Drei neue Buchtipps
Außenseiter, Asylsuchende und Abgeschobene

Mit drei Romanen, die inhaltlich aktuelle Themen behandeln, aber sowohl sprachlich, als auch kulturell äußerst verschieden dargeboten werden, möchte ich den geneigten Leser heute zum guten Buch verführen.

Es geht einerseits um die deutsche Geschichte, die als Panorama seit den 80ern vom Alleingang des Helden Freddy erzählt, des weiteren von der Odyssee einer tschechischen Künstlerfamilie durch halb Europa, sowie dem erbarmungslosen Kampf eines jungen mexikanischen Flüchtlings, der sich buchstäblich seinen Platz in den USA erkämpfen muss.

Mit Gringo-Champ ist der damals erst 19jährigen Aura Xilonen ein Erstlingswerk gelungen, dass so manchen Leser wie Kritiker förmlich vom Hocker gerissen hat. Unter einem Pseudonym hatte sie sich bei einem Literaturwettbewerb unter 400 Mitstreitern beworben und gleich den ersten Preis abgeräumt. Die Jury vermutete aufgrund der eigenwilligen Sprache, Stilistik und Reife des Textes einen dreißig- bis vierzigjährigen Autor, dabei hatte die junge Schriftstellerin den Roman als Ich-Erzählerin bereits mit 16 Jahren begonnen.

Die Geschichte erzählt vom jungen Flüchtling Liborio, der unter Lebensgefahr den reißenden Rio Grande durchquert hat, um der bitteren Straßengewalt Mexikos zu entkommen. Aber zunächst kommt er aus der scheinbaren Hölle in einen nicht weniger feindseligen Landstrich, in der er als Höhepunkt der abstrusen Fluchtgeschichte sogar in eine Schlangengrube springen muss. Liberio spürt die Tiere, sie tun ihm aber nichts. In Rückblenden werden diese Ereignisse knallhart geschildert. Auch von der Ausbeutung auf einer Baumwollplantage, mordlustigen Rednecks, die militärisch bewaffnet, Geflüchtete wie Großwild jagen. Die Parallelen zur Realität eines Donald Trumps und seiner Hasstiraden mit den folgenden Massakern könnten deutlicher kaum sein.

Das besondere an diesem atemberaubenden Roman ist aber die Sprache, einem Gossen-Slang zwischen Englisch und Spanisch voller Härte und Brutalität. Da ist von Mickerfickern und fokkin Meridianern die Rede. Der Leser hat zunächst schwer zu kämpfen, aber gewöhnt sich schnell an den brutalen Ton, der jeden wie ein Sog in die Geschichte hineinzieht.

Zufällig ergattert Liborio einen illegalen Job in einer Buchhandlung irgendwo in den Südstaaten. Sein Chef nutzt ihn zwar aus und beschimpft ihn ständig als dumm und unnütz, lässt ihn aber Bücher lesen und gibt ihm ein Dach über dem Kopf. Er frisst förmlich Literatur von Vergil, Dante, Cervantes, Dickens oder Aesop. „Als ich begonnen hatte, Büchlein zu lesen, die keine Bilder mehr enthielten, fand ich Gefallen an den Gedanken der Leute, die da drinnen lebten, zusammengepresst zwischen den Seiten, ohne dass sie den Mund öffnen mussten. Man war wie ein fokkin Spanner, der alles sah, was in ihrem Inneren passierte“.

Die Härte der Tonalität, das Harsche der Sprache verändert sich, als sich die Fluchtgeschichte in eine zarte Liebesgeschichte wandelt. Als ein paar Macho-Jugendliche eine schöne junge Frau belästigen, kommt er ihr zur Hilfe und lässt sich auf einen Kampf ein: „Zack! Bumm! Kawatsch! Ich niete ihm die Zähne um, bis er nur noch sein rotes, feistes Mus sieht, wie er da großspurig rumzippert, der Länge nach auf den Gehweg gelümmelt, die Beine gegrätscht.“ Es folgen weitere brutale Boxkämpfe, in denen der dürre „Drecksmex“ zwar reichlich einstecken muss, sich aber als zäh und scheinbar schmerzbefreit erweist. Dafür teilt er mächtig und überraschend aus und entpuppt sich als unbesiegbarer Gringo Champ.

