Jasper Billerbeck als Nanning, Foto: (c) Warner Bros. Pictures Germany

Filmkritik
"Amrum" - Ein stiller und anrührender Heimatfilm

„Eigentlich drehe ich immer Heimatfilme“, sagte der Hamburger Regisseur Fatih Akin bei der Vorstellung seines neuesten Streifens, der in Venedig außerhalb des Wettbewerbes lief. Jetzt hat er einen Film auf der deutschen Nordseeinsel Amrum gedreht. Wobei es im Vorspann heißt: „Ein Hark Bohm-Film von Fatih Akin“.

Die beiden Regisseure verbindet eine lange Freundschaft und Hark Bohm (Nordsee ist Mordsee) war eigentlich schon immer der Mentor von Akin. Leider war Bohn aufgrund seines hohen Alters (86 Jahre) nicht mehr selbst in der Lage, seine eigene Geschichte als 12-jähriger Pimp zu erzählen. Sein autobiografischer Roman „Amrum“ ist eine Geschichte aus dem 2. Weltkrieg. Der 12jährige Nanning (Jasper Billerbeck - eine Entdeckung) ist mit seiner Mutter, deren Schwester, sowie den beiden Geschwistern im alten Familienhaus gelandet, nachdem die Familie in Hamburg ausgebombt wurde. Der Vater kämpft im Krieg, während die Mutter (Laura Tonke) als glühende Anhängerin von Adolf Hitler trotz des Vormarsches der alliierten Truppen immer noch an den Endsieg glaubt.

Nanning (Jasper Billerbeck) und Onkel Theo (Matthias Schweighöfer), Foto: (c) Warner Bros. Pictures GermanyNanning (Jasper Billerbeck) und Onkel Theo (Matthias Schweighöfer), Foto: (c) Warner Bros. Pictures Germany

Als „Festländer“ wird der Junge gemobbt und ausgegrenzt, obwohl er sich alle Mühe gibt, dazu zu gehören und seiner Familie zu helfen. Er arbeitet als Erntehelfer bei der Kartoffel-Bäuerin Tessa (Diane Krüger), klaut Gänseeier, jagt Kaninchen und tut alles, um die hungernde Familie zu unterstützen. Als er bei der Arbeit auf dem Feld aufschnappt, dass der Krieg nun bald zu Ende sei, fragt er die Mutter, ob der Vater nun bald nach Hause käme. Die überzeugte Nationalsozialistin Hille gerät außer sich und will Tessa wegen Wehrkraftzersetzung anzeigen lassen.

Nie würde Nanning bezweifeln, dass die Mutter und der Vater zu den Guten gehören, aber in den Tagen, in denen sich Nazideutschland der bedingungslosen Kapitulation nähert, erlebt er sein Coming-of-Age-Drama. Noch läuft Nanning voller Stolz in Uniform und dem Walfischzahnmesser von Onkel Theo (Matthias Schweighöfer), der in New York lebt, in die Dünen und über den Strand. Niemand will über den fernen Onkel sprechen, außer der knorrige Fischer (Detlev Buck), der dem Jungen erzählt, dass der Onkel immigrierte, nachdem die Nazis seine jüdische Freundin ins Lager verschleppt hatten. Buck und Lars Jessen als gestandene Einheimische sorgen für ordentlich Lokalkolorit, ähnlich wie die Walfischzähne, die als Eingangstor vor dem Reetdachhaus stehen.

Laura Tonke (Mutter von Nanning) und Lisa Hagmeister (Tante Ena), Foto: (c) Warner Bros. Pictures GermanyLaura Tonke (Mutter von Nanning) und Lisa Hagmeister (Tante Ena), Foto: (c) Warner Bros. Pictures Germany

Kurz nach der Geburt ihres vierten Kindes fällt die Mutter in eine heftige Depression, denn gerade als die Wehen einsetzen, vermeldet das Radio Hitlers Selbstmord. Ab da verlässt sie kaum noch das Bett und will nichts mehr essen. Das einzige, was sie noch runter bekommen würde, wäre Weißbrot mit Butter und Honig, was aber absolut nicht zu bekommen ist auf Amrum, während die Briten mit ihren Flugzeugen über die Insel donnern. Es beginnt eine Odyssee für Nanning, in der er um die notwendigen Zutaten kämpft. Soll der einarmige Bäcker das Brot backen, braucht es Eier. Also klaut der Junge einer wilden Gans die Eier, obwohl die ihn anfaucht und sich dagegen wehrt. Um Honig zu bekommen, braucht er vom Fischer „Amrumgeld“, geräucherte Schollen, um diese einzutauschen. Dafür muss er am Strand eine Robbe anlocken, damit der Fischer diese schießen kann.

In wunderbaren und anrührenden Bilder wird der unglaubliche Kampf des Jungen vom Kameramann (Karl Walter Lindenlaub) eingefangen, wobei besonders Amrum eine weitere Hauptrolle spielt. Dabei wäre der Junge fast ertrunken, als er bei Ebbe zu seinem Nazi-Onkel Onno nach Föhr rübermacht, um von diesem Butter zu erbetteln. Auf dem Rückweg kommt die Flut schneller zurück als der Junge laufen kann.

Nanning (Jasper Billerbeck), Foto: (c) Warner Bros. Pictures GermanyNanning (Jasper Billerbeck), Foto: (c) Warner Bros. Pictures Germany

Fatih Akin erzählt aus der Perspektive des Jungen, der in seiner naiv-humanistischen Sichtweise keine Zweifel aufkommen lässt. Er ist stets freundlich, anständig, gehorsam und treuherzig stolz auf seine Eltern, während seine strenge Mutter nicht von ihrer Treue zum Reich lassen kann. Als roter Faden dient das Honigbrot, während die Insel Amrum mit ihren ruhigen, großen Landschaften für eine friedliche Schönheit steht. Die gefilmten Landschafts- und Naturaufnahmen, die untergehende Sonne über dem Watt, der Wind in den Dünen, Käfer auf Grashalmen, Wasservögel am Strand und die majestätischen Farben des unendlichen Himmels lassen kaum Langeweile aufkommen, obwohl der Film eher Akin-untypisch ist. Normalerweise sind seine Filme eher laut und dreckig. Dafür ist Amrum eher still, aber trotzdem sehr anrührend und mitfühlend.

„Ein Film, der das Innerste der Betrachter berühren soll“, wie der Regisseur selbst befindet. „Dies hat er von Hark Bohm gelernt“. Der alte Meister steht am Ende des Films selbst lächelnd im Sonnenuntergang am Strand und scheint mit der Arbeit seines Freundes Fatih Akin ganz zufrieden zu sein. Vielleicht auch ganz besonders, weil große Teile der Dialoge im Film im heimischen Friesisch (Öömrang - ein besonderer Dialekt, der nur auf Amrum gesprochen wird) gedreht wurden, die teilweise untertitelt werden mußten. Also auch sprachlich ein echter Heimatfilm aus dem Norden.



Der Film läuft im Filmhaus und im Filmpalast Stadthalle.

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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