Caroline Fourest
Von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei

Als Kind bin ich mit Kostüm und Silberbüchse durchs Unterholz des Stadtparks gepirscht und habe mich wie Winnetou gefühlt, wie ein Indianerhäuptling. Bis jetzt habe ich mich nicht dafür entschuldigt.

Das unterscheidet mich von der Spitzenkandidatin der Berliner Grünen Bettina Jarasch, die sich auf einem Parteitreffen dazu bekannte, dass sie schon als Kind Indianerhäuptling werden wollte. Nach scharfer Kritik der Parteifreunde wegen des diskriminierenden Wortes „Indianer“ fühlte sich die Politikerin bemüßigt, sich für ihre „unreflektierten Kindheitserinnerungen“ zu entschuldigen.

Einer Pressemitteilung entnehme ich, dass bei einer neuen Übersetzung von Dantes „Inferno“ ins Niederländische, einer Textbearbeitung für junge Leser, die Passage über Mohammed gestrichen wird. Man wolle „nicht unnötig verletzen“. Nicht eine religiöse Autorität äußert sich hier, sondern ein „Akteur der Zivilgesellschaft“, moniert der in Paris und Brüssel lehrende Historiker Christoph de Voogd.

„Ist klassische Musik kolonialistisch?“ fragt der STERN am 31. März 2021 und berichtet über Pläne der Oxford University, im Grundstudium die Beschäftigung mit Werken „weißer europäischer Komponisten aus der Ära der Sklaverei“ zugunsten diverser Musikformen einzuschränken. Die auf westlicher Kunstmusik beruhende Notation soll als „kolonialistisches Unterdrückungssystem“ bezeichnet worden sein. „Sollte man weiterhin komponierte Musik lehren, die ‚ihre Verbindung zur kolonialistischen Vergangenheit‘ nicht abgelegt habe, wäre das ein ‚Schlag ins Gesicht‘ für manche Studenten.“

Erstaunlicherweise ist noch niemand auf die Idee gekommen, die berühmte Rede Martin Luther Kings vom 28. August 1963 zu überarbeiten. Dort taucht nämlich über ein Dutzend Mal das Wort „negro“ = Neger auf. Sollten sich unter den Leserinnen der Lübeckischen Blätter noch Frauen befinden, die sich vom generischen Maskulinum nicht ausgeschlossen fühlen, so müssen sie sich von der Linguistik-Professorin Gabriele Diewald im „Kompendium gendersensible Sprache“ folgendes vorwerfen lassen: „Man könnte ihnen auch ‚Identifikation mit dem Aggressor‘ unterstellen“. (siehe den Artikel von Tim Hirschberg: „Was eine Linguistik Frauen unterstellt, die nicht gendern“)

In den Lübecker Nachrichten vom 11. April widmet Imre Grimm einen Artikel dem Thema „Die Grenzen des Sagbaren“. Dass das von Amanda Gorman bei der Amtseinführung von Joe Biden vorgetragene Inaugurationsgedicht „The Hill We Climb“ inzwischen in mehrere Sprachen übersetzt wurde, ist bekannt. Ebenso, dass dem katalanischen Übersetzer Victor Obiols der Übersetzungsauftrag wieder entzogen wurde. Er habe das falsche Profil, „man suche eine Frau, möglichst eine Aktivistin“ (Der Spiegel, 13. 3. 2021). Ein alter (60 Jahre) weißer Mann, der bereits Shakespeare und Oscar Wilde ins Katalanische übersetzt hat – indiskutabel?! Die Niederländerin Marieke Lucas Rijnefeld gab den Übersetzungsauftrag wieder zurück, nachdem sie in den sozialen Medien angegriffen worden war. Sie sei „als Weiße nicht in der Lage, die Gefühle einer jungen Afroamerikanerin zu verstehen.“ (Süddeutsche Zeitung vom 15.3.2021).

Das war ein längerer Vorspann als gewohnt, wenn es um eine Buchvorstellung geht. Er zeigt die Notwendigkeit, sich über die von Caroline Fourest in ihrem Buch „Generation Beleidigt“ angeführten, überwiegend aus Frankreich, Kanada und den USA stammenden Beispiele hinaus damit auseinanderzusetzen, wie sich gnadenloser Moralismus gegen vernunftgeleitetes Argumentieren durchsetzt, wie Identitätspolitik in einen neuen Rassismus umschlägt.

