(c) Petra Arnold

Petra Arnold „Beyond Starlight“
Das Unbeleuchtete belichten

Die Illusion ist substanziell im Zirkus, quasi das Higgs-Boson jener parallelen Prachtwelt aus Make-up, Elefanten, fliegenden Akrobaten und knatternder Musik von unter dem Zelthimmel.

Nichts in dieser temporären Gegenwart aus Kraft, Anmut und Magie könnte weniger wahrscheinlich erscheinen als ein physikalisch nachweisbarer Alltag, eine Privatsphäre hinter dem Licht der Manege. „Beyond Starlight“, der neue und bestechend gelungene Bildband der Fotografin Petra Arnold, zeigt das Leben der Zirkusleute auf der publikumsabgewandten Seite des Vorhangs.

„Mich ziehen individuelle, unkonventionelle Lebensweisen sehr an“, konstatiert die Fotografin aus der Rhein-Neckar-Metropolregion. „Wenn man so einem Thema begegnet, möchte man mehr darüber erfahren, was diese Menschen antreibt und motiviert. Was passiert hinter dem bunten Zirkuszelt?“

Seit 2008 in Kontakt mit dem Familienzirkus Starlight von August Bügler und Karin Fischer, konnte die Fotografin das Vertrauen der Zirkusfamilie mit ihren 12 Kindern und 31 Enkelkindern gewinnen. Sie erhielt Zugang zum privaten Sperrbezirk hinter den Kulissen, durfte fotografieren, das Unbeleuchtete belichten.

150 Aufnahmen aus 10 Jahren hat Arnold für ihr Buch zusammengestellt, in denen sie die Familie kontinuierlich aufsuchte, ihr nachreiste, sie begleitete. Ein sinnlicher, visueller Trip in alternative Verhältnisse, echt und spürbar wahr und deutlich komplexer als handelsübliches Zirkus-Merchandise.

(c) Petra Arnold(c) Petra Arnold

Wie Arnold ihre Protagonist*innen in den Fokus holt und abbildet, zeitigt kraftvolle, unmittelbar präsente Aufnahmen, in denen Kitsch, Voyeuristik und sülzige Nostalgie keinen Raum haben. Dass konsequente Schwarz-Weiß der Bilder wirkt wie eine inhärente Akzentuierung der mobilen Privatsphäre, aus der sie stammen, und erzeugt unmerklich einen angemessenen Mindestabstand für die Protagonist*innen, ohne visuell und emotional zu abstrahieren.

Geboren '66 in Heidelberg, ist Petra Arnold seit der zweiten Hälfte der achtziger Jahre als selbstständige Fotografin in Deutschland und international tätig. Ihre erste Spiegelreflex-Kamera kaufte sie mit 15, einfach, „weil ich mich immer mehr für die Fotografie interessierte“, und nahm den ordentlichen Ausbildungsweg. Sie entdeckte ihr Faible für Porträt- und Reportage-Fotografie und schließlich, in San Francisco, die Street Photography, ihr bis heute favorisiertes Genre.

(c) Petra Arnold(c) Petra ArnoldIhr Interesse gilt außergewöhnlichen Charakteren und Grenzgängern, Subkultur, alternativen Lebensweisen, dem, was im Schatten, in den Außenbereichen der Gesellschaft existiert. An Beherztheit und Courage fehlt es der mehrfach ausgezeichneten Fotografin (u. a. bei den Tokyo International Foto Awards 2019) dabei nicht; u. a. war sie mit den Luxemburger Hell's Angels auf mehrtägiger Tour nach Albanien und generierte ein Foto-Logbuch mit diversen spektakulären Aufnahmen aus einer wiederum für die meisten unzugänglichen Welt.

