Sommerzeit – Lesezeit
meine Favoriten

Heute möchte ich euch meine momentanen Buch-Favoriten vorstellen, die in den Urlaubskoffer zu packen es sich lohnt oder die man genüsslich schmökernd auf Balkonien lesen sollte. Mein erster Tipp war die Überraschung der Saison und steht schon seit Monaten auf den Bestsellerlisten: Der goldene Handschuh von Heinz Strunk. Eigentlich kennt man den Hamburger Szenestar Strunk als Humoristen, Moderator, Musiker und Autoren von so amüsanten Büchern wie Fleisch ist mein Gemüse. Jetzt hat er sich aber an ein ernsthaftes Thema gewagt und recherchierte im Falle des Frauenmörders Fritz Honka.

Dieser hatte als bestialischer Prostituierten-Killer, der seine Opfer erdrosselte, zerstückelte und auf seinem Dachboden in Hamburg-Ottensen versteckte, in den 70er Jahren die Boulevard-Medien beherrscht. Nur durch Zufall wurden die Leichenteile entdeckt, als das Wohnhaus brannte. Der schielende kleine Mann, der durch übelste Misshandlungen in der eigenen Jugend entstellt war, wurde 1976 zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt und später in die Psychiatrie eingewiesen. Nach seiner Entlassung lebte er unter dem Namen Peter Jensen unerkannt in einem Altersheim in Scharbeutz, wo er 1998 auch verstarb.

Die tragische Geschichte des schwer alkoholkranken Honkas, der als Serienkiller von St. Pauli berühmt wurde, wird von Heinz Strunk in drastischen Worten geschildert und in seiner Armseligkeit mit dem Leben einer steinreichen, aber genauso beziehungsgestörten Reederfamilie in Beziehung gesetzt. Kristallisationsort ist die 24-Stunden-Kiezkneipe „Der goldene Handschuh“, den Strunk aus eigenen Besuchen kennt und in der er privat diverse Weihnachten verbracht hatte. Bis heute nennt sich die runtergekommene Kaschemme am Hamburger Berg „Honka-Stuben“. Hier hatte der als Nachtwächter arbeitende Honka sein schmales Gehalt versoffen, mit billigstem Fusel alternde und verarmte Huren aufgerissen und mit in seine versiffte Bude genommen. Für Sex durften die bemitleidenswürdigen Geschöpfe bei ihm wohnen, bis sie ihm überdrussig wurden und er sie erwürgte.

Strunk bekam Akteneinsicht in die unter Verschluss gehaltenen Prozessakten aus dem Hamburger Staatsarchiv und recherchierte vor Ort. Gnadenlos schildert er die brutale Unterschichten-Szenerie im Handschuh und vermischt sie mit fiktiven Personen wie den „Soldaten-Norbert“ genannten SS-Mann, der später in die Fremdenlegion abwanderte. Schwerstalkoholiker treffen auf neugieriges Szenevolk und Touristen, die angewidert, aber fasziniert den Handschuh rund um die Uhr bevölkern. Zwar ist auch Strunk abgestoßen vom Dreck und Suff, kann seine Sympathie für den kleinwüchsigen Honka trotzdem nicht völlig verbergen. Der scheue, zurückhaltende Mann hatte einfach keine Chance auf ein klein wenig Glück, was seine bestialischen Taten natürlich nicht verklären soll. Trotzdem gelingt es Strunk, ein bitteres Porträt einer kaputten Randszenerie zu beschreiben, die fasziniert, erschreckt und irgendwie immer noch ganz in unserer Nähe existiert. Nix für Weicheier oder Schnulzen-Liebhaber, aber trotzdem für den Buchpreis der Leipziger Buchmesse nominiert.

Heinz Strunk: Der goldene Handschuh, Rowohlt-Verlag Hamburg, Februar 2016, 256 Seiten

Buch-Favorit zwei stammt vom Bestseller-Autor und Fabulierstar John Irving: Straße der Wunder. Sein mittlerweile 14. Roman spielt im prallen Leben und handelt von zwei hochbegabten Kindern, die auf einer Müllkippe im mexikanischen Oaxaca leben. Es wird viel und bizarr gestorben in dem Buch, zum Beispiel an zu viel Betablockern kombiniert mit Viagra. Dazu spuken Geister und Geisterhunde durch die „Straße der Wunder“, viel mehr Übersinnliches findet statt als in seinen sonstigen Erfolgsromanen.

