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Lyrischer Western und wilder Ritt durch die deutsche Provinz

Die beiden Bücher, die ich Ihnen heute empfehlen möchte, dürften unterschiedlicher nicht sein. Das eine könnte man als einen lyrischen Western im Gewand eines historischen Romans über Liebe und Krieg, das andere als einen wilden Ritt durch die deutsche Provinz voller Gewalt und Humor a lá Quentin Tarantino bezeichnen.

Der eine Autor stammt aus Irland und gilt als wortgewaltiger Historienschreiber: Sebastian Barry, 1955 in Dublin geboren; der andere ist als Sänger und Schlagzeuger der Punk-Rock-Band „Die Ärzte“ bekannt und hat seinen Roman-Erstling geschrieben: Bela B. Dirk Felsenheimer, 1962 geboren in West-Berlin.

Mit „Tage ohne Ende“ ist dem Iren Barry eine faszinierende Ich-Erzählung gelungen, die mit poetischer, gradliniger aber gewaltiger Sprache einen Abschnitt der amerikanischen Geschichte beschreibt, die voller Grausamkeiten und unbeschreiblicher Brutalität bis hin zum Völkermord die im Entstehen befindlichen USA schildert. Daneben ist der Roman aber auch eine berührende Liebesgeschichte zwischen zwei Männern, für die das Coming-Out seines eigenen Sohnes als Anlass gedient hat.

Der Preis-gekrönte irische Autor Sebastian Barry gehört zu den besten britischen und irischen Schriftstellern der Gegenwart. Neben Theaterstücken, Lyrik und Prosa hat er bereits fünf große Romane veröffentlicht. Dabei ist seine Thematik meistens die Geschichte. Er hat über die große Hungersnot des 19. Jahrhunderts in Irland geschrieben, bei der Millionen Einwohner Irlands starben oder auswandern mussten. Es folgten Romane über den Osteraufstand von 1916 in Nordirland, über irische Brigaden im Ersten Weltkrieg und über Iren, die auf beiden Seiten des amerikanischen Bürgerkrieges kämpften. Immer geht es dabei um Loyalität und die vermeintlich richtige Seite der Geschichte, auf der seine Protagonisten stehen.

Im aktuellen Roman erzählt uns der Ire Thomas McNulty seine Lebensgeschichte. Aufgrund der Kartoffelpest von 1847 und der daraus resultierenden Hungersnot in Irland muss der junge Ire, als auch noch seine gesamte Familie am Hunger stirbt, sich als blinder Passagier auf einem Schiff nach Kanada durchschlagen. Die Verhältnisse an Bord, oder besser unter Deck, wo die Flüchtlinge unter grausamen Verhältnissen dahin vegetieren ohne Wasser und Nahrung, dafür mit Gewalt und vermutetem Kannibalismus, werden lapidar und scheinbar ohne Empathie beschrieben. Aber auch in Kanada werden die Verzweifelten nicht gerade mit offenen Armen aufgenommen. Viele, die die schreckliche Überfahrt überlebt haben, sterben nur kurze Zeit später im Seuchenhaus. Das Kind McNulty schlägt sich bis nach Missouri durch, wo er als 14jähriger den etwa gleichaltrigen John Cole trifft, den Freund, heimlichen Geliebten und Mann seines Lebens.

In Daggsville, einem dreckigen Minennest verdingen sich die Jungs als Tanzmädchen für vereinsamte Minenarbeiter im örtlichen Saloon. „Der Frauenmangel im Westen war groß, die Fantasie der bedürftigen Männer auch“. Mit einsetzendem Bartwuchs war diese kurze Periode der Liebe, Zweisamkeit und des abgesicherten Friedens vorbei. Als einzige Überlebenschance erscheint den 17jährigen der Eintritt in die Armee. Sie trotzen Hitze und Eiseskälte, Hunger und Gewalt.

