Mark Lanegan, Foto: (c) Tristan Loper

Literatur-Tipps
Musik in Büchern

Meine neuesten Literatur-Tipps befassen sich mit Musik, mal als erschütternde Biografie eines Grunge-Stars, mal als detailliert recherchierter Lebensabschnitt eines der größten Rockstars aller Zeiten, dann aber auch als Fan-Hommage berühmter Zeitgenossen/innen an ihre persönlichen Musikgrößen.

Beginnen möchte ich mit einem der großartigsten Sänger der Seattle-Grunge-Zeit, dessen Wirkung und außergewöhnliches Können kaum den Stellenwert erreichte, den er eigentlich verdient gehabt hätte. Mark Lanegan kam im November 1964 mit der Nabelschnur um den Hals per Kaiserschnitt auf die Welt und wuchs dann auf der falschen Seite der Cascade Mountains im kleinen Städtchen Ellensburg im Osten des Bundesstaates Washington auf. Mitte der 80er Jahre tauchte er dann in der Musikerszene Seattles auf, welche sich gerade durch die neue Grunge-Musik Richtung Rock´n´Roll-Spitze entwickelte. Sich selbst sah er als ein „weiteres arrogantes, sich selbst hassendes Arschloch, das im Rock´n´Roll einen Ausweg suchte“.

Trotzdem gelang ihm mit den Screaming Trees der Aufstieg zu einer der Vorzeige-Bands des Genres und er schaffte es, einen Majorslabel-Vertrag zu ergattern. Er war befreundet und arbeitete mit den größten Bands seiner Zeit zusammen: mit Nirvana/ Kurt Cobain, Alice in Chains und Soundgarden, mit denen er auch weltweit tourte. Trotzdem blieben die großen Erfolge aus. Vor allem, wie er in seiner erschütternden Autobiografie schreibt, weil er vom frühesten Alkoholismus im Jugendalter, über Kiffen und LSD rasant bei Heroin und Crack landete. Mit brutaler und teilweise kaum aushaltbarer Ehrlichkeit erzählt er vom Aufstieg und Fall seiner Screaming Trees, die sich als berüchtigte und durchgeknallte Acid-Rockband aus den schmuddeligsten Bars bis zu den größten Festivals der Welt hochspielte, während Lanegan immer tiefer im Sumpf von Drogen, Kriminalität, Sucht und Abhängigkeit versank.

Alles begann in frühen Kinderjahren, als seine gehasste Mutter noch versuchte, ihn durch Schule und Kindheit zu bringen. Als die Eltern sich trennten, genoss er seine neue Freiheit beim Vater, der selbst soff und sich nicht viel um den Sohn kümmerte. „Ich kam mir vor wie das glücklichste Kind weit und breit, keine Regeln, keine Uhrzeiten, kein Nichts. Mit zwölf war ich ein notorischer Zocker, Jungalkoholiker, Dieb und Pornofan. Den Alkoholismus versuchte er sich mit Marihuana und LSD abzugewöhnen. Als er dann nach Seattle kam, war die neue dreckige Grunge-Szene gerade am Entstehen. Lanegan nimmt den Leser mit in die düsteren, drogenverseuchten Gassen von Seattle, wo er ewig auf der Suche nach dem nächsten Kick, der nächsten Dröhnung ist, obwohl er mittlerweile mit diversen Größen der Rockmusik arbeitet und tourt. Während er körperlich und psychisch immer mehr abbaut, steigen seine Band und viele seiner Musik-Kollegen immer höher auf der Leiter zum Rock-Olymp. Er selbst wird zum Schläger, Außenseiter, Junkie voller Angst vorm nächsten Turkey und Crack-Dealer, der seine Sucht damit finanziert möchte.