Im Jahre 1970 liest der 14-jährige Juan Diego als Autodidakt pausenlos ausrangierte Bücher und spricht dementsprechend zwei Sprachen, während seine Schwester Lupe Gedanken lesen kann. Beide befinden sich in der Obhut des menschenfreundlichen Jesuitenpaters Pepe und ihres Ersatzvaters Rivera, weil ihre Mutter Esperanza sich durch Putzen beim Pater und als Prostituierte durchschlagen muss und somit keine Zeit für ihre Kinder hat. 40 Jahre später erinnert sich der Vielleser Juan Diego, inzwischen ein berühmter US-Schriftsteller, in einer Reihe von Träumen während einer Flugreise an seine bizarre, turbulente Jugend zwischen brennendem Müll, blutigen Gang-Konflikten prügelnder Kleinganoven und blutenden Marienstatuen. Irving schickt seinen Protagonisten auf die Philippinen, um ein Versprechen gegenüber einem Toten einzulösen. Die Reise endet im Tod und wird begleitet von höchst sinnlichen Todesengeln.

Wie üblich tummeln sich unzählige Charaktere in seinem Roman. Mit der anrührenden Geschichte von Juan Diegos schwulen Zieheltern, dem jungen Jesuiten Edward und dem Transsexuellen Flor schafft Irving zudem ein Playdoyer für sexuelle Toleranz. Wie üblich spielen auch wieder Tiere eine gewichtige Rolle im Buch: diesmal keine Bären, Irvings Lieblingstiere, sondern jede Menge Hunde, Löwen und eine heimtückisch aus gelben Augen auf Juan Diego stierende Aquariumsmuräne namens Senor Morales. Dazu wird die katholische Kirche und ihre von Menschen gemachten Regeln von den Kindern in Frage gestellt. Marienkult, Wunder und Aberglauben stehen einer veralterten katholischen Institution gegenüber. Wie schon bei Garp und wie er die Welt sah oder Das Hotel New Hampshire beweist John Irving erneut, dass er einer der größten Fabulierkünstler der amerikanischen Literatur ist und über schier uneingeschränkte Fantasie verfügt. Gleichzeitig erweist er sich als Schriftsteller, der mit Vorliebe gegen den Strom schreibt und denkt und der amerikanischen Gesellschaft unerbittlich, aber voller Humor den Spiegel vorhält. 800 Seiten reinstes Lesevergnügen für Schmökerfans und Liebhaber überbordender Fantasie.

John Irving: Straße der Wunder, Diogenes Verlag, März 2016, 784 Seiten.

Tipp drei stammt aus der wunderbaren kleinen Buchreihe des Hamburger mare-Verlags über unsere Lieblingsinseln, diesmal Mein Irland von Ralf Sotscheck. Der 1954 in Berlin geborene Journalist und Autor hat jahrelang für die TAZ als Korrespondent über England und Irland berichtet. Die Liebe verschlug ihn nach Irland, wo er seit nun über dreißig Jahren in Dublin lebt. Seine Annäherung an die grüne Insel erfolgte über die irische Folkmusik, die er in entsprechenden Berliner Kneipen kennenlernte, egal ob als Trinklieder, die jeder sofort versteht oder als Rebel Songs, die ihn dazu veranlassten, sich mit der politischen Situation Irlands auseinanderzusetzen.

Und natürlich war in den 70er Jahren Das Irische Tagebuch von Heinrich Böll Pflichtlektüre für jeden Fan der rauen Insel im Atlantik. Viele der dort erzählten Geschichten sind natürlich lange passé, und auch die diversen Klischees über Irland, wie Dauerregen, Schafe, trinkfreudige Guinness-Liebhaber und Dudelsack-Dauerbeschallung werden vom Irland-Kenner Sotscheck allenfalls gestreift. Ansonsten glänzt sein kleines, aber feines Bändchen mit Detailwissen, spannenden Geschichten über Geschichte, Politik, Traditionen, Land und Leute.