Caroline Fourest, Foto: (c) Jérôme Choain/ FlickrCaroline Fourest, Foto: (c) Jérôme Choain/ Flickr

Man könnte das Ganze als Sammelsurium eines Kuriositätenkabinetts betrachten, wäre nicht die Diskussion um „kulturelle Aneignung“ so bedenklich. Caroline Fourest, feministische Publizistin und Filmemacherin, verweist darauf, dass kulturelle Aneignung inzwischen nicht nur, wie das Oxford Dictionary es definiert, „eine Wiederaufnahme von Formen, Themen oder kreativen oder künstlerischen Praktiken durch eine kulturelle Gruppe zum Nachteil einer anderen“ ist, sondern bereits dann gegeben ist, wenn jemand „geistiges Eigentum, traditionelles Wissen, kulturelle Ausdrucksformen oder Artefakte der Kultur eines anderen ohne dessen Erlaubnis an sich reißt“. Inzwischen gibt es, so erläutert es Fourest, an Universitäten „Safe Spaces“, die Schutz bieten sollen vor „Mikroaggressionen“. Bei „empfindlichen“ Inhalten soll man sich in einer Gruppe zurückziehen können.

Während sie in der Albertina in Wien nicht nur Dürers berühmten Hasen sehen können, sondern sich auch zum Yoga in einem der Prunkräume der Habsburger anmelden konnten, wurde 2015 an einer Universität in Ottawa ein Yogakurs für Behinderte gestrichen und zur postkolonialen kulturellen Aneignung deklariert. Der Boykott des Kurses wurde zur Möglichkeit einer Wiedergutmachung. Drehbücher und Manuskripte werden in Verlagen „sensivity readers“ vorgelegt, „Lektoren, die auf Grund ihrer Herkunft oder ihrer Identität über die notwendige Sensibilität verfügen sollen.“ Universitätsprofessoren entwickeln Ängste, Themen anzusprechen, die auf Studenten „beleidigend“ oder „verunsichernd“ wirken könnten. Zum Teil werden „Trigger Warnungen“ ausgesprochen. Man hat dann als Student oder Studentin noch die Möglichkeit, den Hörsaal zu verlassen, bevor u. U. Verstörendes zur Sprache kommt, und kann sich dort als Opfergemeinschaft fühlen. Es lebe das Recht auf Rückzug?

Dürfen Transsexuelle nur noch von Transsexuellen gespielt werden? Hätte Anthony Quinn Alexis Sorbas spielen dürfen, Liz Taylor die Kleopatra? „Wenn man sich auf diese fatale Logik einlässt, kommt man zu dem Schluss, dass Rollenspiel prinzipiell nicht mehr erlaubt ist“, folgert Fourest und beklagt „intellektuelle Blindheit“. Steuern wir tatsächlich in eine Gesellschaft hinein, in der die Werte der Aufklärung nicht mehr als universell anerkannt werden, in der die eigene Identität plötzlich politisch wird, wie Hannah Bethke in der FAZ schreibt?

Worin besteht die Gefahr? Fourest befürchtet Ghettoisierung und kulturelles Sektierertum. An vielen, zum Teil erschreckenden Beispielen erläutert sie den ausgeprägten, von den Linken vertretenen Kulturrelativismus. Segregation trägt aber nicht dazu bei, Vorurteile aus der Welt zu schaffen. „Wie will man darauf hoffen, die Stereotype zu überwinden und den Kreis der Aufgeklärten zu erweitern, wenn man weiterhin den alten Reflex bedient, der die Menschen (…) entsprechend ihrer Hautfarbe beurteilt? Worauf kommt es dann an? Man muss von Neuem lernen, die Gleichheit und nicht nur die Vielheit zu verteidigen.“ Man muss zur Kenntnis nehmen, dass die Neigung zum Identitären und Moralisieren nicht etwa (nur) von Rechts kommt, sondern auch von den postmodernen jungen Linken.

Caroline Fourest: Generation Beleidigt. Von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei. Über den wachsenden Einfluss linker Identitärer. Eine Kritik. Edition Tiamat (Berlin) 2020 (= Critica Diabolis, Bd. 284), Amazon

Das Buch ist in den inhabergeführten Buchhandlungen BellingProsa, Buchfink, Arno Adler, Langenkamp, maKULaTUR und Buchstabe erhältlich.

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Foto: Caroline Fourest, Foto: (c) Jérôme Choain/ Flickr, CC BY 2.0, Wikipedia


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