Büchertipps
Romane vom Abhauen, Aussteigen, Auswandern und Abschiednehmen

Der Sommer ist noch nicht vorbei. Die Leselust trotz Corona ungebrochen. Also stelle ich für die Freundinnen des guten Buches hier noch einmal vier großartige Romane vor, die ich in der letzten Zeit am Strand, auf Reisen oder auf der heimischen Terrasse gelesen habe.

Teilweise preisgekrönt, teilweise richtige Schmöker mit Suchtcharakter, immer aber eine gute Geschichte, die den Leser/in nicht so schnell wieder loslässt. Die Autoren/innen stammen aus Australien, Indien, Deutschland und den USA.

Los geht es mit einem äußerst spannenden Roman aus Australien von Tim Winton, geboren 1960 in Perth: Die Hütte des Schäfers. Es geht um den 15jährigen Jaxie Clackton, der sich plötzlich völlig allein und auf der Flucht durch das menschenfeindliche Outback von Westaustralien befindet. Ursprünglich stammt er aus einem kleinen Kaff im Nirgendwo mit einem ewig besoffenen, prügelnden Vater und einer Mutter, die gerade verstorben ist. Als er plötzlich auch noch seinen Vater nach einem Unfall tot auffindet, glaubt er, dass alle Welt annehmen muss, dass er ihn umgebracht habe, weil er ihn gehasst hatte.

Also flieht er Richtung Norden, hinein in eine trostlose und gefährliche Halbwüste ohne Wasser, Nahrung und Schutz. Er will zu seiner Cousine Lee, die einzige Person, die ihm etwas bedeutet. Es beginnt eine abenteuerliche Tour voller tödlicher Gefahren, bis er endlich eine seltsame Hütte mit einem noch seltsameren Schäfer entdeckt. Hier findet er nach anfänglichen Ängsten und Unsicherheiten Unterschlupf und Sicherheit. Der angebliche Schäfer ist ein ehemaliger Priester, auf dem eine große Schuld lastet, die er aber nicht preisgeben kann und will. Beide Protagonisten schleichen scheinbar voller Misstrauen umeinander, obwohl sich eine leichte Routine und Freundschaft im Zusammenleben ergibt.

Die unwirtliche Wüstenlandschaft mit Salzsee verlangt beiden so einiges ab, um zu überleben. Erst die untrügliche Entdeckung, dass ganz in der Nähe der Schäferhütte Drogenkriminelle eine unterirdische Plantage betreiben, verändert völlig das Geschehen. Von Jaxie unbedacht verschuldet, gerät der alte Mann in tödliche Gefahr. Dieser Schuld ist er sich mehr als bewusst und in seiner Seelenqual und der Angst um das Leben des alten Priesters offenbart sich der gute Kern in Jaxies Charakter. Mehr will ich jetzt nicht verraten.

Dieser aufwühlende, brutale wie zärtliche Roman über das langsame Erwachsenwerden des jugendlichen Helden ist eine mitreißende Odyssee durch die grandiose Kulisse Westaustraliens. Zwar strotzt die Geschichte vor Kraftausdrücken und Schnodderigkeiten, weil sie hauptsächlich aus der Perspektive des jungen Protagonisten geschrieben ist. Trotzdem hat diese berührende, kluge Coming-of-Age-Geschichte viele Seiten. Es ist einerseits ein grandioses Roadmovie voller Spannung und Nervenkitzel, anderseits ein intelligentes Buch über ein misshandeltes Kind, dass seinen Weg ins Leben erst mühsam finden muss.

"Zum ersten Mal in meinem Leben weiß ich, was ich will, und ich habe alles, was ich dafür brauche. Wenn ihr sowas noch nie erlebt habt, tut ihr mit Leid. Aber es war nicht immer so. Ich bin durchs Feuer gegangen, um so weit zu kommen. Ich habe Sachen gesehen und getan und Scheiße erlebt, wie ihr es euch kaum vorstellen könnt. Also freut euch für mich. Und kommt mir verdammt noch mal nicht in die Quere" (Klappentext).

