Neue Bücher
Für den Hausarrest

In Zeiten von Hausarrest und Wir bleiben Zuhause-Kampagnen bleibt viel Zeit, die man im heimischen Wohnzimmer verbringen darf (muss). Der Corona-Virus verändert unser alltägliches Leben.

Ich zum Beispiel habe endlich mal wieder viele alte Freunde und Bekannte kontaktiert, biete meine Hilfe älteren Nachbarn an, habe meine sportlichen Aktivitäten vom Fitness-Studio auf die heimische Turnmatte verlagert oder mache ausgiebige Strandspaziergänge, soweit es möglich ist. Trotzdem bleibt viel Zeit zum Kochen und Lesen.

Um den Leseratten und Bücherfreunden Zugang zum guten Buch zu ermöglichen, haben viele Buchläden auf den unkomplizierten Weg der Telefon-Bestellung und Zustellung durch die Buchhändler selbst umgestellt. Im Sinne von Förderung deiner lokalen Anbieter empfehle ich deshalb, seinen Buchladen des Vertrauens direkt telefonisch oder per Mail zu kontakten und zu unterstützen. Also ran an die gute Literatur und viel Spaß und Denken wünscht Holger Kistenmacher.

Meine beiden Buch-Tipps für heute stammen aus der realen Welt, behandeln harte Themen, fordern zum Mitdenken auf und sind gerade deshalb nach meiner Meinung momentan sehr lesenswert. Mein erster Lese-Vorschlag stammt von der Grande Dame der irischen Literatur und streitbaren Vorkämpferin von Feminismus und Emanzipation: Edna O`Brian. Die fast neunzigjährige Autorin hat nach ausgiebigen Recherchen in Nigeria selbst ein schockierendes und starkes Buch über ein Chibok-Mädchen geschrieben, welches 2014 von der islamistischen Terrormiliz Boko Haram entführt, versklavt und missbraucht wurde.

Gleich mit ihrem ersten Buch "Country Girls", das 1960 erschien, löste sie einen Skandal aus und wurde zur bestgehassten Autorin Irlands. Das Buch wurde von der Kirche verbannt und gleich auf dem Kirchhof ihres Heimatdorfes verbrannt. Auch ihre nächsten sechs Bücher, in denen es um weibliche Sexualität, männliche Gewalt und die Bigotterie in der Kirche und ihrer irischen Provinz ging, durften in Irland gar nicht erst erscheinen, dabei war sie international bereits ein Literatur-Star.

Ihr aktueller Roman "Das Mädchen" entstand, nachdem sie 2016 und 2017 mehrere Wochen selbst in Nigeria gewesen ist, um das Schicksal von entführten Mädchen und Frauen zu untersuchen. 2014 ging eine erschütternde Meldung um die Welt: Die Terrormiliz Boko Haram hatte im Nordosten Nigerias 276 Schulmädchen aus einem christlichen Internat in Chibok verschleppt. Monatelang fehlte von den Entführten jede Spur.

Dann erschien ein Zeitungsartikel über eine junge Frau, der es gelungen war, dem Horror-Camp der Islamisten zu entfliehen. Deren Schicksal habe sie tief erschüttert und ihre Absicht bestärkt, nach Nigeria trotz ihres hohen Alters zu reisen. Sie sprach mit Ärzten, Traumatherapeuten und Journalisten. Vor allem aber konnte sie mehrere der Mädchen sprechen, denen ebenfalls die Flucht gelungen war. "Ich kam nicht als Journalistin, sondern als Schriftstellerin" betont O´Brian. "Was sie mir erzählten, war ein riesiges Mosaik, das ich zusammensetzen musste".

In ihrem Buch erzählt sie eine fiktive Geschichte, die sich aus den authentischen Berichten der Frauen und Mädchen, sowie ihren anderweitigen Recherchen zusammensetzt. Maryam heißt ihre Ich-Erzählerin. Sie ist 15 Jahre alt, als sie morgens aus dem Schulschlafsaal getrieben wird und als Sklavin in einem Urwaldcamp landet. Sie muss hart arbeiten, hungert und wird mehrfach vergewaltigt. Schließlich wird sie einem verdienten Kämpfer zur Frau gegeben, der sie schwängert.

Kurz nach der Geburt ihres Baby-Mädchens bietet ihr ein Bombenangriff auf das Camp die Chance zur Flucht. Gemeinsam mit einer jungen Freundin verschwinden sie im Urwald. Wochenlang irren Maryam mit dem Baby Babby und Freundin Buki durch den Wald, getrieben von Angst und Hunger. Als Buki durch einen Schlangenbiss stirbt, überlegt die geschwächte junge Frau, ihr Kind in einem Korb treibend auf einem Fluss auszusetzen, wird dann aber von Nomaden des Fulbe-Stammes gerettet.

Dass sie schließlich zu ihrer Familie zurückfindet, grenzt an ein Wunder. Zunächst wird sie bei Feierlichkeiten, selbst ein Besuch beim Präsidenten wird anberaumt, herumgereicht. Trotzdem wird nicht alles gut mit ihrer Heimkehr. In ihrem von Traditionen regierten Dorf gilt die junge Mutter als "Buschfrau" und Hure der Terroristen. Von ihren traumatischen Erfahrungen verfolgt, stößt Maryam auf Unverständnis und Ablehnung. Sie hat Schande über ihre Familie gebracht, weil sie als unverheiratete Mutter ihre Verwandschaft beschämt. Eine Tante nimmt ihr Baby weg und behauptet später, dass das Kind plötzlich gestorben sei.

