergewöhnlich langen Armen, die man „eines unzüchtigen Verhältnisses mit ihm bezichtigt“. Es geht also neben der ganzen Absurdität und dem Misstrauen auch um Rassismus und Fremdenhass. Aber so wie der geheimnisvolle Fremde aufgetaucht ist, so verschwindet er auch wieder. Ein rabenschwarzes Buch voller Tempo und Hinweisen in einer Zeit einer beginnenden Kriegsverheerung in ganz Europa und finsterstem Kolonialismus, geschrieben von einem Autor, der sicherlich Kind seiner Zeit war, aber auch ein bekennender Gegner Adolf Hitlers, der diesen persönlich an der Front kennenlernte und „für eine hysterische Heulsuse, weinerlich bis ins Mark“ hielt. Absolut immer noch lesenswert!
Alexander Moritz Frey: Solneman der Unsichtbare, Elsinor-Verlag, Coesfeld, Mai 2021, 200 Seiten.
Mein dritter Buch-Tipp ist ein Debüt und ein krass komischer Provinzroman. Der schräge Roman stammt vom Autor Sven Pfizenmaier, der 1991 in Celle geboren wurde und Russland-Deutsche Wurzeln hat. Sein Buch „Draußen feiern die Leute“ spielt irgendwo in der Nähe von Hannover in der tiefen niedersächsischen Provinz. Das unbenannte Dorf des Geschehens feiert wie alljährlich sein berüchtigtes Zwiebelfest am Dorfkreisel, gleich neben der Volksbank. Ein übler Dorfbums mit schlechten Schlagern, reichlich Suff und Rudelbumsen in den umliegenden Grünanlagen. Soweit das Setting dieses großartigen Romans. Danach folgt eine Aneinanderreihung von Absurditäten, grotesken Figuren und mysteriösen Geschehnissen. Pfizenmaier erzählt, „wie diese ominös-charismatische Person auf einer Party Schwank um Schwank raushaut“, wie schon Philipp Winkler vollkommen richtig feststellte.
Einige Personen des Roman-Personals sind absolute Außenseiter und haben seltsam umgekehrte Superkräfte. Da ist zum Beispiel Richard, der Menschen in seiner Nähe scheinbar sämtliche Energie aussaugt und in müder Lähmung und Langeweile versetzt. Timo hingegen hat etwas pflanzenhaftes, über das sich alle lustig machen. „Timo hat die Gliedmaßen einer Pflanze, rankenartige Arme und Beine, blass grünliche Haut und orangegelbes Haar, das wie eine Blüte auf dem Kopf leuchtet. Sogar seine Bewegungen erinnern an die niedersächsische Vegetation, der schwankende Kopf fast schon ein Abbild des Gelben Frauenschuhs, stummelige Finger und Zehen wie frisch gewachsene Moschuskrautblätter“. Und dann ist da noch Valerie, die manchmal tagelang einfach nur schläft und nicht wieder aufzuwecken ist.
Diese drei seltsamen Figuren machen sich auf die Suche nach verschwundenen jungen Leuten, die sich scheinbar einfach in Luft aufgelöst haben. Es begann mit Flora, der Schwester von Jenny, die Freundin von Richard, die übrigens die einzige Person ist, die der Energiesauger an sich ranlässt. Der Vater der beiden Mädchen, Manfred, der etwas depperte Dorfpolizist, will sich nicht mit dem Verschwinden seiner Tochter abfinden und befürchtet außerdem, dass seine zweite Tochter ebenfalls abhauen könnte. Also beauftragt er die bekannten Dorf-Bösewichte Danik, Dima und Doktor Dobrin, deren Eltern aus Kasachstan stammen und ja wohl bekanntlich mit Dope dealen, seine Tochter Jenny zu überwachen. Gleichzeitig sind die drei aber gerade dabei, einen größeren Speed-Deal mit dem ominösen Groß-Dealer Rasputin, der in Form einer Lackschuh-tragenden Eule daherkommt, einzufädeln. Dieser Obergangster aus Hannover scheint außerdem seine Finger im Verschwinden der jungen Leute aus der Provinz zu haben.