„An Fotografie fasziniert mich besonders, dass man damit Geschichten erzählen kann, von Begegnungen mit bestimmten Menschen und Situationen, Zeit und Erlebnissen, die man teilt. So geben die Aufnahmen sowohl das Empfinden des Fotografen als auch die Sichtweise des Betrachters wieder – und werden auch zu meinen persönlichen Erinnerungen“, erklärt Arnold und zitiert Schriftstellerin Anaïs Nin („Das Delta der Venus“) als inhaltliches Credo ihrer visuellen Arbeit: “Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind, sondern wie wir sind.“

Sie nutzt kleines Equipment, „knipst“ aus der Hand und entzieht sich während der Aufnahmen weitestmöglich dem Bewusstsein der jeweiligen Protagonist*innen. Nicht die eigene Beurteilung von Menschen und Motiven steht im Fokus ihrer Arbeit, sondern differenzierte Sichtbarmachung. Schnappschüsse, „beobachtete Augenblicke“ (Arnold), Inszeniertes: Ein Wohnwagenwohnzimmer mit Schnörkelcouch. Küchenarbeit. Der junge Giovanni im Pagenkostüm, kurz vor dem Auftritt mit einem rotierenden Teller auf der Stange. Marlon jongliert. Der kleine Aaron mit Riesenschippe. Joleen, winzig auf dem Rücken eines ausgewachsenen Pferdes. Miquel, schon größer, der per Vorschlaghammer 20-Zoll-Zeltheringe in den Boden treibt.

(c) Petra Arnold(c) Petra Arnold

Doppelseiten mit zwei sich gegenüber liegenden Aufnahmen der gleichen Personen am gleichen Ort – Mutter Karin auf der Wagentreppe im Abstand von 8 Jahren, Vater August mit Tochter Kenya, dann Kenya mit Hoola-Hoops. Ein Lama. Skyla mit Zicklein, strahlend. Drei coole Söhne, fünf Töchter und Tochterstöchter. Teenage-Melancholie mit Susenna und Scarla. Lebensfreude, Melancholie, Narben. Büglers furchiges Anlitz. Die leise Skepsis in seinem Blick, ein schüchtern lächelndes Kind draußen beim Essen, das in die Kamera schaut u. a. lösen für Augenblicke das Gefühl beim Betrachter aus, selbst wahrgenommen, betrachtet zu werden. Ansprechend, im wörtlichen Sinne. Es menschelt, ohne dass die Schwarte kracht.

2019 ist der Familienverbund in Auflösung begriffen. Abgesehen von der jüngsten Tochter Kenya gehen die Zirkuskinder privat und beruflich eigene Wege. Das Winterquartier durfte pandemiebedingt nicht verlassen werden. Der Zirkusdirektor will durchhalten, sein Lebensumfeld bewahren, so lange es geht. Ein paar Bilder aus dem privaten Familienalbum der Bügler-Fischers im Anhang blicken über drei Generationen zurück.

Dass „Beyond Starlight“ neben der Atmosphäre und Geschichte der Familie womöglich auch die letzten Tage dieser Form des Zirkus' als traditionellem Kulturgut wie dokumentiert, ist nicht ausgeschlossen. Wer Petra Arnolds Bilder sieht, sie gelesen, betreten hat, wird das bedauern. Geschichte ist, was bleibt.

Normale Publikation in Rot, Silber und Black Magic. Zwei limitierte Auflagen: Purple Edition, 100 Ex. + 10 AP – signiert, nummeriert und Set mit drei Postkarten im Pergamentumschlag und buntem Seidenkonfetti. Collector‘s Edition, 50 Ex. + 10 AP – jeweils mit eingelegtem, signierten und nummerierten Fine-Art-Print. Infos unter www.petraarnold.com

Petra Arnold: „Beyond Starlight“, DCV (Dr. Cantz’sche Verlagsgesellschaft), Januar 2021, 160 Seiten, Amazon.

Die Bücher sind auch in den inhabergeführten Buchhandlungen BellingProsaBuchfinkArno AdlerLangenkampmaKULaTUR und Buchstabe erhältlich.

 

Rolf Jäger
Rolf Jäger
Geb. 1958, freischaffender Teilzeit-Journalist im Großraum Kultur - Musik, Film, bildende Künste, Literatur. Professioneller Musikjournalist 1996-2006 (Intro, Jazzthetik, Rolling Stone, LN, Badische Zeitung u. noch paar a.m.), Kulturschaffender bei www.wolkenkuckucksheim.tv, Gitarrist seit kurz nach Konfirmation.

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