Isabel Allende, Foto: (c) Heike Huslage-Koch/ Wikipedia

Herbstzeit = Lesezeit
Flucht, Exil, Heimat und Fremdsein

Der Regen trommelt gegen mein Fenster, stürmische Winde lassen die bunten Blätter fliegen – beste Zeit, sich in seinen Lieblingssessel zurückzuziehen und einen schönen dicken Schmöker zu lesen. Hierfür eignen sich meine neuesten Buchempfehlungen bestens: Drei große Schriftstellerinnen aus den verschiedensten Ecken unserer Erde, drei Familienchroniken, thematisch kreisend um Flucht, Exil, Heimat und Fremdsein.

Isabel Allende ist eine Vielschreiberin und große Erzählerin. Seit 37 Jahren produziert sie Romane zwischen Unterhaltung, Mystik und Politik. Weltberühmt wurde die gebürtige Chilenin mit ihrem Debüt „Das Geisterhaus“. Jetzt hat die 77jährige Autorin, die mittlerweile im amerikanischen Exil lebt, nachdem sie vier Romane, die in der Gegenwart spielen, ihre eigene Geschichte wieder neu entdeckt. Mit „Dieser weite Weg“ taucht sie tief in die Ära des spanischen Bürgerkrieges und die Geschichte Chiles ein und erzählt die authentische Lebensgeschichte von Victor, die dieser ihr im venezolanischen Exil, wohin auch sie vor dem Pinochet-Regime flüchten musste, selbst erzählt hat. Der Roman habe sich 40 Jahre später wie von selbst geschrieben, erzählt sie im Nachwort.

Es ist ein weiter Weg, den dieser Victor Dalmau gehen muss. Gerade hatte er sein Medizinstudium begonnen, als der spanische Bürgerkrieg ausbricht (1936 – 39). Sein jüngerer Bruder geht direkt an die Front, während Victor die republikanische Armee als Sanitäter unterstützt. Beide gehen durch die Hölle des Krieges. Die unkonventionelle Familie der Brüder hat noch eine Ziehtochter, die als Ziegenhirtin armer Bauern völlig verwahrlost von den Dalmaus aufgenommen wird und zu einer gefeierten Pianistin heranwächst. Als General Franco als Sieger aus dem fürchterlichen Gemetzel in Spanien hervorgeht, verlassen 500.000 Menschen das Land und flüchten ins Exil. Victor, seine Mutter und die angehende Pianistin Roser fliehen unter unmenschlichen Bedingungen über die Pyrenäen, um anschließend an Bord der Winnipeg, ein von Pablo Neruda gemietetes Frachtschiff nach Chile zu entkommen. Roser ist hochschwanger vom mittlerweile gefallenen Bruder Guillem, die Mutter in den französischen Bergen verloren gegangen.

Aber auch das Exilland Chile empfängt die Gebeutelten nicht mit offenen Armen. Die beiden schlagen sich mit Gelegenheitsjobs durch und führen eine respektvolle, aber leidenschaftslose Zweckehe. Liebe und erotische Leidenschaft verschaffen sich beide nur kurzfristig mit anderen Partnern. Dann folgt die zweite Flucht, als General Pinochet die frei gewählte sozialistische Präsidentschaft von Allende durch einen Militärputsch brutal beendet. Gerade als sie sich als Arzt und Pianistin im Land etabliert hatten, müssen sie erneut ihr Land verlassen und nach Venezuela flüchten. Isabel Allende vermischt im Roman klug, wenn auch manchmal klischeehaft unterhaltsame Schilderungen der Familien bis ins kleinste Detail mit historischen Momenten und Persönlichkeiten des Zeitgeschehens. Nicht nur der spätere Literatur-Nobelpreisträger Pablo Neruda (1904 – 1973) bringt höchstpersönlich über 2.000 Flüchtlinge nach Chile, auch lässt die Autorin den berühmten Landsmann zu Beginn jedes neuen Kapitels durch kurze Gedichte oder Lieder zu Wort kommen.