Ungewollt werden sie zu loyalen Handlangern des Genozids an der indianischen Urbevölkerung. Eigentlich soll die Armee die Siedler schützen, aber hintergründig geht es um wirtschaftliche Interessen, wie den Landraub und den Goldrausch. Aus der Perspektive von McNulty, der wie ein irischer Simplicissimus durch das Grauen der Indianerkriege stolpert, entspannt sich ein Horror-Szenario, wie es Grimmelshausen bei seiner Erzählungen über die Gräuel des 30jährigen Kriegs gelungen ist.

Durch Geschichten von Verträgen und Vertragsbrüchen durch die Indianer, sowie vermeintlich wahren Horrorgeschichten über die Ureinwohner angestachelt, nehmen die Soldaten umso mörderischer Rache und schrecken auch vor der reinen Vernichtung von Frauen und Kinder nicht zurück. Trotz aller Brutalität und Sinnlosigkeit ihres Tuns gelingt es Thomas und John, sowie Winona, ein indianisches Adoptivkind, das von der Armee verschleppt und von dem Paar als Vormund aufgenommen wurde, obwohl sie selbst an der Vernichtung ihres Stammes teilgenommen haben, eine Art Familie zu gründen. Sie verlassen die Armee und arbeiten wieder als Showact im Saloon: John als Galan und Thomas in Frauenkleidern als hinreißend schöne Frau. „Das Männerpublikum ist atemlos – obwohl sie wissen, dass ich ein Mann bin, weil sie es auf dem Plakat gelesen haben. Aber ich vermute, jeder von ihnen möchte mich berühren, und jetzt ist John Cole Botschafter ihrer Küsse“.

Und wieder ziehen sie in den Krieg, als die Zuschauer 1861 ausbleiben. Diesmal kämpfen sie auf der Seite von Lincoln und der Konföderierten gegen die Südstaatler im amerikanischen Bürgerkrieg. Und wieder geht es nur um das reine Überleben und das Stehen auf der richtigen Seite, denn auf beiden Seiten des brutalen Krieges gibt es Iren. Und alle müssen mit Hungersnöten, immenser Hitze und grausamer Kälte klar kommen. Ein elendes Leben auf allen Seiten – Tage ohne Ende eben. Trotzdem schaffen es Thomas und John in seltenen Momenten, Privatheit und Liebe am Leben zu erhalten und sich in verschwiegenen Momenten zu küssen und zu lieben. Als der Krieg 1865 endlich zu Ende ist und sie das Grauen überlebt haben, versuchen sie, sich gemeinsam ein neues Glück auf einer Tabakfarm aufzubauen. Aber erneut wendet sich das Schicksal gegen sie, und Thomas McNulty muss sich einem Kriegsgerichtsverfahren stellen.

Drastisch und oft mit einer scheinbar teilnahmslosen Sprache beschreibt der Ich-Erzähler die grausame Vorgeschichte der Vereinigten Staaten, deren Entstehung auf Mord und Raubbau, Sklaverei und Genozid an der Urbevölkerung beruht. Es gibt kaum moralische Erklärungen: „Es ist halt so geschehen“. Daneben schildert er aber in einer unerhörten Selbständigkeit und berührender Offenheit über seine schwule Liebe und den unbändigen Willen nach Normalität und Glück als kleine Familie. Ein ewiger Optimist, den nichts umwerfen kann. Immer integer, immer loyal und nie ohne Hoffnung – ein ganz großer Roman, dem man viele Leser wünscht!!!

Sebastian Barry: Tage ohne Ende, Steidl-Verlag, Dezember 2018, 256 Seiten, Amazon.

Ein gänzlich anderes Kaliber stellt der 414 Seiten starke Erstlings-Roman von Bela B Felsenheimer dar: "Scharnow". Es handelt sich um den etwas anderen Heimatroman voller Trash, Horror und aberwitzigen Humor. Eine ziemlich verwegene Geschichte aus der Provinz, aus dem brandenburgischen Scharnow, unweit von Berlin.