Tim Winton: Die Hütte des Schäfers, Luchterhand Verlag 2019, 304 Seiten, Amazon.

Lesetipp Nummer zwei stammt von der preisgekrönten indischen Autorin Anuradha Roy und erzählt die Geschichte einer ungewöhnlichen Frau, die für ihre Kunst und Freiheit lebte. Anuradha Roy ist in Hyderabd aufgewachsen und zählt zu den großen modernen Schriftstellerinnen Indiens. Der Garten meiner Mutter beschreibt das abenteuerliche, aber auch schwierige Leben der jungen Gayatri, die eigentlich Malerin werden wollte, aber gefangen ist in einer lieblosen Ehe mit Sohn - ein typisches traditionelles Frauenschicksal aus Indien aus den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts. Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht des mittlerweile 65jährigen Sohn Myshkin, der seine Mutter verlor, als er neun Jahre alt war. Der Vater der Protagonistin war ein fortschrittlich denkender Mensch, der die Talente seiner Tochter förderte und sie auf Reisen mitnahm, die ihren Blick auf die Welt öffneten.

Auf einer der Reisen lernten sie den deutschen Künstler Walter Spies kennen, der sie zu Tanzaufführungen und Malschulen mitnahm. Er zeigte ihr eine offene Welt, in der das Leben voller Leichtigkeit und Inspiration war. Nach der Rückkehr in die Heimat verstirbt überraschend der Vater, und Gayatris Familie löst das Problem mit der unkonventionellen Tochter, in dem sie als 17jährige kurzerhand an einen ehemaligen Studenten des Vaters verkuppelt wird. Die Heirat mit dem konservativen, religiösen Mann, für den Malen, Tanzen und Singen nur sinnlose Hobbies darstellen, wird für die junge Frau zur Hölle. Das Gefängnis einer traditionellen indischen Ehe.

Als plötzlich Walter Spies wieder in Indien auftaucht, um Sanskrit zu lernen und den indischen Tanz zu studieren, erweckt er Gayatri zu neuem Leben. Sie folgt dem berühmten Maler nach Bali und verlässt Ehemann und Kind, welches sie lange Zeit nachholen möchte, was ihr aber nicht gelingt. Auf Bali lebt sie mit Spies und seinen vielen Freunden in einer Künstlerkolonie und versucht, sich als Malerin einen Namen zu machen. Aber dann kommt der Zweite Weltkrieg, der auch in Asien für Chaos und Umbrüche sorgt. Gayatri zahlt für ihren Weg in die Freiheit und Selbstbestimmung einen hohen Preis. Als Spies 1942 wegen seiner Homosexualität verleumdet und interniert wurde, bricht das Gebilde aus Freunden und künstlerischer Inspiration auseinander. Kurze Zeit später stirbt Spies auf einem untergehenden Frachtschiff.

Anuradha Roy verknüpft geschickt die reale Person und Geschichte des deutschen Malers Walter Spies mit ihren fiktiven Romanfiguren. Spies war schon lange vor dem heutigen Massentourismus 1923 nach Bali gereist, um das Leben und die Musik dieser traumhaften, hinduistischen Insel in Indonesien zu erforschen. Noch heute wird er auf Bali als großer Maler und Förderer der heimischen Gamelan-Musik verehrt und mit einem eigenen Museum gefeiert. Der indischen Autorin gelingt es, in facettenreichen Bildern und Landschaftsbeschreibungen die historische Figur und seine traumhaft tropische Umwelt zum Leben zu erwecken.

Teils in Briefform versucht der mittlerweile ältliche Sohn der Protagonistin, seine Sehnsucht nach der verlorenen Mutter zu erforschen und zu beschreiben. Indien und das Bali der damaligen Zeit entstehen vor dem inneren Auge des Lesers durch die grandiose Sprache und die Bilder und Gerüche, die Klänge und die Düfte, die Hitze und das Leuchten der Farben in der vielschichtigen Sprache der wunderbaren Autorin. Ein hervorragender Roman über den Traum von einem anderen Leben, der Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung.

