Peter Schneider "Vivaldi und seine Töchter"
Herzlichen Glückwunsch!

Am 21. April 2020 wird der gebürtige Lübecker Peter Schneider 80 – und wir gratulieren schon jetzt, indem wir sein neuestes Buch „Vivaldi und seine Töchter“ zur Lektüre empfehlen.

Peter Schneider – einer der Akteure der 68er. In seiner autobiographischen Erzählung „Rebellion und Wahn“ legt er davon Zeugnis ab: „Es war eine schöne und schreckliche Zeit.“ „Wer ´68 verstehen will, sollte Peter Schneider lesen“, urteilte die Kultursendung Aspekte im ZDF. Am 3. Oktober 2015 hält er im Großen Saal der Gemeinnützigen eine bemerkenswerte Rede zur Feier der Deutschen Einheit. Sie können Sie unter dem Titel „Die Vereinigung der Deutschen und der Schmetterling in Tokio“ im Archiv der Lübeckischen Blätter (Heft 17/2015) nachlesen.

Peter Schneider als Verfasser einer so musikalisch fundierten, kenntnisreichen Vivaldi-Biographie – erstaunt das nach den eben skizzierten Eingangsbemerkungen? Wer „Rebellion und Wahn“ und „Die Lieben meiner Mutter“ gelesen hat, weiß, dass Schneiders Vater Komponist und Dirigent war. Rote Haare hatte er und litt unter Asthma wie Vivaldi, der „pretre rosso“. Als Schüler konnte Peter Schneider Mädchen mit seiner Geige und Vivaldi imponieren, anderen gelang das mit Fußballspielen. Den Anstoß zu seiner intensiven Beschäftigung mit dem lange Zeit vergessenen Komponisten erhielt Schneider durch den berühmten, 2017 verstorbenen Kameramann Michael Ballhaus, der mit Fassbinder, Martin Scorsese, Francis Ford Coppola, Robert Redford und Wolfgang Petersen Filme drehte. Ihm widmet Schneider dieses Buch; zu dem Vivaldi-Film kam es nicht mehr. Aus dem geplanten Drehbuch wurde eine Romanbiografie.

„Roman eines Lebens“ heißt es im Untertitel. Ein Hinweis darauf, dass romanhaft ausgestaltete Passagen, imaginierte Dialoge mit Exkursen zu Lebensstationen Vivaldis, zur Musikgeschichte oder Theaterpraxis, die ein intensives Quellenstudium verraten, abwechseln. Die Gattungsbezeichnung „Roman“ griffe also zu kurz. So fußt die Begegnung Vivaldis mit Carlo Goldoni auf Beschreibungen des Komödienschreibers, die Begegnung mit Rousseau ist, wie Schneider einflicht, frei erfunden.

Peter SchneiderPeter SchneiderImmer wieder versucht Schneider die historische Distanz, die uns von Vivaldi (1678 – 1741) trennt, zu überbrücken. So wird die Vergnügungsmetropole zum Las Vegas der damaligen Zeit, Vivaldis Vater wird zum Coach des Sohnes und Venedig mit seinen dort tätigen siebzig Komponisten zur Weltmetropole der Oper und boomendem Markt, Vivaldis Montezuma-Oper zur Darstellung eines Clashs der Kulturen. Der Blick auf die Gegenwart bezieht auch Schneiders Kritik am Kreuzfahrttourismus ein. Zugegeben, für manchen mag das eine unnötige Anbiederung sein. Faszinierend dagegen Schneiders Begegnung mit dem Archivar des Ospidale della Pietà Guiseppe Ellero. Staunend erfährt man, dass man als Venedig-Besucher, die Riva degli Schiavoni entlangschlendernd, zwar das Fünf-Sterne-Hotel Metropole zur Kenntnis nahm, aber nicht ahnte, dass dessen Eingang zu Vivaldis Zeiten der Haupteingang zur Pietá war.