Dabei ist er als Sänger immer noch auf dem Weg, eigentlich der nächste Jim Morrison zu werden. Seine unverwechselbare Stimme und sein düsteres Charisma lassen selbst Größen wie Jonny Cash und Nick Cave, mit dem er zusammen sich den Heroin-Dealer teilt, aufmerksam werden. Kurt Cobain war sein Freund und Kollege, den er nicht retten konnte, obwohl sie sehr eng verbunden waren. Mit Liam Gallagher von Oasis wollte er sich schlagen auf einer Ostküsten-Tour, weil der ein noch größeres Arschloch war als er selbst, aber immer mit zwei hühnenhaften Bodyguards rumlief.

Als sich dann auch noch seine Band zerlegte, verlor er völlig den Halt. Als ewig lügender und bescheißender Junkie hatte er kaum noch Freunde, verlor seine letzte Wohnung inklusive seiner bescheidenen Rest-Besitztümer, die er noch nicht zum Pfandleiher gebracht hatte und landete sprichwörtlich in der Gosse, gesucht von der Polizei und von betrogenen Drogen-Dealern. Obdachlos, krank und verwahrlost treibt er durch sein elendes Restleben, immer auf der Suche nach dem nächsten Schuss, den viele seiner früheren Freunde mit dem Tod bezahlen mussten.

„Ich war dreiunddreißig und sah doppelt so alt aus. Ich wog keine fünfundsiebzig Kilo und hatte offene Wunden an den Armen. Ich hatte weder Geld noch einen sicheren Ort, wo ich bleiben konnte. Ich hatte alle Brücken hinter mir abgebrochen und sämtliche Kirchen bis zum Dachstuhl abgefackelt. Ich war der Geist, der nie sterben würde“. Glücklicherweise gab es doch noch wenige Freunde wie Rob Marshall, sein ehemaliger Pfandhaus-Besitzer und Courtney Love Cobain, die Witwe von Kurt Cobain oder Duff McKagan, der Bassist von Guns N´Roses, die ihm einen Platz in der Entzugs-Klinik besorgten, ihn duch ein einjähriges betreutes Wohnen in einer Reha-Einrichtung begleiten und seine Rückkehr ins Leben auch als Musiker förderten. Heute arbeitet Mark Lanegan als Solo-Künstler und kollaborierte mit Pearl Jam, Marianne Faithfull, Moby, Queens of the Stone Age oder P.J.Harvey.

Die Autobiografie liest sich zwar flüssig, ist aber aufgrund seiner brutalen Ehrlichkeit manchmal kaum zu ertragen. Nick Cave bescheinigt dem Buch: „knallhart, brutal und apokalyptisch“. Oft fühlt man sich an Bücher von Charles Bukowski erinnert oder an den ewigen Untoten Keith Richards. Dass Lanegan all diese Drogen und „All das Dunkel dieser Welt“ überlebt hat, grenzt an ein Wunder. Ein Buch für Hartgesottene, nix für Weicheier.

Mark Lanegan: Alles Dunkel Dieser Welt, Heyne-Hardcore, München September 2021, 447 Seiten, Amazon.

Mein nächster Buch-Tipp gilt einem der größten Rocksänger aller Zeiten: Freddie Mercury von Queen. Eigentlich hieß der Sänger mit der 4-Oktaven-Stimme Farrokh Bulsara und wurde am 5. September 1946 auf Sansibar geboren. Am 24. November jährte sich sein Todestag zum dreißigsten Mal. Nicola Bardola hat dazu jetzt eine aufwendig recherchierte Porträt-Aufzeichnung über die Jahre des Frontmanns der Pomp-Rockband Queen in München vorgelegt. „Seine besten Jahre“, wie das Buch im Untertitel heißt, lagen zwischen 1979, wo er sich im Schaumbad seiner 160 Quadratmeter großen Präsidentensuite des Hilton Hotels am Tucherpark seinen Nummer-1-Hit „Crazy Little Thing Called Love“ ausdachte und seiner legendären Party zu seinem 39. Geburtstag, dem ausschweifenden, dekadenten „Black and White Drag Ball“ 1985.