Des weiteren tauchen der später bestialisch ermordete Musiker Victor Jara auf, wie auch Pablo Picasso und dessen weltberühmtes Gemälde „Guernica“ oder der Onkel der Schriftstellerin, Salvador Allende (1908 – 1973), mit dem der Protagonist des Buches Schach spielt. Das klingt nach Namedropping, aber selbst die fiktiven Personen der Geschichte sind realen nachempfunden, wie die Schriftstellerin im Nachwort behauptet. Und natürlich bringt sie auch wieder viel eigene Erfahrung ein, denn auch sie musste zunächst aus Chile nach Venezuela fliehen, bevor sie von dort nach 13 Jahren in die USA aufbrach, wo sie noch heute lebt. So gelingt ihr erneut ein großer, überbordender Roman, ein Werk, das Zeit und Raum sprengt, Epochen und Generationen umfasst und ein Familienporträt entstehen lässt, welches den Leser fesselt, auch wenn dieser Roman nicht an die erzählerischen Stärken einiger ihrer anderen insgesamt 25 Bücher heranreicht.

Isabel Allende: Dieser weite Weg, Suhrkamp Verlag, Juli 2019, 361 Seiten, Amazon.

Auch mein zweiter Buch-Tipp kreist um Flucht und Exil. „Drei sind ein Dorf“ seziert die Risse zwischen neuer und alter Welt in den Biografien von Exil-Iranerinnen und stammt von Dina Nayeri. Diese Autorin musste als 10jähriges Mädchen ebenfalls ihr Heimatland, den Iran verlassen und lebte im Exil in den USA. Wie ihre Protagonistin siedelte sie nach ihrem Studium zunächst nach Amsterdam über und dann nach London, wo sie noch heute aktuell wohnt. Vieles in ihrem zweiten Roman ist von der eigenen Biografie beeinflusst. Wie ihre Protagonistin Nilou, die in Yale promoviert und eine wissenschaftliche Karriere gemacht hat, entfremdet sie sich immer mehr vom neuen Gastland und dem Ehemann und träumt von Vater und Heimat. Es spiegeln sich die realen Welten der Schriftstellerin in den Sehnsüchten ihrer Roman-Figur.

Der Vater von Nilou hatte zwar versprochen, der Mutter und Tochter, die als Christen aus dem Iran flüchten mussten, zu folgen, aber schafft es nicht, sein gewohntes Leben als Arzt, Freund der persischen Literatur und Opium-Süchtiger zu verlassen. Nur über Briefe, Pakete voller Gerüche und Gewürze und einige wenige Besuche an verschiedenen Orten in Europa wird das Band zwischen Tochter und Vater Bahman aufrecht erhalten. Er lebt weiterhin in Isfahan, hat zwei weitere gescheiterte Ehen hinter sich, bleibt aber trotzdem der Mittelpunkt im Leben seiner Tochter, auch wenn sich diese durch ihre Verwestlichung immer mehr von ihm entfremdet.

Scheinbar ist ihre Integration im Westen gelungen. Sie ist erfolgreich, hat einen sie liebenden Ehemann aus Frankreich, vermisst aber die Düfte von Kaffee, Kurkuma und Koriander und Köstlichkeiten, wie die Sauerkirschen und Aprikosen der Kindheit. Also richtet sie sich ein persönliches Eckchen, ihre Parzelle in der gemeinsamen Wohnung mit Guillaume ein und verteidigt diese gegen Trotz, Tränen, Wut und Unverständnis. Letztlich bringt das ihre Ehe in die Krise und Nilou flüchtet sich in die Heimatgefühle der Exil-Gemeinde, auf die sie in Amsterdam trifft.

Dort fiebert man mit bei den Wahlen in der alten Heimat, genauso wie man sich gegenseitig schützt vor ausländerfeindlichen Angriffen einer zunehmend rassistischen holländischen Gesellschaft unter Geert Wilders. Geschickt verbindet die Autorin das Alltagsgeschehen der Protagonistin mit Erinnerungen von Besuchen des Babas in der Vergangenheit, die in Missverständnissen und Trauer endeten. Als sich ihr Vater nach 22 Jahren endlich auch zur Flucht aus dem Iran entschließt und die Tochter um Hilfe bittet, ist es zu spät. Illusionen, Träume und die Zerrissenheit zwischen Woher und Wohin, alter und neuer Heimat scheinen eine Lösung für die gesamte Familie unmöglich zu machen.

Dina Nayeri: Drei sind ein Dorf, Mare Verlag, August 2018, 368 Seiten, Amazon.

Roman-Tipp drei stammt von Nell Zink, 1964 in Kalifornien geboren, aber mittlerweile in der Nähe von Berlin lebend. Ihr Debütroman ist eine dunkle Komödie mit rasantem Tempo über die fundamentalen Widersprüche der amerikanischen Gesellschaft. Ein ironischer Roman über Doppelmoral und Lebenslügen. Das Ganze spielt in Virginia, was dem Buch sowohl den Titel gab, als auch den Nährboden für eine absurde Provinzposse bereitet.

