Bücher-Tipps
Sehnsuchtsziel Afrika - Paradies oder Hölle

Der schwarze Kontinent Afrika steht im Mittelpunkt meiner beiden neuesten Buch-Tipps. Einerseits geht es in dem großartigen Roman von Matthias Politycki: "Das kann uns keiner nehmen", um eine ungewöhnliche Männerfreundschaft im Angesicht des Todes und vergangener Liebe; andererseits um einen Thriller, verkleidet als Sozialsatire, von Joseph Incardona: "One-Way-Ticket ins Paradies".

Mit seinem bislang wohl persönlichsten Roman hat der 1955 geborene Autor Matthias Politycki eine packende, lebenssatte Geschichte aufgeschrieben, die gespickt ist mit absurden und aberwitzigen Abenteuern, die den Schriftsteller aber um ein Haar selbst in den Tod geführt hätte. Er verarbeitet dabei nämlich ganz persönliche Erfahrungen seiner ersten Afrika-Reise, bei der er fast umgekommen wäre. Als weitgereister und weltgewandter Autor gelingt es Politycki, mit "seiner enorm präzisen Beobachtung menschlichen Verhaltens, eine an Dingfetischismus grenzende Beschreibungsfähigkeit, Humor und hellwache Form- und Sprachartistik" (Denis Scheck) eine Männerfreundschaft angesichts des Todes in einen Roadtrip vom Kilimandscharo nach Sansibar zu überführen.

Es geht um Hans, einen so zurückhaltenden wie weltoffenen Hamburger, der schon ein halbes Leben lang den höchsten Gipfel Afrikas bezwingen will, sowie um den Ur-Bayer Tscharlie, der respektlos, ohne Benimm und mit unerträglichen Ansichten seit Jahren in Afrika lebt. Beide treffen ungewollt zufällig auf dem Kratergrund des Kilimandscharos aufeinander. Hans will eigentlich seine Vergangenenheit bewältigen, die ihn mit seiner damaligen Freundin Mara vor 25 Jahren schon einmal an den höchsten Gipfel Afrikas führen sollte. Nur knapp war er damals mit Hilfe von Mara dem Tod durch eine lebensgefährliche Krankheit entkommen, allerdings auch mit dem Bruch der großen Liebe. Darunter leidet er immer noch und will sich nun diesem Trauma stellen.

Dort wo normalerweise kaum Touristen hinkommen, trifft Hans zu seinem Schrecken aber auf den schenkelklopfenden, spiddeligen Tscharlie, ein notorisch rassistisch erscheinender Sprücheklopfer und veritabler Bauerntölpel aus Bayern. Viel gegensätzlicher könnten die beiden Protagonisten kaum sein. Der liberale ich-Erzähler und der trinkfreudige, grell laute, derbe Maulheld, für den Hans nur ein "Hornbrillenwürschtl" darstellt.

Aber ein plötzlich einbrechender Schneesturm am Gipfel des Berges schweisst die so unterschiedlichen Männer zwangsweise zusammen. Auf 5600m raufen sich die beiden zusammen und entwickeln aus dieser Zufallsbekanntschaft sogar eine wunderbare Freundschaft, die schlussendlich in einem rasanten Roadtrip quer durch Tansania und Sansibar mündet. Der scheinbar so rassistische Macho Tscharlie entpuppt sich dabei als Afrikakenner, der von den Bewohner nicht nur respektiert wird, sondern sogar äußerst beliebt ist. Gleichzeitig erkennt Hans, das er als Linksliberaler und politisch korrekter Mensch in der afrikanischen Gesellschaft viel weniger Anerkennung findet. Tscharlie öffnet ihm mit seiner unorthodoxen Art Augen, Ohren und Herz für Afrika. "In Afrika ist manches extremer. Es wird häufiger gelacht, aber es ist auch schneller mal gefährlich oder auch sogar schrecklich. Es ist bunter, wilder und fordert einen auch mehr. Und wenn man Glück hat, dann kehrt man als ein anderer heim", weiß der Autor.

Während bei Hans viele vorherige Gewissheiten ins Wanken geraten, als sie sich auf den Weg ins Abenteuer durch Afrika machen und sich die beiden ungleichen Männer ihre tragischen Lebens- und Liebesgeschichten erzählen, werden aus Feinden Freunde, bis der Tod einen von beiden abholt. Politycki gelingt über 300 Seiten Roman eine gewaltige Vielfalt an Themen, Eindrücken und Landschaftsbeschreibungen, die den Leser in ferne Länder beamt, von wilden Abenteuern und der großen Liebe träumen lässt und keine Sekunde langweilt. Der Leser ist durch die humorvolle Erzählweise und den klaren, lesbaren Stil von Politycki von Anfang bis Ende gepackt. Somit bietet dieses sehr lesenswerte Buch trotz Corona-Zeiten eine vielschichtige Reise nach Afrika, bei der man beim Lesen mit beiden Beinen im Hier und Jetzt verwurzelt bleibt. Zwischen Abenteuer und Easy Rider gelingt es dem Leser am Ende sogar, den Macho-Tscharlie ein wenig zu lieben.