Dazwischen liegen sechs Münchner Jahre. Seit den frühen Siebzigerjahren galt Freddie Mercury wahlweise als „bizarr, charismatisch, charmant, magnetisch, majestätisch, extravagant, exzentrisch, exzessiv, exaltiert, ekstatisch, maßlos, farbenprächtig, schillernd, frivol, lasziv, glamourös, grellbunt, divaesk, hyperaktiv“. Aber eigentlich war er schon damals vielleicht der beste Rocksänger seiner Zeit. Wobei seine Zeit in München sowohl musikalisch als auch persönlich wohl tatsächlich seine besten Jahre waren. Nicht nur sein Badewannen-Hit, die erste Nummer Eins in den USA für Queen, sondern insgesamt fünf Alben der Band (u.a. The Game (1980), Hot Space (1982) und A Kind of Magic (1986) mit weiteren Hits wie „Another One Bites The Dust“ oder „Radio Gaga“ wurden im Studio in Bogenhausen aufgenommen, sondern darüber hinaus auch noch sein Soloalbum „Mister Bad Guy“ aus dem Jahr 1985. Im berühmten Musicland Studio im Arabella-Hochhaus lernte er auch den legendären Tontechniker und Produzenten Reinhold Mack kennen, der alle Scheiben produzierte. Mack wurde später sogar als der fünfte Mann bei Queen bezeichnet.

Als die vier Briten in die Isarmetropole zogen, taten sie das hauptsächlich als Steuer-Flüchtlinge. In England hätten Queen im Gegensatz zu Deutschland immense Steuern auf ihre erfolgreiche Plattenproduktion zahlen müssen. Gleichzeitig konnten sich Freddie und seine Musiker-Kollegen in der bayerischen Hauptstadt relativ frei bewegen, ohne ewig von Fans und Journalisten bedrängt zu werden. „München ist so sauber und sicher“ sagte Freddie 1984 in einem Interview für das US-Radio. „Wenn du in New York lebst, denkst du ständig, dass sie dir dein Auto klauen“. Außerdem hatte er in München jede Menge Freunde, „die zwar wissen, wer ich bin, aber sie behandeln mich wie ein normales menschliches Wesen“.

Gleichzeitig war München damals die Party-Hochburg in Deutschland und war für seine wilden Zeiten bekannt. Mercury und seine Band nutzten die Zeit für ausschweifende und rauschhafte Feste und Parties, ganz im Sinne von „Sex, Drugs and Rock´n´Roll“. Freddie Mercury, der kein großer Leser war, wie Autor Bardola recherchierte, hatte aber den schwulen Reiseführer „Spartacus International Gay Guide“ immer mit im Gepäck. Dementsprechend stürzte er sich neben der Studio-Arbeit auch in das berühmte Schwulen-Dreieck Glockenbachviertel. Dieses berüchtigte „Bermudadreieck“ des schwulen Lebens aus Schwulenbars, Clubs und Gay-Saunas war neben dem Meatpacker-District in New York die bekannteste Ecke, wo Freddie Mercury seine Sexualität offen in vollen Zügen ausleben konnte.

Dort lernte er auch seine Freundin, die Schauspielerin Barbara Valentin und seinen Geliebten Winnie Kirchberger, den schnauzbärtigen Wirt vom Sebastianseck kennen. Dem hat er, wie Weggefährte Peter Ambacher gern zu erzählen wusste, zum Geburtstag ein Auto mit Herz und überdimensionierter Schleife vor die Tür gestellt. Wie Bardola für sein Buch herausgefunden haben will, soll es „zum finalen Streit und Ende der Beziehung“ zwischen dem Paar bei dem exzessiven Fest zu Mercurys 39. Geburtstag gekommen sein. Freddy hatte nämlich nicht nur Drag-Queens aus London, sondern auch seinen neuen Liebhaber aus New York einfliegen lassen.