Mit Hilfe der Kirche und eines Klosters gelingt es ihr schließlich, das Baby wieder zu finden und erneut zu fliehen, diesmal in die Obhut einer kirchlichen Frauen-Einrichtung in einer größeren Stadt. Dort trifft sie auf andere betroffene Frauen, auf Hilfsbereitschaft und Mitgefühl. So kann sie langsam beginnen, das Trauma abzustreifen und ihren Weg zurück ins Leben zu beginnen.

Mit klarer, mitreißender Sprache gelingt Edna O`Brian ein hartes, aber äußerst empathisches Buch über ein kaum vorstellbares Frauen-Schicksal. Grausame Fakten und entsetzliche Einzelheiten während der Gefangenschaft sind schwer zu ertragen. Die Stimme Maryams spricht in diesem Buch das Unerträgliche aus, das sie selbst nicht fassen kann, weil es nur noch um das eigene Überleben und das ihrer Tochter geht. Dieser Überlebenswille und die Kraft dieser Frau machen den Roman zu einem wichtigen und unbedingt lesenswerten Buch!

Edna O`Brian: Das Mädchen, Hoffmann und Campe, Hamburg, März 2020, 256 Seiten, Amazon.

Deutschland im Frühjahr und Sommer 2019. Die AfD wird zur Volkspartei im Osten. Merkel hat Zitteranfälle. Der in Berlin lebende Autor und Zeit-Journalist Moritz von Uslar hat sich nach 10 Jahren wieder nach Zehdenick in Brandenburg begeben. Die Kleinstadt im Norden von Berlin war bereits 2010 Schauplatz seiner beobachteten Reportage bei den irgendwie "Anders-Deutschen" in der brandenburgischen Provinz, eine Stunde entfernt von der Hauptstadt. Vier Jahre später wurde seine "teilnehmende Beobachtung Deutschboden" sogar verfilmt.

Nun ist von Uslar erneut hingefahren und vier Monate geblieben. Wieder mischt er sich unter das Volk, lässt die Geschichten und die Einwohner auf sich zukommen. Er beobachtet, notiert und lässt sein Aufnahmegerät laufen. Er sitzt in illegalen Kneipen, in Wohnzimmern, an der Aral-Tankstelle und in Getränkemärkten.

Alte Bekannte aus dem ersten Buch tauchen wieder auf: Das Urgestein Blocky, der Kneipenmann Heiko Schröder und die tätowierten Punks Raul und Eric, sowie weitere Mitglieder der legendären Band 5 Teeth Less. Aber auch neues Personal tritt in den Vordergrund: Die Bäckersfrau Katharina, das Barmädchen Pretty Baby, ein linker Skinhead, der in den 90er Jahren vor den rechten Glatzen fliehen musste, aber trotzdem regelmäßig auf´s Maul bekam.

Anders als in den zehn Jahren zuvor ist der Reporter aber in der Kleinstadt kein Unbekannter mehr. Schnell wird klar, das ist hier nicht mehr das Deutschland von vor 10 Jahren. Der Ton untereinander ist härter und politischer geworden. "Zehdenick hat sich auf der Oberfläche sehr gut entwickelt", betont der Autor. "Es gibt weniger Arbeitslose. Die Stadt sieht nach wie vor sehr hübsch aus". Die Migrationskrise und der politische Radau der selbsternannten "Kleine-Leute-Partei"AfD mit ihren Wahlerfolgen hat das Klima in der Kleinstadt verändert.

"Die reden anders miteinander, die haben einen anderen Umgangston". Neonazis, AfD, Rassismus, Aufs Maul, große Ernüchterung, das volle Programm. Trotzdem betont von Uslar, dass Ost nicht gleich rechts sei. Aber trotzdem, auch in Zehdenick sprechen immer wieder Menschen aller Altersklassen darüber, dass sie sich vom Westen gedemütigt und geringgeschätzt fühlen. Faschismus als Jugendkultur der 90er, als Provokation, als Alternative zum Punk wird verklärt. Einige Protagonisten geben sich geläutert, aber am Ende des Tages bleibt da dieser widerliche Alltagsrassismus und beinharte Faschismus, der dem Reporter feist ins Gesicht lacht.

Natürlich bleiben Widersprüche, Ängste und Wandlungen, wie zum Beispiel die Tatsache, dass bei der Bürgermeisterwahl nicht der farblose AfD-Kandidat gewählt wird, sondern ein parteiloser und bekennender Homosexueller. Ein Interview mit der örtlichen AfD ist hingegen so langweilig und sinnlos, dass es von dem Autor abgebrochen wird. Dann doch lieber ne ordentliche Molle mit den Kumpels bei Schröder getrunken.

Trotzdem kann auch der Autor der täglichen Gewalt nicht völlig aus dem Wege gehen, selbst wenn Altkumpel ihn beschützen. Beim "Herrenabend", der östlichen Variante des Vatertags-Besäufnisses zu Himmelfahrt, die dort bereits um 9 Uhr morgens beginnt, bekommt der mutige Schriftsteller im Vorfeld eines Nazi-Konzerts nach der lapidaren Frage "Bist du schwul?" erstmal eine aufs Maul.

Und übrigens, den im Titel benutzten Ortsnamen Deutschboden gibt es wirklich. Es ist ein Wohnort mit wenigen Häusern mitten im Wald von Zehdenick. Vor hunderten von Jahren dachten Reisende, dass dort Deutschland beginnt.

Moritz von Uslar: Nochmal Deutschboden - Meine Rückkehr in die brandenburgische Provinz, Kiepenheuer & Witsch, 2020, 336 Seiten, Amazon.

Die Bücher sind in den inhabergeführten Buchhandlungen BellingProsa, Buchfink, Arno Adler, Langenkamp, maKULaTUR und Buchstabe erhältlich.

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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