Matthias Politycki: Das kann uns keiner nehmen, Hoffmann und Campe Verlag Hamburg, März 2020, 304 Seiten, Amazon.

Tipp zwei meiner Buchvorstellungen beginnt mit einer E-Mail, die paradiesische Ferien verspricht: "Vergessen Sie alles, was Sie meinen über Ferien zu wissen. Die Insel Ihrer Träume hat Sie längst in Ihr Herz geschlossen, Iris. Nomad Island Resort". Die vermeintliche Paradiesinsel liegt vor der Küste Afrikas im Indischen Ozean und scheint genau das Richtige zu sein für die Genfer Bankiersfamilie. Das exklusive Luxusresort ist nur mit einem Flug in einer kleinen Cessna zu erreichen und wirkt tatsächlich aus der Luft grandios und einmalig.

Doch bereits nach der Landung beginnen sich Iris, ihr Mann Paul und die beiden Kinder, die 14jährige Lou und der 9jährige Stanislas zu fragen, ob sie da wirklich im Paradies gelandet sind. Der Mini-Flugplatz ist verwaist. Niemand holt sie ab, Handyempfang existiert nicht und der Pilot ist auch sofort wieder gestartet. Nach langem Warten werden sie endlich abgeholt und alles wird scheinbar gut. Es ist wunderschön im Nomad Island Resort. Die Aussicht sensationell, der luxeriöse Bungalow glänzt mit gediegener Eleganz und die Umgebung ist geprägt von tropischer Üppigkeit. Doch irgendwas ist faul im Paradies.

Das einheimische Personal, das sich hinter verspiegelten Sonnenbrillen versteckt, ist seltsam distanziert, und überhaupt entspricht der Service in keinster Weise dem luxuriösen Ambiente. Dabei hatte die gesamte Familie einige Wunschträume in gedanklicher Planung. Paul möchte endlich wieder Sex mit seiner Frau, während Iris sich wünscht, ihre allgemeine Traurigkeit zu vergessen. Tochter Lou möchte wiederum ihre Jungfräulichkeit verlieren, während sich ihr Bruder nichts mehr wünscht als einen harmonischen Familienurlaub.

Doch irgendwie scheint der Ort die Glück-Suchenden förmlich in sich einzusaugen. Das Rundum-Sorglos-Programm aus spektakulären Sonnenuntergängen, Massagen, Meditation, Fitnessprogramm und Drinks ohne Ende im duftenden Garten voller freundlicher Menschen ist das eine; Drohnen, die mit ihren Kameras die Urlauber beobachten und das strenge Reglement der Kurse für die Kinder sprechen eine andere Sprache. Männer, Frauen und Kinder werden separiert, nachts schleichen seltsame Gestalten um das Haus. Langsam aber stetig steigt die Verunsicherung, am richtigen Ort zu sein.

Der Autor Joseph Incardona schafft es, die Situation immer bedrohlicher und mysteriöser werden zu lassen. Warum sind alle Gäste gleich gekleidet und nennen sich Bewohner, die neugierig sind auf alle Neuankömmlinge? Versteckt sich hinter der scheinbaren glücklichen Fassade nicht doch nur zu viel Alkohol und Abgestumpftheit?

Warnzeichen ploppen auf und verschwinden wieder. Vater Paul wird misstrauisch, während Frau und Tochter neuen Freizügigkeiten fröhnen und der Sohn schon die Flucht plant. Incardona spielt in seinem Thriller, der aber auch amüsante Sozialsatire ist, geschickt mit Paranoia und Psychose. Das Streben nach Glück um jeden Preis kann böse enden. "Der Vollmond, das Meer, ein Strand, Palmen, der Traum war eine wunderschöne fleischfressende Pflanze, sie lockt einen, sie verführt einen, sie verschlingt einen", heisst es im Roman.

Der 1969 in Lausanne geborene Joseph Incardona mit sizilianischem Vater und schweizer Mutter wuchs in der Schweiz, Italien und Frankreich auf. Seit 2002 hat er diverse Romane, Theaterstücke und Drehbücher verfasst. Sein bis dato größter Erfolg, der 2019 auch auf deutsch erschienen ist, heisst Asphaltdschungel und war ein gefeierter Roman Noir. Scheinbar nebensächlich plätschert die Story dahin, während der Autor seine Protagonisten nach Glück gieren lässt.

Die anfängliche Beklemmung wird bald zu nacktem Horror. Raffiniert mischt Incardona Elemente von Psychothriller, Horrorstory, Gesellschaftssatire, Science-Fiction und Noir-Kriminalroman. Der Wunsch, gerade jetzt in Coronazeiten auf eine paradiesische Insel zu flüchten, erhält vom Schweizer Autor einen kräftigen Nackenschlag. Also lieber auf heimischem Sofa sitzenbleiben oder an heimischen Strand schmökern, bevor der Horror aus der Phantasie Realität wird.

Joseph Incardona: One-Way-Ticket ins Paradies, Lenos-Verlag ,Schweiz 2020, 310 Seiten, Amazon.

Die Bücher sind in den inhabergeführten Buchhandlungen BellingProsa, Buchfink, Arno Adler, Langenkamp, maKULaTUR und Buchstabe erhältlich.

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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