Neben diesem grandios ausschweifenden Leben, war die Münchner Zeit aber sicherlich auch eine der kreativsten Phasen im Leben von Mercury und Queen. Akribisch hat Nicola Bardola unzählige Details aus dieser Zeit gesammelt. Er befragte Musiker, Produzenten, Gastronomen und andere Weggefährten des Briten. So dokumentiert er Apartments und Joggingstrecken, zählt die diversen Liebhaber von Freddie auf und zeigt Fotos zahlreicher Originaldokumente, wie der Eintrittskarte für die legendäre Party oder die verschwitzte Hose des Sängers nach dem Konzert in der Olympiahalle, die im Münchner Rockmuseum ausgestellt wird. Er nennt Orte, unbekannte Hintergründe und ordnet bekannte Anekdoten zu Freddy und Queen neu ein.

Wer sich persönlich auf die Spuren von Mercury machen will, bekommt detaillierte Namen und Adressen von den Orten, wo Freddie lebte, liebte und sich amüsierte. Stadtpläne von München mit den diversen Locations befinden sich auf den Innenseiten der Buchdeckel und laden zu Rundtouren ein. Gleichzeitig lassen sich im Mittelteil des Buches diverse bunte Fotos von Freddie und Bandkollegen Brian May, Roger Taylor und John Deacon entdecken, die die Musiker bei Konzerten oder bei den exzessiven Parties zeigen. Mal mit, mal ohne Bart präsentiert sich Mercury als Sexsymbol oder Bühnen-Luder. Besonders majestätisch präsentieren sich die Musiker zunächst noch eher schüchtern als royale Musiker mit Freddie im güldenen Kronsessel mit Schwert und Hermelin-Mantel am Boden, während seine Knappen noch mit Mähne um den King im Sessel posieren bei einer Foto-Session für die Bravo.

Ein Buch, nicht nur für Queen- und Mercury-Fans, sondern auch für Leute, die das wilde Lebensgefühl Münchens in den 80ern nachempfinden möchten.

Nicola Bardola: Mercury in München - Seine besten Jahre, Heyne-Hardcore, München September 2021, 432 Seiten, Amazon.

Jetzt folgen noch zwei kleine Büchlein, die aus der wunderbaren KiWi Musik-Bibliothek-Reihe stammen, in der berühmte Menschen über andere berühmte Musiker und Bands schreiben, mal als Fan, mal als Mensch, der oder die durch die Begegnung mit einer Musikerin oder einem Musiker besonders berührt oder beeinflusst wurden.

Aus der zweiten Kategorie stammt Helene Hegemann, die in einem wortgewaltigen und anregendem Essay beschreibt, was die Musik von Patti Smith für ihr Leben bedeutete. Zunächst hört sich das nicht gerade nach einer Liebeserklärung an die Queen of Punk an, sondern kommt eher als ein Musiker-Bashing von Patty Smith daher. Sie zieht mit sprachlicher Wucht und mit Witz über die in New York lebende Musik-Legende her, unterstellt ihr „Scheuklappenspiritualität“ und Heuchelei. Sie macht sich lustig über den Damenbart von Patty und empfindet ihre Auftritte bei der Nobelpreis-Übergabe für Bob Dylan oder auf Instagram als Verrat an den eigenen Idealen der Frühzeit ihrer Karriere in den Siebzigern. Bei ihrer ersten persönlichen Begegnung in Wien hielt sie Patti Smith mit ihren abgeransten Klamotten für eine Obdachlose.