Er wird zum Youtube-Star und wandelt sich vom Radaubruder zum Menschenfreund. Selbst die absehbare romantische Entwicklung zu seiner heimlichen Liebe rutscht nicht ins klischeehafte ab. Die wilde Sprache nutzt sich nicht ab, sondern wird mit ihrer enormen Sprachgewalt zu einem eindringlichen Zeugnis über Flucht und das Drama, das sich tagtäglich an den Grenzen nicht nur in den USA abspielt.

Aura Xilonen: Gringo Champ, hervorragend übersetzt von Susanne Lange, Carl Hanser Verlag, Januar 2019, 353 Seiten, Amazon.

Auch mein zweiter Buch-Tipp handelt von einer Flucht, in Form eines skurrilen Road-Trips durch Europa bis ins urtümlich Hinterland der Tschechei. Der ehemalige tschechische Underground-Poet Jáchym Topol schickt in seinem politischen Gegenwartsroman „Ein empfindsamer Mensch“ seine Helden, eine runtergekommene Schauspieler-Familie, nach dem Rauswurf aus Großbritannien quer durch den europäischen Kontinent, und schreibt dabei eindringlich über den Zustand Europas. Noch 1989, zur Zeit der samtenen Revolution brandete den Shakespeare-Darstellern überall Sympathien entgegen. Doch dann schlug das Pendel in England um: Als „Polish Vermins“ werden Morle, Sonja und ihre zwei Kinder von Brexiteers vertrieben, trotz ihrer Bekundung, „sie seien schließlich kein polnisches, sondern tschechisches Gesindel“.

In Spanien diffamiert man sie als Massenurlauber, in Frankreich als Zigeuner, in Deutschland als Chaoten. Ungarn behandelt sie wie Flüchtlinge und in der Ukraine werden sie beschossen. Im geklauten BMW von dem „Russian Vermin“ Gerard Dépardieu, der gefesselt im Kofferraum liegt, flüchten sie aus dem russisch-ukrainischen Kriegsgebiet nach Böhmen, in die vermeintliche Heimat. Das Ganze kommt daher als ein überbordendes, großes sprachliches Spektakel, ein böser Traum, aus dem es kein Erwachen gibt. Diese Bestandsaufnahme eines zerfallenden Europas von Topol endet in einer tschechischen Provinzheimat, die sich als wildes, phantasmagorisches Hinterland erweist voller Freaks, Vertriebener und ausgegrenzter Alten.

Als empfindsamer Mensch bleibt Morle gefangen zwischen Gewalt, Armut, Elend, Dreck und Vertreibung. Mit seinen Jungen entgeht der Held auf der Suche nach Heimat und persönlichen Wurzeln in einer verunsicherten Gesellschaft immer wieder knapp Verhaftungen, Prügel und Schlimmeren. Seine Frau Sonja wird ermordet, aber nicht beerdigt. Der namenlose, große Sohn spricht nicht, sein Zwillingsbruder wächst nicht, erfreut sich aber eines prächtigen Gemächts in der behaarten Körpermitte. Sie landen in einem verrotteten Dorf mit gepflegtem Bordell, das von einer kriminellen Autoschrauberbande, die als Familienclan im Wald haust, aber alle drangsaliert, erpresst und beherrscht wird. Und dann gibt es noch den alten russischen Panzer, der zur Feier des Tages (Hochzeit und Beerdigung) alles in Schutt und Asche legt.

Topol schreibt atemlos, nah an der Groteske und am Mystischen, aber immer auch als Spiegelbild der Gesellschaft. Ein Ritterroman als Kasperletheater, als irre Bauernkomödie, wie auch als politisch aufgeladenes Road-Movie.

Jáchym Topol: Ein empfindsamer Mensch, Suhrkamp-Verlag, März 2019, 486 Seiten, Amazon.

Auch in meinem dritten Lese-Tipp geht es um einen Außenseiter: Freddy, gerade aus der Haft entlassen, lässt sein Leben Revue passieren und zeichnet dabei gleichzeitig ein Panorama der achtziger Jahre.

Der 1964 in Mainz geborene Autor Stefan Moster ist bekannt für Übersetzungen aus dem Finnischen und Erzähler von feinen, leisen Geschichten, die große Themen behandeln und wunderbar geschrieben sind. So erschien im mare-Verlag zuletzt sein Roman "Neringa oder Die andere Art der Heimkehr", das sich ebenfalls zu entdecken lohnt.