Anuradha Roy: Der Garten meiner Mutter, Luchterhand Verlag, 2020, 416 Seiten, Amazon.

Tipp Nummer drei ist der ultimative Wenderoman nach dem Mauerfall und stammt von Lutz Seiler, der bereits mit dem Vorgänger Kruso für Furore sorgte, den Buchpreis 2014 gewann und jetzt für das Nachfolgewerk "Stern 111" mit dem Leipziger Preis der Buchmesse 2020 geehrt wurde.

Ging es bei Kruso noch um den Zusammenbruch der DDR und die Aussteigerinsel Hiddensee, jener Enklave der Andersdenkenden und Freiheitswilligen, so beschreibt sein neuer Roman die Auswirkungen des Wendejahres 1989 für den Studenten Carl und seine Eltern, die die DDR verlassen, um im Westen noch einmal ein spätes Glück zu finden, während Carl das Elternhaus in Gera versorgen soll. Aber auch Carl versucht den Neuanfang in Berlin. Als gescheiterter Student voller Fragen und Unsicherheiten fährt er im Wagen des Vaters, einem Shiguli in die neue Hauptstadt und findet Unterschlupf in der Hausbesetzerszene an der Oranienstraße, um Dichter zu werden.

Zunächst schlägt er sich mit 500 Mark, die ihm die Eltern im Brief hinterlassen haben, in seiner einsamen, kleinen Kellerwohnung durch. Dann gründet er mit Freunden aus der Besetzerszene, die sich Arbeiterguerilla nennt und mit Hoffi, dem charismatischen Hirten ihren Anführer hat, die alternative Aussteigerkneipe "Die Assel" in der Oranienburger Straße. Carl wird zunächst als Handwerker, weil er mal Maurer war, dann als Kellner einer der Betreiber der Solidaritäts-Kaschemme für die Ausgestoßenen, die Alternativen, die Arbeiter und Nutten der neuen Gesellschaft im Aufbruch. Nebenbei schreibt er seine ersten Gedichte und verliebt sich.

Währenddessen sind seine Eltern in die BRD ausgereist und versuchen da, zunächst Fuß zu fassen, um später in die USA zu immigrieren. Aber in Hessen sind sie Flüchtlinge und Ossis, denen man das Leben schwer macht. Zwischenzeitlich finden sie nach Zeiten im Flüchtlingsheim, wo sie sich sogar aus den Augen verlieren, Unterkunft und Arbeit im Westen. Sie werden ausgenutzt und benutzt, verarscht und nicht für voll genommen, wie es vielen ehemaligen Bürgern zunächst im Westen passiert ist. Aber der Traum von den USA und einem Leben in Los Angeles bleibt immer lebendig.

Es geht viel um Aufbruchstimmung, der Suche nach Erfüllung von Lebensträumen und neuen Wegen ins Glück. Seiler schreibt eigentlich über zwei Fluchtgeschichten in einem Buch, über das Ende des Sozialismus und dem Wunsch, auch den Kapitalismus zu überwinden. Ein großer Roman über 500 Seiten über Aufbruch und Untergang, über soziale Utopien und gesellschaftliche Realität, von Demütigung und Stolz, den Willen von Freiheit und Selbstbestimmung.

Der Titel des Romans stammt übrigens von dem gleichnamigen Kofferradio "Stern 111", welches seinem Vater gehörte und früher die Stimme und das Ohr zur Freiheit war. Wie gewohnt, sprachlich brillant und poetisch vielschichtig, gelingt Seiler erneut ein großer Wurf, ein faszinierendes Geschichten- und Geschichtsbuch. Unbedingt lesenswert!

Lutz Seiler: Stern 111, Suhrkamp Verlag, 2020, 522 Seiten, Amazon.