Würde man es nicht besser wissen, würde man das für rotzfreches Geschreibsel einer Dreizehnjährigen halten, die viel zu früh durch ein eigenes Buch, den Roman Axolotl Roadkill als Schriftstellerin allgemeine Anerkennung gefunden hatte. Denn schnell stellt sich raus, dass die Musik von Patti Smith und speziell die Begegnung mit ihr eine Art Lebensrettungsgeschichte für Hegemann zur Folge hatte. Auf nur Hundert Seiten beschreibt sie in Form einer biografischen Erzählung, wie lebensverändernd das Treffen mit Patti Smith gewirkt habe. Die damals dreizehnjährige Autorin wurde förmlich per Raumschiff wie ein Alien aus der Sozialbauwohnung, wo sie mit ihrer depressiven und alkoholkranken Mutter lebte, in eine Kulturwelt in Wien gebeamt, wo ihr Vater als Dramaturg mit Christoph Schlingensief am Theater arbeitet. Der Theaterprovokateur Schlingensief und die „Godmother of Punk“ kannten sich aus Bayreuth, wo sie sich zufällig während eines Sturms im Hotel kennengelernt hatten.

Helene Hegemann nahm 67 Tage vor der oben erwähnten Begegnung mit Patti bei einem Tanz-Wettbewerb teil, wo sie zu dem berühmten Stück „Because the night“ gewann, allerdings in einer schlechten Coverversionen von Jan Wayne. Sie tanzte in einer Mischung aus Cheerleading, MTV und Breakdance und hatte zur eigenen Überraschung gewonnen. Sechs Stunden später starb ihre Mutter an den Folgen einer Gehirnblutung, und Helene Hegemann blieb als Dreizehnjährige allein in der Zwei-Zimmer-Wohnung zwischen Sonnenstudio, Gemeindehalle und Spielplatz zurück. Auf besagtem Spielplatz übernachteten früher immer kleine Kinder unter dem Klettergerüst, weil ihnen die besoffenen Eltern nicht mehr die Haustür öffnen konnten. In ihrem Schock und der Trauer über den Tod der Mutter zertrümmerte Hegemann Möbel, versuchte sich den Arm zu brechen oder starrte stundenlang, ja tagelang auf dieselbe Stelle. „Und ich heulte nicht, kein einziges Mal. Es war als drückte mich ihr Tod in eine verschimmelte Matratze“.

Ihre Mutter hatte in besonders depressiven Phasen Patti Smith-Musik gehört. Für das junge Mädchen zeigten die Lieder, deren Bässe durch das Treppenhaus wummern, wenn sie von der Schule kam, in welchem Gemütszustand die Mutter war. Die musikalischen Dämonen der Mutter zeigten der Tochter, dass ein Kampf auf Leben und Tod bevorstand. Vom Vater per Billig-Flieger nach Wien geholt, erlebt die junge Hegemann den Theater-Berserker Schlingensief als Mischung aus Jesus und attraktivem Ruhrpott-Hausmeister, der gerne sämtliche gesellschaftlichen Verabredungen irre gut gelaunt sprengte und für sie die Personifizierung von Polarisierung bedeutete. „Die Begegnung mit ihm gehört zu den wichtigsten meines Lebens“.

Sprachlich exzellent und weitschweifig deckt Hegemann überall Beziehungen auf, die die Musik und die Begegnung mit Patti Smith für ihr Leben bedeuten, versteckt kleine Hinweise und sinniert über Kunst und die Welt im Allgemeinen und Besonderen. Wobei Huldigung oder gar Verehrung für die Sängerin, Lyrikerin, Rock-Musikerin, Fotografin und Malerin für Hegemann natürlich überhaupt nicht zur Debatte stehen. In einem sprachlichen Feuerwerk aus Humor, Detailwissen, Erinnerungen und Abschweifungen malt sie ein biografisches Bild ihrer eigenen Entwicklung und ihres Lebens, in der die ambivalente Beziehung zwischen Autorin und Rock-Legende teilweise Funken der Schreibkunst schlagen. Unbedingt lesenswert, auch wenn absolute Patti Smith-Fans keine Freude daran finden dürften.

Helene Hegemann: Patti Smith, Kiepenheuer & Witsch, Köln Oktober 2021, 112 Seiten, Amazon.