Doch zurück zu seinem aktuellen Band: "Alleingang". Die Handlung spielt an einem Tag, dem Tag der Haftentlassung von Freddy, nachdem er zum dritten Mal im Knast gelandet war. Auf dem Weg zurück in die Freiheit und in die Stadt verliert er sich immer wieder in Erinnerungen und begibt sich auf eine Zeitreise in seine Vergangenheit. Als eines von elf Kindern wächst Freddy unter prekären Verhältnissen auf. Seine Eltern sind abgehauen, und die Großmutter muss sich um die Kinderschar in einem heruntergekommenen Haus unter chaotischen Verhältnissen kümmern.

Trotzdem gelingt es Freddy, eine Freundschaft zu Tom, der aus einem wohl behüteten Elternhaus stammt, zu schließen. Gemeinsam dürfen sie zu Nacht-schlafender-Zeit den legendären Boxkampf von Muhammad Ali gegen George Foreman in Zaire (Rumble in the Jungle) im Fernsehen beim Großvater schauen. Der nächtliche Fernseh-Boxkampf ist ein Geschenk von Tom an seinen Freund Freddy, „der normalerweise nicht einmal am Geburtstag Geschenke bekam“. Gleichzeitig symbolisiert der Kampf den Sieg des vermeintlichen Underdogs gegen den Stärkeren. Sich durchzusetzen, auch in schwierigen Situationen, wird zu einem Leitmotiv im Leben von Freddy. Daneben spielen Freundschaft und Zugehörigkeit eine große Rolle.

Später zieht Tom in eine Studenten-WG, während Freddy eine Lehre zum KFZ-Mechaniker macht. Die alternativen Studenten schmücken sich gerne mit dem proletarischen Freund, besonders wenn es um die Themen der Zeit geht, wie den Protest gegen die Startbahn West in Frankfurt, Atomkraft oder die Friedensbewegung. Während die alternativen Ökos eher labern und planen, ist Freddy ein Mann der Tat und schreckt auch vor Gewalt und illegalen Aktionen nicht zurück. Außerdem ist er es, der einen Wagen für die Fahrt zur Demo besorgen kann. Während Freddy Ernst macht, zum Beispiel bei einem Sabotageakt gegen einen amerikanischen Raketen-Transport, diskutiert die WG Feminismus-Probleme und verliert sich im intellektuellen Geschwafel. Während sie sich ausmalen, klassenbewusst zu agieren, entwickelt Freddy ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl.

Besonders eklatant werden die Differenzen zwischen ihnen während einer gemeinsamen Reise im Auto nach Griechenland. Während sich Freddy wie ein kleines Kind auf die aufregende Reise und das ferne Meer freut, wirken die anderen verkopft und können sein Glück nicht teilen. Freddys Leben entwickelt sich immer mehr zu einem Alleingang. Er gehört irgendwie nicht mehr dazu, auch weil er sich einmal eine Lederjacke klaut oder den Diskurs um Freie Liebe tatsächlich in die Tat umsetzt. Trotzdem ist Freddy immer wieder bereit, fast alles für seine Freunde zu tun, selbst wenn ihn das in den Knast bringt.

Moster zeichnet mit leiser Sprache ein einfühlsames Bild einer Generation, die trotz Freundschaft und gemeinsamer Interessen und Ansichten auseinander driftet. Er zeichnet dabei ein wunderschönes symbolhaftes Bild, als Freddy seinen Helden Muhammad Ali tatsächlich begegnet, sein Idol als bereits schwer von der Krankheit Parkinson gezeichneter Held seiner Kindheit. Zwei Gefallene stehen sich gegenüber, zwar aus unterschiedlichsten Welten und vom Leben gezeichnet, aber vereint im Kampf. Ein Lesespaß voller Tiefgang, Poesie und Nachhaltigkeit, ein Buch über Freundschaft, Wahrhaftigkeit, Loyalität und unverzichtbare eigene Überzeugungen. Lesen sehr zu empfehlen.

Stefan Moster: Alleingang, mare-Verlag Hamburg, Februar 2019, 362 Seiten, Amazon.

Die Bücher sind in den inhabergeführten Buchhandlungen BellingProsa, Buchfink, Arno Adler, Langenkamp, maKULaTUR und Buchstabe erhältlich.

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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