Auf einer Reise entlang der Küste (die Angaben schwanken zwischen 2.800 und 7.500 Kilometern, je nach Maßstab: je kleiner desto länger die Küstenlinie) berichtet der Autor nicht nur von atemberaubenden Landschaften und der erstaunlichen Eintracht einer aus der Arktis, dem Mittelmeerraum und den Alpen stammenden Flora, er gibt auch anhand persönlicher Begegnungen mit vielen Einwohnern Einblicke in das nicht immer einfache Leben seiner speziellen Bevölkerung. Da geht es um Seilbahn fahrende Kühe, Samba-Rhythmen im Country Club, Bauboom und Niedergang der irischen Wirtschaft, das lange Erbe des Konfliktes zwischen Katholiken und Protestanten oder Dublins Antwort auf den Pariser Friedhof Père Lachaise. Der geneigte Leser erfährt soviel mehr über dieses „liebenswerte und verrückte Land“, dass man am liebsten sofort aufbrechen möchte, um sich selbst ein Bild jenseits von Klischees und Apple-Steuer-Skandalen zu machen.

Ralf Sotscheck: Mein Irland, gebunden, 160 Seiten, mare Verlag Hamburg, März 2016, 160 Seiten

Die nächste Empfehlung ist ein Buch aus dem Blumenbar-Verlag, das alle, die es gelesen haben, förmlich umgehauen hat: Auerhaus von Bov Bjerg. Der 1965 geborene Autor, Bühnengründer und Kabarettist hat mal so eben das Jugendbuch des Jahres herausgehauen, welches für alle Altersstufen absolut lesenswert ist. Es geht um sechs Freunde und ein Versprechen. Die Geschichte führt zurück in die achtziger Jahre in die westdeutsche Provinz, wo sechs Idealisten eine Schüler-WG gründen, um den Zwängen, Traditionen und Ängsten ihrer Elternhäuser zu entfliehen. Es geht um eine Zeit, wo viele nach West-Berlin abhauten, um der Bundeswehr zu entgehen. Man hört Madness und ihren Hit Our House, und weil man kein Englisch kann als Siebzehnjähriger, wird daraus das Auerhaus, ein altes Bauernhaus, welches für kurze Zeit das neue Zuhause für Frieder und seine Freunde ist.

Hauptgrund für die Schüler-WG ist jener Frieder, der einen Selbstmord-Versuch hinter sich hat und nicht länger bei den Eltern wohnen kann, wenn seine Suizidalität nicht sofort wieder ausbrechen soll. Seine Freunde reden förmlich die ganze Zeit um Frieders Leben. Diese Freunde sind das reiche Töchterchen Cäcilia, die rebellische Kleptomanin Vera und der zaudernde Ich-Erzähler, genannt Herr Höppner, der sich vor der Musterung drückt und unter dem saufenden Freund seiner Mutter leidet. „F2M2“ nennt er diesen: „Fieser Freund Meiner Mutter“. Später nehmen sie noch die bildhübsche Pauline, die wegen Brandstiftung in der Psychiatrie lebte, und den schwulen Kiffer Harry, der eine Lehre als Elektriker absolviert und nebenbei am Stuttgarter Hauptbahnhof als Stricher Kohle macht, bei sich auf.

Im Auerhaus entsteht ein Trainingszentrum für besseres Klauen, und zu Sylvester wird eine wilde Party mit Drogen, Alkohol und erstem Sex gefeiert, zu der nicht nur die gesamte Oberstufe kommt, sondern auch die halbe Psychiatrie und ein großer Teil der schwulen Szene zwischen Stuttgart und Paris. Es ist ein Sommer voller Liebe, Gespräche, Kämpfe und ein langsames Erwachsenwerden. In kurzen, frechen Sätzen voller Humor und Emphatie gelingt Bov Bjerg ein wunderbares, vergnügliches Buch, das uns zurückführt in die eigene Jugend, trotz Dramatik und Lebenskampf. Obwohl man das kurze Werk schnell wegliest, bleibt es doch lange im Kopf hängen.

Bov Bjerg: Auerhaus, Blumenbar-Verlag, 2015, 236 Seiten.