Die gesamte Story spielt sich im Milieu einer absurd komischen russisch-deutschen Dorf-Gemeinschaft ab, die nicht auffallen will, sich aber auch nicht so richtig einfügen will in die deutsche Provinz. Der langweilige Richard schmeisst eine Drogen- und Sauf-Party und avanciert zum Speed-Dealer der Region, während die drei Möchtegern-Dealer sich mit dem sagenumwobenen Rasputin zur Speed-Übergabe treffen. Diese grandiose Absurdität der Extra-Klasse ist eins der Highlights dieser seltsam komischen Geschichte, die sich mitten auf der Straße zwischen zwei fahrenden Autos abspielt, wobei die Eule noch jede Menge philosophische Sprüche klopft.
Was als typischer Krimi-Plot beginnt, entwickelt sich zu einem surrealen, mystischen Dorf-Roman voll magischem Realismus und einem unglaublich witzigem Allerlei über die deutsche Provinz, in dem anscheinend alle nur die gleiche Sehnsucht haben: raus aus dem dörflichen Desaster in ein besseres, anderes Leben. Dabei nutzt Pfizenmaier seine geniale Fähigkeit mit seiner klaren, aber feinen Sprache in prägnanten Sätzen, die Absurditäten des Alltags in ein Panorama überbordender Geschichten zu verwandeln. Ein großartiges, absolut lesenswertes Debüt.
Sven Pfizenmaier: Draußen feiern die Leute, Kein & Aber Verlag, Schweiz, März 2022, 334 Seiten.
Auch mein vierter Buch-Tipp spielt in der Provinz. Diesmal allerdings im noch sozialistischen unteren Odertal, wo ein kleines Dorf in seiner Langeweile und seinem gemütlichen Stillstand vor sich hin döst.
Ein typisches Dorf am Rand von Sozialismus und allem, dessen größte Sehenswürdigkeit die jährlich einfallenden Kraniche sind. In dieses Dorf kehrt Micha zurück, nachdem man ihn aus seinem Psychologiestudium geworfen hat. Er übernimmt den alten Bauernhof seiner Großmutter Gerda, die kurz nach seiner Rückkehr stirbt. Ohne Strom und Wasser lebt der Einsiedler so vor sich hin und lässt das gesamte Anwesen völlig verwahrlosen. Dann tauchen neben den Kranichen immer mehr seltsame Vögel in dem beschaulichen Dorf auf, hauptsächlich junge Frauen, Künstler und Studenten aus Berlin. Gerüchte um das Entstehen einer Sekte machen sich in dem beschaulichen Dorf breit. Es ranken sich Geschichten um angebliche Westreisen, die von dem einsamen Bauernhof aus organisiert werden.
Tatsächlich hat Micha während seines Psychologie-Studiums eine besondere Fähigkeit bei sich festgestellt, nämlich die Fähigkeit, Menschen zu hypnotisieren und deren Träume von Reisen nach Paris oder Kalifornien oder zu einem Konzert von The Cure zu realisieren. Über Mund zu Mund Propaganda entwickelt sich rasant eine Geschäfts-Idee für Reisen im Kopf, die immer mehr Leute anzieht, aber auch der örtlichen Stasi nicht unentdeckt bleibt. Selbst der LPG-Vorsitzende läßt sich von der geschäftstüchtigen Simone durch kluge Schachzüge einwickeln, die mit diversen anderen Frauen, den Hof und das Geschäft auf Vordermann bringt. Auch ein brotloser Künstler, der im Suff seltsame Glasobjekte produziert, wird in das Geschäft mit den Hypnose-Reisen eingebunden. Bis alles auffliegt.
Jakob Hein, den ich hier an dieser Stelle bereits mit „Die Orient-Mission des Leutnant Stern“ vorgestellt habe, gelingt mit seinem neuen Buch ein gewisser Schelmen-Roman erster Güte. Er beschreibt die Abgeschiedenheit und absurde Realität des Sozialismus im äußersten Osten der ehemaligen DDR-Provinz. Da wird sich alles gegenseitig zu geschustert, was irgendwo fehlt und benötigt wird. Aber die ewige Sehnsucht nach der großen weiten Welt kann man auch hier nicht organisieren. Bis Micha kommt und seine Fähigkeit der Hypnose. Mit „Der Hypnotiseur oder Nie so glücklich wie im Reich der Gedanken“ ist ein wunderbar unterhaltsames Buch entstanden, das alle Menschen berührt und fröhlich stimmt, die es sich bis dato nie leisten konnten, auf große Reisen zu gehen. In Episoden der einzelnen handelnden Figuren entwirft er ein geschicktes Panorama an Menschen, die eigentlich nur ihre persönlichsten Träume ausleben wollen, dabei aber immer wieder an persönliche Grenzen stoßen. Eine wunderbare literarische Idee, in eine sprachlich und inhaltliche Form gegossen, die unterhaltsam ist und voller feiner Ironie steckt.
