Die Libanesische Künstlerin Huguette Caland (1931-2019) ist in Europa noch ein ziemlich unbekanntes Wesen. Jetzt erhält die in Beirut geborene Künstlerin endlich die künstlerische Anerkennung in Form einer großen Retrospektive mit über 300 Werken in den Hamburger Deichtorhallen.
Kuratiert wurde die vielschichtige und äußerst beeindruckende Schau von der US-amerikanischen Professorin für Moderne Kunst der Universität von Pennsylvania, Hannah Feldmann. Dabei wurde die Ausstellung zunächst im Centro de Arte Reina Sofia in Madrid gezeigt und wird später auch noch weiter in die USA reisen. Die Hamburger Schau konnte aber durch über 30 Werke als Leihgaben aus dem Libanon ergänzt werden, die vorher in Madrid nicht gezeigt werden konnten wegen der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen der Hisbollah und Israel.
2 Arbeiten aus der Serie Rosinante, Foto: Holger Kistenmacher
Die äußerst vielschichtige Ausstellung zeigt Werke aus allen Schaffensphasen der Künstlerin, die ein sehr eigenständiges und unvergleichliches Oeuvre geschaffen hat während Huguette Calands Reise zwischen Kulturen und Kontinenten, die sie von Beirut nach Paris, weiter nach Venice, Los Angeles und wieder zurück nach Beirut führte. Als Tochter des ersten Präsidenten der Republik Libanon, Bechara El-Khoury, wurde sie 1931 in Beirut geboren und wuchs sehr privilegiert und politisch geprägt auf. Als der libanesische Bürgerkrieg ausbrach (1975 - 1990) ging sie nach Paris, um dort auch „künstlerisch ihre Flügel auszubreiten“. Ab 1987 lebte sie im kalifornischen Venice, wo sie in die amerikanische Kunst und Kultur eintauchte.
Aber egal wo sie lebte, stets war sie auf der Suche nach persönlicher und künstlerischer Freiheit und Selbstbestimmung. Zwar war sie bereits mit 21 Jahren mit Paul Caland, dem Neffen des politischen Gegenspielers ihres Vaters verheiratet, blieb es auch bis zum Ende, hatte aber gleichzeitig mehrere andere Liebhaber. Zum Beispiel lernte sie in Paris den berühmten rumänischen Bildhauer George Apostu kennen, obwohl sie bereits drei Kinder mit Paul hatte. Mit ihm reiste sie häufig in die französische Provinz Limonsin, wo berühmte Landschaftsbilder entstanden. Obwohl Apostu weder Englisch, Französisch oder Arabisch sprach und sie selbst kein Rumänisch konnte, kommunizierten sie hauptsächlich visuell, intim und zutiefst körperlich, wie die Kuratorin Hannah Feldman erklärte.
Die Kuratorin Hannah Feldman und Deichtorhallen-Chef Dirk Luckow, Foto: Holger Kistenmacher
Huguette Caland war stets eine Grenzgängerin, die gesellschaftliche Normen missachtete und sich durch ihre Pflichten als Präsidententochter und später als Mutter und Ehefrau eingeschränkt fühlte. Konventionen zu brechen war anscheinend in ihrer DNA angesiedelt. So unterstützte sie politisch im Libanon die geflüchteten Palästinenser, zog aber als künstlerischer Freigeist durch die Boheme von Venice und Los Angeles, nachdem sie jahrelang mit ihrem Liebhaber in Paris gelebt hatte.
Gleichermaßen provokant, humorvoll, intim und erotisch aufgeladen war auch ihr gesamtes künstlerisches Werk, das sowohl aus Malerei, Zeichnungen, Skulpturen, aber auch Mode, Tapisserien und Miniaturen bestand. Dazu sagte sie später: „Das Medium, das ich für meine Kunst verwendet habe, war vor allem mein eigenes Leben“. Dementsprechend hat die Kuratorin Hannah Feldman die gesamte Ausstellung auch in insgesamt 10 biografische Abteilungen unterteilt. So finden sich gleich zu Beginn des Rundgangs zentrale Werke ihres Schaffens, wie gemalte Bilder ihrer Eltern, aber auch das Kussbild „Moi, Mustafa et Paul“ (siehe Titelbild), welches sie zwischen Ehemann und Geliebten zeigt. Dabei war Mustafa der beste Freund ihres Ehemannes Paul und lebte zeitweilig sogar mit den beiden in Beirut zusammen. Ein Parade-Beispiel, wie Caland in ihrer 50jährigen Karriere konsequent gesellschaftliche und ästhetische Erwartungen hinterfragte.