Mein letzter Romanvorschlag stammt von Richard Russo, ein studierter Philosoph und Schriftsteller, der 1949 in Johnstown, New York geboren wurde. Bekannt wurde er in Deutschland durch seinen bereits 2002 mit dem Pulitzerpreis ausgezeichneten Roman Empire Falls, der bei uns aber erst vor vier Jahren unter dem Titel Diese gottverdammten Träume veröffentlicht wurde. Sein neuer Roman Jenseits der Erwartungen handelt von drei alten weißen Männern, ihren verschiedenen Lebensgeschichten und dem Verschwinden der gemeinsamen Jugendliebe Jacy Calloway.

Die drei ehemaligen Freunde treffen sich nach vielen Jahren auf Martha´s Vineyard wieder, um ihre alte Freundschaft zu beleben. Lincoln, Teddy und Mickey sind nach den gemeinsamen Jahren am College mittlerweile alle ihre eigenen Wege gegangen. Doch keiner hat die Frau vergessen, in die sie alle hoffnungslos verliebt waren und die eines Tages verschwunden war.

Alles begann am 1. Dezember 1969, als im Fernsehen eine für viele junge Amerikaner schicksalhafte Entscheidung übertragen wurde. Per Zufall wurde in einer Einberufungslotterie entschieden, wer als Soldat nach Vietnam gehen musste. Der Musik-liebende und aufbrausende Mickey hat das Pech, dass seine Losnummer frühzeitig gezogen wurde, und er somit in den Krieg ziehen sollte. Ihm blieb wie vielen jungen Männern der damaligen Zeit nur die Flucht nach Kanada. Aber darüber sprechen die drei alten Freunde erst vierzig Jahre später, als sie sich im Haus von Lincoln auf Martha´s Vineyard, der heute sehr hippen Insel vor der Südküste von Cape Cod in Massachusetts, wiedersehen.

Sie erinnern sich an die gemeinsamen wilden Zeiten der Hippies der 70er Jahre bis jene Jacy nach einem Wochenende im Herbst 1971 verschwand, welches sie gemeinsam mit ihren Freunden in eben diesem Haus verbracht hatte. Sie war nie wieder aufgetaucht, obwohl sie eigentlich kurz vor der Hochzeit mit einem anderem Mann stand. Ein sogenannter ungeklärter Kriminalfall, den der Autor in eine nur teilweise gelungene Detektivgeschichte verwandelt. Richtig spannend wird es erst im letzten Drittel des Romans, der zwischenzeitlich ein wenig ins Banale abzudriften scheint. Es geht viel um das Geschwätz alter Männer, die sich betrinken und über Krankheiten und Verluste von Lebensidealen schwadronieren.

Aber das spannende Ende dieser Geschichte macht einige Unzulänglichkeiten wieder wett. Denn die Gründe für das Verschwinden von Jacy Calloway liegen tatsächlich jenseits aller Erwartungen, wie schon der Titel des Romans wunderbar andeutet. Zunächst plätschert der Roman recht amüsant dahin, bis er richtig Fahrt aufnimmt, um zu guter Letzt den Leser atemlos zurückzulassen. Ein Roman über das Erinnern und Vergessen, die Momente und Begegnungen, die alle Menschen prägen. Dabei porträtiert die Geschichte drei Männer, hinter deren scheinbar gewöhnlichem Leben eine ganze Welt verborgen ist.

Wie schon der Boston Globe bilanzierte: "Eine fesselnde, kluge, wunderbare Sommerlektüre".

Richard Russo: Jenseits der Erwartungen, Dumont Verlag, 2020, 432 Seiten, Amazon.

Viel Spass beim Schmökern wünscht Holger Kistenmacher

Die Bücher sind in den inhabergeführten Buchhandlungen BellingProsa, Buchfink, Arno Adler, Langenkamp, maKULaTUR und Buchstabe erhältlich.

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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