Eigentlich kennt man Bela B. oder auch Dirk Felsenheimer, wie der Autor ursprünglich heißt, als Schlagzeuger der Ärzte, der zwar auch schon mal einige Soloprojekte initiierte, aber grundsätzlich ein Musiker ist. Auch als Schauspieler, Comic-Verleger und Synchronsprecher für Filme und Hörbücher hat er sich betätigt und sich dabei einen Ruf als Liebhaber und Experte für abseitige Genre-Stoffe erworben, wie Italo-Western, Grusel-Comics oder schräge Krimis.

Jetzt hat der 57jährige Berliner mit Wohnsitz Hamburg einen ziemlich überbordenden Roman verfasst. Gespickt mit skurrilem Humor, viel Klamauk und Action, einer nahezu unüberschaubaren Riege an Protagonisten, einer schillernden Erzählweise voller Anspielungen, Verweisen und schräger Fantasien, einer kräftigen Ladung Trash, dafür aber ohne wirklichen Inhalt und Zusammenhalt der Geschichte, ist ihm ein Debütroman gelungen, der trotzdem kurzweilige Unterhaltung und einen irren Spaß bietet.

Obwohl er dem Roman eine 6-seitige Liste der teilhabenden Personen vorausschickt, die unter anderem den BsB, den Bund der skeptischen Bürger, den Pakt der Glücklichen, zwei schwule Eichhornmänner, den omnipräsenten Rex Gildo, Trotzki, Sam, den ehemaligen Kater von Gregor Gysi, sowie rechtsradikale Trinker oder Cloudy, einen portugiesischen Wasserhund und Schwester von Bo, dem Hund von Ex-Präsident Obama, aufzählt, bleibt es bis zum Ende schwierig den Überblick über das Personal zu behalten und den kaum vorhandenen roten Faden der Geschichte zu folgen.

Gleich zu Beginn ereilt den Literaturblogger und Pornografen Ron Thorsten Wassmann im Prolog der Gemetzel-Tod durch ein seltsam aggressives Buch. Danach überschlagen sich der Ereignisse, ein Parforceritt durch die endlosen Weiten einer Kino-artigen Geschichte, die gemeinsam von den Cohn-Brüdern, Quentin Tarantino, Buster Keaton, Charly Brown und Bud Spencer zusammen gewürfelt zu sein scheint, wie ein B-Movie.

Es geht um Verschwörungstheorien, zaghafte Liebe, einen Überfall auf den örtlichen Supermarkt durch sturzbetrunkene Nackte, die nur mit Masken bekleidet sind, den grausigen Mord an Cloudy als Terrorakt und die Musik von Rex Gildo, die den ganzen Irrsinn musikalisch untermalt. Eigentlich kann man gar keine kurze Zusammenfassung des Buches schreiben, denn zu abstrus und vielschichtig mäandert das Geschehen dahin.

Ein Narrenschiff auf großer erzählerischer Fahrt in herrlich lockerer Sprache, wo zwischen sympathisch harmlosen Schluffi-Freaks und brutalen Attentätern unendlich viel passiert. Irgendwie zwischen Cosmic-Horror und fantastischen Assoziationsketten einer Folge von David Lynch, einem Heimatroman mit Fantasy-Elementen, der scheinbar locker am Tresen von einem grinsenden Punk-Schlagzeuger erzählt wird. Ein großes Lesevergnügen, dem auch das Fehlen einer realistischen, nachvollziehbaren Geschichte nicht schadet.

Bela B Felsenheimer: Scharnow, Heyne Verlag, Februar 2019, 414 Seiten, Amazon.

Die Bücher sind in den inhabergeführten Buchhandlungen BellingProsa, Buchfink, Arno Adler, Langenkamp, maKULaTUR und Buchstabe erhältlich.

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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