Jakob Hein: Der Hypnotiseur oder Nie so glücklich im Reich der Gedanken, Galiani-Verlag Berlin, Februar 2022, 207 Seiten.
Mein letzter Tipp für heute richtet sich an Menschen mit Faible für die sogenannte Generation der modernen sozialen Medien, wie Facebook und Co. Es ist ein außergewöhnliches Buch in deutsch und arabisch und stammt von dem Syrer Aboud Saeed. Der Autor und Metallarbeiter Saeed gilt als einer der ersten Vertreter der Facebook-Literatur und machte sich seit 2013 selbstbewußt und etwas dreist als „Der klügste Mensch in Facebook“ einen Namen. Aboud Saeed wurde 1983 in einer Kleinstadt nahe der syrischen Großstadt Aleppo, die durch die Bombardierungen durch die russische Militärhilfe für den syrischen Machthaber Assad traurige Berühmtheit erlangte, geboren. Dort arbeite er 15 Jahre lang in einer Schmiedewerkstatt und lernte Schweißen und das Metallhandwerk. Ab 2013 begann er als aktiver Blogger auf Facebook und verarbeitete seine Kommentare und Einträge in seinem ersten Buch frech als „Der klügste Mensch im Facebook“, das in deutscher Übersetzung erschien. Dann kam er als Flüchtling, Schriftsteller und Asylant nach Deutschland. In Berlin lebend, schrieb er weiter an seinen Texten und Kommentaren, während er gleichzeitig in seinen alten Beruf des Schmieds in der Werkstatt des berühmten Gegenwarts-Künstlers Olafur Eliasson zurückkehrte.
Jetzt hat sich der Autor mit seinem neuen Buch in gewisser Weise die Hoheit über sein Werk zurück geholt. Mit „Die ganze Geschichte“, übersetzt von Sandra Hetzel, hat er eine Textsammlung zusammengestellt, die von seinen Anfängen bis in die Jetztzeit als Asylant und Arbeiter in Berlin geht. Er erzählt von seiner Lehre in der Schmiede in Syrien bis zu seinem Alltagsleben zwischen Berghain, Heavy Metal Kneipe und kleinbürgerlichen Wünschen eines Fremden in Berlin. Wie gehabt, nimmt Saeed kein Blatt vor den Mund. Sowohl in seiner Kritik am bestialischen Regime von Assad in Syrien, über seine Suche nach dem nächsten Gras-Dealer im Park oder einer Beziehung zu einer seiner diversen weiblichen Anhängerinnen im Netz.
Es geht um Vorurteile und die Absurditäten des Alltags. Lakonisch und witzig erzählt er über seine Mutter, die auf Geld für neue Gardinen von ihm wartet, oder über seinen Meister, der heimlich mit ihm kiffen will, weil er das zuhause bei seiner Frau nicht darf. Er beschreibt Erlebnisse aus aktueller Politik genauso wie Probleme im zusammenleben mit seinen Nachbarn oder seinem kleinen Hund. Ein witziges Panorama an Geschichten mit den Augen eines Außenstehenden, der zwar jetzt hier lebt, aber noch nicht richtig angekommen zu sein scheint. Beispiel: 18.1.2012 um 23:41: „Ich schreibe keine Lyrik/ Ich sage nur die Wahrheit“.
Im Netz wird About Saeed als einer der wichtigsten Stimmen der jungen syrischen Generation gefeiert. Es lohnt sich, seinen Blick auf die deutsche Gegenwarts-Gesellschaft im Schatten des erneuten Krieges zu richten. Trotz aller Härten und Sorgen hat sein feiner Humor und sein sarkastischer Blick auf deutsche Eigenheiten einen wunderbaren Unterhaltungswert.
Aboud Saeed: Die ganze Geschichte, Mikrotext Berlin, Dezember 2021, 370 Seiten.
Die Bücher sind in den inhabergeführten Buchhandlungen Belling, Prosa, Buchfink, Arno Adler, Langenkamp, maKULaTUR und Buchstabe erhältlich.