Selbst entworfene Kaftane voller Erotik und Provokation, Foto: Holger Kistenmacher
In zarten Farben porträtiert sie sich selbst in Körperteilen oder als Selbstporträt in „Smock“ von 1992. Dazu integriert sie auch immer wieder Wortfetzen oder ganze Sätze, um klarzustellen, „ein Redeverbot akzeptiert sie nicht“. Als der Libanon explodierte, schrieb sie „Halt die Klappe“ ins Werk. Aber auch Anzüglichkeiten, Gedanken an Sex und körperliche Vergnügungen tauchen wie selbstverständlich in ihren Collagen und Bildern auf. Zusammen mit dem Modemacher Piere Cadin entwirft sie eine Modelinie mit typisch arabischen Kaftans, die sie aber frech bemalen und besticken lässt mit Busen, Arsch und Schamhaaren - welch Provokation.
Auch in den USA unterläuft sie gesellschaftliche Normen, indem sie explizit Miniaturen mit Schamhaaren malt, die dort zu der Zeit überhaupt nicht opportun sind. Immer wieder irritiert sie mit erotischen und sexuell aufgeladenen Inhalten, egal ob als Zeichnung oder große Malerei. Später kommen wunderbare Wandteppiche und Tapisserien hinzu, wie das wunderschöne Werk „Straße nach Damaskus“. Selbst dort bleibt ihre Kunst immer autobiografisch und behandelt Themen aus ihrem Leben. Wie auch in ihrem letzten großen Werk, in dem sie ihrer Tochter das Heimatland Libanon erklärt. Der sehr detaillierte und bunte Wandteppich zeigt ihr Land in allen Facetten, auch wenn er schlussendlich unvollendet blieb.
Die letzte große Arbeit, ein Wandteppich, die den Libanon in vielen Details zeigt, Foto: Holger Kistenmacher
Die Retrospektive Huguette Caland; „A Life in a Few Lines“ läuft vom 24. Oktober bis zum 26. April 2026. Zur Ausstellung ist ein deutsch-spanischer Katalog erschienen, 280 Seiten, Preis: 45 Euro. www.deichtorhallen.de
Doch neben dieser absolut sehenswerten Schau und Neuentdeckung der libanesischen Künstlerin Huguette Caland haben die Deichtorhallen ein weiteres absolutes Highlight der Herbst/Winter-Saison zu bieten. Bis das Haus der Photographie nebenan endlich nach schier unfassbar langer Umbau-Zeit 2028 wieder eröffnet werden soll, gibt es eine große Foto-Ausstellung mit Werken aus der Walter Collection: „Into the Unseen“. Der deutsche Sammler Artur Walter aus Neu-Ulm hat sich bereits seit ca. 30 Jahren auf Fotografie aus Afrika, Asien und Südamerika spezialisiert und dabei gut 10.000 Werke zusammengetragen, wie er mir im Gespräch erzählte. Ihm war es immer wichtig, den Blick auf Foto-Künstler*innen zu werfen, die nicht dem europäischen oder amerikanischen Kulturkreis angehören. Häufig sind deren Werke nämlich „unseen“, nicht zu sehen.