Nell Zink metzelt in ihrem rasanten Roman scheinbar alles nieder, was der amerikanischen Gesellschaft heilig ist, indem sie eine Frauenbiografie der frühen sechziger Jahre entwirft voller rassischer und sexistischer Abgründe. Ihre Heldin, Peggy Vaillaincourt, Jahrgang 1948 stammt aus bürgerlichen Verhältnissen, betrachtet sich als lesbisch und beginnt folgerichtig ihr Studium an einem Frauen-College in Stillwater. Dort unterrichtet nur ein einziger Mann, Lee Fleming, der allerdings stockschwul ist und aus einer schwerreichen Ostküstendynastie stammt. Aufgrund ihrer Androgynität bringt sie diesen narzistischen Selbstdarsteller und begabten Dichter dermaßen in Wallung, dass die beiden eine Sex-gesteuerte dreimonatige Liaison eingehen, was eine Schwangerschaft (Sohn Byrdie) und den Rausschmiss aus dem College für Peggy zur Folge hat.

Zwar lässt sich Lee auf die Heirat mit Peggy ein, kann aber von seinen schwulen Abenteuern nicht lassen. Sie bekommen sogar noch ein zweites Kind (Mirielle), aber die nun zur Hausfrau degradierte Peggy muss von eigenen Zielen als Theater-Autorin Abstand nehmen. Sie dient dem Menschenverführer und angesehenem Autor als hübsches Beiwerk und darf seinen Boheme-Extravaganzen als Zuschauerin beiwohnen.

Als Lee dann noch vor ihren Augen einen Knaben verführt, versenkt sie kurzerhand seinen Wagen in den Stillwater See, schnappt sich die kleine Tochter Mirielle und entgeht damit der Einweisung in der Psychiatrie. Sie taucht in einer sumpfigen Ecke von Virginia unter und besetzt ein runtergekommenes leer stehendes Haus. Mithilfe einer gestohlenen Geburtsurkunde verschafft sie ihrer Tochter eine neue Identität als Schwarze. Obwohl die flachsblonde Mirielle, jetzt Karen heißt und besonders im Sommer mit einer Haut, „zart wie geröstete Marshmellow“ gesegnet ist, gehen beide als Afro-Amerikaner durch. „Virginia war besiedelt, bevor die Sklaverei begann, und es war bunt. Es gab lohfarbene Schwarze mit haselnussbraunen Augen. Schwarze mit rotbraunem Haar, einer Haut wie Butter und tiefblaugrünen Augen“.

Sie schlägt sich mit absurden Jobs durch, wie Regenwürmer-sammeln für Angler, um dann ins Drogengeschäft einzusteigen. Der totale soziale Abstieg in Armut und Verwahrlosung für Mutter und Tochter. Trotzdem entwickelt sich Karen prächtig und wechselt mit ihrem hochbegabten schwarzen Freund Temple Moody sehr jung auf ein College.

Ihr Bruder lebt währenddessen beim Vater und entwickelt sich zum sympathischen Nerd, trotz Frauenhasser und schwulem Professor als Vater. Verstrickt in Drogenexzessen und Teilnehmer einer ausufernden Party treffen die Geschwister unbekannterweise aufeinander, was einerseits im Desaster endet, anderseits aber zu einer ziemlich klischeehaften Wiedervereinigung der Familie führt.

Ein Happy End muss halt sein in dieser düsteren Dystopie einer amerikanischen Familie, wenn auch voller Kitsch und arg bemüht. Nichts erscheint hier politisch korrekt, sondern bitterböse überzogen und voller Provokation. Nell Zink gelingt ein schwarz-humoriges, äußerst amüsantes Buch zwischen Gesellschaftssatire und abgedrehter Verwechslungskomödie, die die amerikanische Gesellschaft als weiterhin rassistisch und voller Doppelmoral spiegelt – sehr lesenswert.

Nell Zink: Virginia, Rowohlt Verlag, April 2019, 318 Seiten, Amazon.

Die Bücher sind in den inhabergeführten Buchhandlungen BellingProsa, Buchfink, Arno Adler, Langenkamp, maKULaTUR und Buchstabe erhältlich.

Titelfoto: Isabel Allende, Foto: (c) Heike Huslage-Koch / Wikipedia

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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