Und damit befinden wir uns im Zentrum von Schneiders Romanbiographie. Im Ospidale della Pietá gab es etwas, was wir heute als „Babyklappe“ bezeichnen. Waisenkinder wurden dort abgegeben, misshandelte Mädchen mit gebrochenem Nasenbein oder blatternarbig. Nicht alle sind Waisen. Figlie privilegiate erhielten nicht nur Unterricht im Lesen und Schreiben, sondern wurden auch in Sprachen, im Gesang und durch Instrumentalunterricht ausgebildet. So gesehen, betont Schneider, war die Pietà eine fortschrittliche Bildungseinrichtung.

Zu diesen Mädchen gehörten auch Anna Girò, Tochter eines Perückenmachers, die spätere berühmte Sängerin, und ihre Schwester Paolina, Vivaldis „Krankenschwester“. Zusammen mit Vivaldi bilden sie eine „Künstlerfamilie“. Anna ist Primadonna und Muse, beaufsichtigt Produktionen und zeichnet Verträge. Gerüchte gab es immer, was ihre Beziehung zu dem 32 Jahre älteren Vivaldi betraf. Für eine Drehbuchversion, so erfährt man vom Autor, hätte sich eine Produktionsfirma wohl am liebsten „einen sexuellen Showdown“ gewünscht. Zum Glück kommt es in der Romanbiographie nicht dazu. Mit Michael Ballhaus war sich Schneider dann doch einig, dass „die Spannung in der Möglichkeitsform“ bleiben müsse, jeder Liebesfilm von der „Kunst der Andeutung“ lebe. Welch Glück, dass Schneider Anna nicht zu Vivaldis Lolita werden lässt.

Vivaldi: Komponist und Impresario, Maestro di violino, später Maestro di concerti an der Pietà, von Karl VI. in Triest zum Ritter geschlagen, Hofkapellmeister in Mantua, Satiren gegen seine Person ausgesetzt, Privataudienz beim Papst, Angst vor der Inquisition. Über viele Passagen wird die Romanbiographie zum Essay, manchmal werden die inneren Bilder beim Lesen so deutlich, dass sie einem Film ähneln. Die Premiere von Vivaldis Oper „L´Orlando finto pazzo“ wird zum Fiasko: „Im Parkett ein Geräuschpegel wie heute im Fußballstadion. Bengalische Feuer und das Krachen von Böllern heizen die Stimmung an. Aus den Logen fallen faule Feigen, Orangenschalen und abgebrannte Kerzen auf die Köpfe des unten stehenden Publikums.“ Es wird gekichert, miaut, gekräht, lautstark gehustet, geniest, gegähnt.

Man kann Vivaldi begleiten von der Geburt bis zu seinem Tod in Wien und seiner Bestattung in einem Armenbegräbnis – da war Vivaldis Stern schon gesunken, der Musikgeschmack hatte sich gewandelt. Die Inventarliste seines Hauses, das eine Woche nach seinem Tod versiegelt wurde, zählt ein paar Möbelstücke auf. Die Partituren sind verschwunden, er selbst über zweieinhalb Jahrhunderte vergessen. Erst 1867 tauchen in einem Notenschrank der Dresdner Hofkirche achtzig Violinkonzerte auf. Die Fragmente der Handschrift der Montezuma-Oper werden 1943 von Berlin nach Schlesien ausgelagert, von der Roten Armee in die Sowjetunion gebracht, in Kiew wieder entdeckt und landen 2001 wieder bei der Singakademie in Berlin. So zeichnet Schneider nicht nur das Leben Vivaldis nach, sondern auch wichtige Aspekte der Zeit-, Musik- und Rezeptionsgeschichte. Vivaldi heute: Schneider trägt mit dazu bei, dass Vivaldi nicht auf die „Vier Jahreszeiten“, den „Tinnitus der postindustriellen Gesellschaft“, reduziert wird.

Foto: Peter Schneider, (c) Regani/Wikimedia, CC BY 3.0

Peter Schneider: Vivaldi und seine Töchter, Kiepenheuer&Witsch, November 2019, Amazon.

Das Buch ist in den inhabergeführten Buchhandlungen BellingProsa, Buchfink, Arno Adler, Langenkamp, maKULaTUR und Buchstabe erhältlich.

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