Der Sammler Artur Walter vor der Arbeit: Eyes wide shut von Santu Mofokeng, Foto: Holger Kistenmacher
Nach jahrelanger Erforschung und Sammlung dieser unbekannten und ungesehenen Fotoarbeiten hat sich Walter jetzt entschlossen, einen Großteil seiner Sammlung dem Metropolitan Museum of Art von New York zu schenken, damit die Sammlung möglichst beisammen bleibt. Gut 6.500 Werke sind dann wohl für längere Zeit nicht mehr in Europa zu sehen, also eine gute Möglichkeit, noch so einige Hauptwerke in Hamburg zu besichtigen. Dazu gehören Fotokünstler wie Can Xin, Em`kal Eyongakpa, Rotimi Fani-Kayode, Santu Mofokeng, Eadweard Muybridge, Jo Ratcliffe, Song Rang, Bernie Searle und Yang Fudong.
Die Ausstellung zeigt zeitgenössische künstlerische Arbeiten, Serien, historische Werke und Fotoalben aus der Sammlung, die das Feld des Sichtbaren überschreiten, um das „Ungesehene“ - das Mystische, Verdrängte oder Sich-Entziehende - erfahrbar zu machen und dabei die hörbaren, taktilen und emotionalen Register des Mediums Fotografie neu zu aktivieren. Die beiden Kuratorinnen der Schau, Nadine Isabelle Henrich und Tina Marie Campt laden die Besucher ein, sich auf ungewohnte neue Sehgewohnheiten einzulassen. So zeigt die Serie „Frequenzen der Dunkelheit“ Arbeiten vom Südafrikaner Santu Mofokeng, der Schatten benutzt, um Dunkelheit, Spiritualität und Schatten als „Andersweltlichkeit“ zu zeigen, die durch Unschärfe und Imagination für Spannung sorgen. So zeigt das Porträt seines Bruders „Eyes wide shut“ einen schwarzen Mann mit geschlossenen Augen, der schwer erkrankt ist und bald sterben wird.
Installation von Munemasa Takahashi aus gefundenen Fotos nach dem Tzunami in Japan (Lost and found Projekt 2011), Foto: Holger Kistenmacher
Em`kal Eyongakpa zeigt in seiner Serie „Ketoya speaks“ geisterhafte Wesen, die den Widerstand gegen die deutschen Kolonialisten im Südwesten Kameruns verschlüsselt als scheinbare Dokumentationen zeigen. Eine große Installation in der Mitte der Schau stammt von Munemasa Takahashi, der mit dem „Lost & Found Project“ 2011 auf den Tsunami und das Erdbeben in Japan reagiert. Sie sammelten verschwundene und wieder gefundene Fotos aus Familienalben und schufen daraus ein kollektives visuelles Archiv.
Der chinesische Foto-Künstler Can Xin, der wie Song Dong und RongRong Mitglied der legendären und oft verbotenen Künstlergruppe „Beijing East Village Collective“ gehört, hat zum Thema „Schmecken, Berühren, Fühlen“ eine Fotoserie geschaffen, die die sinnliche Erfahrung als Zugang zur Welt dokumentiert.
Communication Series (1996 - 2006) von Cang Xin über Schmecken, Berühren, Fühlen, Foto: Holger Kistenmacher
Sehr spannend und obskur ist die Serie von Martina Bacigalupo, die in Uganda ein Foto-Studio entdeckt hat, dass Ganzkörper-Porträts von Menschen macht, die aber die Bilder nur nutzen, um Passbilder daraus zu schneiden, weil das billiger ist. Der Rest wird weggeworfen. Die Italienische Künstlerin hat diese Fotos mit den Leerstellen der Köpfe gesammelt und lenkt nun den Blick auf die Personen, die zwar kein Gesicht haben, aber durch ihr Alter, die Kleidung oder das Geschlecht ganz andere Geschichten erzählen.
In der Ausstellung der ungesehenen Bilder gibt es vieles zu entdecken, was das gewohnte Auge so noch nie gesehen hat - eine wunderbare Entdeckung.
Die Kuratorin Tina Marie Campt vor der Serie 'Gulu Real Art Studio' von Martina Bacigalupo, Foto: Holger Kistenmacher
„Into The Unseen“ - The Walter Collection: Halle für aktuelle Kunst Hamburg, bis 26. April 2026. www.deichtorhallen.de