Bezüglich des zweiten kleinen Buchs aus der KiWi-Musikbibliothek sieht das ganz anders aus. Charly Hübner, der bekannte Schauspieler aus Mecklenburg (Polizeiruf Rostock), Wacken-Freund und Regisseur (Biografie über Monchi, den Sänger von FeineSahneFischfilet) macht aus seinem Herzen keine Mördergrube. Gleich zu Beginn outet er sich als Fan von Motörhead, der angeblich lautesten Band der Rock-Welt. Er beschreibt eine grandiose Geburtstagsparty, die eigentlich schon längst zu Ende ist. „Schweiß, Rauch, Alkohol, müdes Parfüm“. Dann erweckt das Getöse vom Motörhead-Kracher „The Ace of Spates“ den „verbliebenen Rest von elf Leuten aus komatösem Dösen, bis alle müden Trinkerinnen und Trinker lallend lachend und völlig entseelt auf dem Boden sanken, dank Lemmy, dem Gandalf des Rock´n´Roll“.

Es folgt eine Hommage an die wilde Band aus England, die ich selbst während meiner Tätigkeit als Roadie in den Achziger Jahren einmal in Rendsburg erleben durfte. Schon beim Sound-Check in der ehemaligen Vieh-Auktion-Halle flogen diverse Fensterscheiben aus den Außenwänden - heftig und witzig!

Hübner beschreibt seine Liebe zur Band in Form von autobiografischen Erinnerungen, die er erlebt, indem er mit dem Teufel (Memphis) durch die Jahre seines Lebens fliegt. In lockerem Mecklenburger Platt geht es durch die Kindheit, die von sonntäglichen Ausflügen im russischen Trabbi-Ersatz erzählen, wo er als Kind die Vorliebe der Eltern zu Schlager und James Last ertragen musste, bis er kotzen musste - in den Nacken des Vaters. Lemmy Kilmeister, der schräge Frontmann von Motörhead wurde seine Identifikationsfigur für die Befreiung aus dem Alltag der DDR.

Zwar hat er von den Texten kaum etwas verstanden, weil er kein englisch konnte, aber das war auch egal. Hauptsache die Dezibelzahl bei der harten Heavy-Metal-Band stimmte. Außerdem war Hübner schon immer ein aufsässiges Kind gewesen, der in der Kindheit und Jugend ein wahrer Zappelphilipp war. Also bestens geeignet für das Moshen und Tanzen nach wilder Musik. Anhand von diversen Songs der Band plaudert sich Charly Hübner durch sein Leben, lässt auch keine Peinlichkeiten aus, sondern zeigt Herzblut und Witz. „Ich bin ein Zappelphilipp gewesen und bin es immer noch - heute nur etwas schwerer drumherum“.

Witzig auch, wie Hübner den Besuch der Oma eines Freundes in einem Berliner Plattenladen rekonstruiert, die für den Enkel und seine Freunde Heavy-Metal-Platten besorgen soll. Schön auch die Episode, wie man sich als Fan sein eigenes Snaggletooth-Monster-Band-T-Shirt selbst basteln musste, weil es im Osten natürlich kein Merchandising gab. „Scheiße nur“, dass es gerade nur hellblaue Shirts gab, also musste rote Farbe für den Rest sorgen.

So entspinnt sich ein äußerst unterhaltsames literarisches Debüt eines reflektierten Schauspielers. Geeignet für Fans von Charly Hübner, wie auch von Motörhead.

Charly Hübner: Motörhead, KiWi Oktober 2021. 176 Seiten in Kleinformat, Amazon.

Die Bücher sind in den inhabergeführten Buchhandlungen BellingProsa, Buchfink, Arno Adler, Langenkamp, maKULaTUR und Buchstabe erhältlich.

Titelfoto: Mark Lanegan (2009), Wikipedia, (c) Tristan LoperCC BY-SA 4.0 

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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