Wer jetzt bei Bov Bjerg auf den Geschmack gekommen ist, dem möchte ich noch sein Nachfolgewerk ans Herz legen, welches natürlich von seinem Verlag aufgrund des grandiosen Erfolges von Auerhaus schnell hinterhergeschoßen wurde: Die Modernisierung meiner Mutter. Hierbei handelt es sich um eine Sammlung von kurzen bis ganz kurzen Geschichten aus 20 Jahren des Shootingstars der deutschen Literaturszene. Es geht um kleine und große Schicksalsschläge im Leben zwischen schwäbischer Heimat des Autors, Berliner Exil oder dem fernen Amerika. Lakonisch, rotzfrech, voller Einfühlsamkeit, aber auch bissig im Humor geht es um Mütter und Söhne, Lokalpolitiker und Bankdirektoren, Münzsammler oder Apotheker.

Kleines Beispiel gefällig: „Der exklusive Flaschenöffner: Plakat im Supermarkt: Beim Kauf eines Kastens Berliner Pilsner erhalten sie einen exklusiven Flaschenöffner. Nur für kurze Zeit. Wenn alle Flaschen aus dem Kasten aufgemacht sind, muss man den exklusiven Flaschenöffner also wieder zurückgeben ....“

Bov Bjerg: Die Modernisierung meiner Mutter, Blumenbar-Verlag, Juli 2016, 160 Seiten.

Mein letzter Tipp für heute stammt von Martin Mosebach: Mogador, ein grandioses Buch deutscher Sprachkunst zwischen spannendem Krimi und fantastischer Seelenreise. Der 1951 in Frankfurt geborene Mosebach, studierter Jurist und spät berufener Autor mit preisgekrönten Literaturerfolgen, spaltet normalerweise die Kritiker. Viele stufen den Georg-Büchner-Preisträger von 2007 als erzkonservativ ein, während wiederum andere ihn für den zurzeit wortgewandtesten Sprachkünstler und Meister der Beschreibung halten. Sein neuestes Werk unterscheidet sich aber deutlich von den verschiedenen Vorgängern. Bisher waren seine Themen die Politik, das Reisen, die Literatur, die Kunst oder Religion.

Mit Mogador führt er den Leser in das heutige Essaouira in Marokko am windigen Atlantik. Ein smarter junger Karriere-Banker aus Düsseldorf springt aus dem Fenster des Polizeipräsidiums, weil er sich in Korruption und Geldwäsche verstrickt hat, und sich ein Mitarbeiter durch Selbstmord der Verantwortung für Veruntreuung entzogen hat. Er entflieht gleichzeitig seiner wunderschönen, selbstbewussten, aber steinreichen Ehefrau, die ihn angeblich auf die Karriereleiter gedrängt hat und somit Mitschuld trägt an seinen Verfehlungen. Seine Flucht führt ihn nach Mogador, wo er untertauchen will, sich Hilfe vom reichen und mächtigen marokkanischen Geschäftspartner verspricht, aber im Haus der Hure, Kupplerin, Zauberin und Prophetin Khadija landet. Der Protagonist Patrick, der sich selbst als einen erlebt, der mehr oder weniger unfreiwillig in seine Tat hineingeschlittert ist, stößt hier auf eine Frau, die mit ihrem Willen einen Kult bis zur Selbstvergötzung treibt. Zum zweiten Mal in kürzester Zeit übertritt er die eben noch unverrückbar erscheinenden Grenzen seines Lebens, sieht die Geisterwelt, lernt Schrecken kennen, die irdische Strafen weit übersteigen.

Mosebach gelingen sprachliche Petitessen, unglaublich bildhafte, bizarre Personenumschreibungen, die halbe Seiten füllen und Formulierungen, die meist brillant sind, aber auch manchmal nur haarscharf an unfreiwilliger Komik vorbeischrammen. Seine Sprache changiert zwischen manieriert und brokat, während die Geschichte von Mogador hervorragend recherchiert rüberkommt. Inhaltlich schwankt der Roman zwischen fantastischen Schilderungen voller Dämonen und Geister, ausgesprochen skurilem, schrägem Personal und einer Story, die bis zum Ende hochspannend bleibt. Fazit: äußerst lesenswert!

Martin Mosebach: Mogador, Rowohlt Verlag Hamburg, August 2016, 367 Seiten.

Die Bücher sind in den inhabergeführten Buchhandlungen 
BuchfinkArno AdlerLangenkampmaKULaTUR und Buchstabe erhältlich.

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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