Lutz Seiler „Kruso“
Jeder ist eine Insel

Lutz Seiler hat einen sensiblen Sinn für wohltemperiertes Timing: Rechtzeitig zum 25. Jubiläum des Mauerfalls versteckt er seinen Antihelden Edgar Bendler vor dem Wellenschlag seines Lebens – auf Hiddensee. Sein Aufbruch ist eher Flucht als Reise, denn bei Ed, Mitte 20, sieht es nicht so gut aus. Sein Germanistikstudium dümpelt vor sich hin, er hat einen tragischen Verlust erlebt und nun schließt er einfach seine Wohnungstür und haut ab nach Hiddensee.

Allerdings hat er keine Ahnung, was er da genau machen will. Zunächst übernachtet er draußen, dann findet er in einem Ausflugslokal eine Stelle als Abwäscher. Und nicht nur das: Er findet in der kuriosen Crew des „Klausner“, hoch über dem Meer, eine Gemeinschaft, in die er sich langsam hineinlebt. Und er findet Kruso. Der große Alexander Krusowitsch arbeitet wie Ed am Spülbecken, spielt auf der Insel die Rolle eines ebenso charismatischen wie konspirativen Helden – und er macht aus Ed einen scheinbar idealen Sidekick für sein Anliegen: die Schiffbrüchigen der DDR in ihre wirkliche Freiheit zu führen. Im Hintergrund der Erzählung findet der historische Herbst 1989 statt – von den Figuren kaum bemerkt und endgültig realisiert erst im lakonischen „Schlusssatz“. 
 
Ich will doch nur Spülen – oder die Poesie des Abwaschs
 
Wer Seiler in die Küche des „Klausner“ folgt, sollte nicht zimperlich sein: Mit Ed versinkt man bis zum Hals in Essensresten, die von den Tellern der Gäste gekratzt werden, greift ins „Becken fürs Grobe“ und geht zu gastronomischen Sturmzeiten im allgemeinen Küchenchaos fast unter. Der Beschreibung ekliger Details, wie dem Zustand der Haut nach einem Tag im speckigen Spülwasser oder dem stechenden Geruch, der aus dem Spülbecken dampft, widmet sich der Autor mit Liebe: Seiler lässt seine Saisonkräfte sich geradezu im Abwasch aalen. Sie werden dabei zur eingeschworenen Mannschaft, von deren Einsatz „alles“ abhängt. Als sprachmächtiger Autor mit Wurzeln im Sozialismus, baut Seiler seine Figuren aus Arbeiterfleisch und Akademikerblut: Mit ihrem literarischen, philosophischen oder kunsttheoretischen Temperament werden sie zu transzendierenden Instanzen für den Abschaum des Alltags. Sie zitieren Trakl, verehren Rimbaud und entfalten beim Recycling verfallender Stoffe außerordentliche Kraft: Sie machen aus Dreck Dichtung. Das ist weder Eskapismus noch ein Rückzug in eine Welt des Apolitischen, sondern ein lebensnotwendiger Vorgang, der seinen Personen Halt verspricht im allgemeinen Schiffbruch des Lebens.
 
Freundschaft, Liebe, Tod – oder die Grenzen sind offen
 
Im Subtext des harten Arbeitsalltags der Esskas (Saisonkräfte) spielen inselüberspannende Seilschaften eine Rolle, die Kruso „irgendwie“ in der Hand hält. Leserinnen und Leser müssen sich durch das Dickicht dunkler Andeutungen dabei ebenso langsam an die Fakten herantasten wie Mit-Spüler Ed. Der „Mittelteil“ dieses Romans entwickelt so eine unheilvolle Redundanz: Wieder und wieder wird die soghafte Sinnlichkeit des Meeres beschworen, Ostseewellen schwimmen in Liebes- und Todessymbolik und der große Zampano Kruso erinnert nicht nur an Robinson, sondern auch an den Griechen Charon, der die Toten über den Hades hieft. Unterdessen verliert die Freundschaft der beiden Männer an Eindeutigkeit und lässt präzise Grenzen verschwimmen. Auch Eds Beziehungen zum weiblichen Geschlecht werden spannend: Kruso verschafft seinem „Freitag“ im Rahmen verstiegener Initiationsriten angespülte Frauen, mit denen er so einfach Sex macht wie das Meer die nächste Welle. Dass dabei auch Kakerlaken zwischen die Laken geraten, liest sich überraschenderweise nicht burlesk, sondern ebenso innig wie stimmig. 
 
Die Sprache – oder der magische Weg in die Freiheit 
 
Der Klappentext verspricht – neben einer Robinsonade – einen Kampf um Leben und Tod und ein Versprechen. Sicher, das alles gibt es auch in Seilers erstem Roman - wie auch den realen historischen Hintergrund, ohne den dieser Geschichte die Befestigung fehlte. Diese architektonisch geschickt eingefügten Elemente geben Seilers sorglos verrückter Seelensprache erst die geforderte Statik. Dieser Tribut an die tragenden Elemente ist aber keineswegs entscheidend für den Klang dieses gelungenen Buchs: Wenn Ed seinen tatsächlichen oder imaginären Gefährten oder seinen sprachlichen Fährten folgt, erlebt man eine Wende, die der von 1989 in nichts nachsteht. Man erfährt, wie sehr der Mut zur eigenen Sprache jede und jeden über Wasser hält – selbst, wenn alles andere untergeht. 
 
Epilog – oder Abteilung Verschwunden
 
Nach dem wunderbaren Finale sorgt ein Epilog unter dem Titel Abteilung Verschwunden für den endgültigen Abschluss des Buches – ein Zusatz, der sich über fast 30 Seiten zieht. In ihm entwickelt Edgar, wie er ein Versprechen einlöst, das er seinerzeit seinem Freund Kruso gegeben hat. In dessen Folge verfasst der fleißige Ed einen detektivischen Bericht, in dem zahlreiche Wasserleichen und Leichtenteile sowie Friedhöfe und Behördenhäuser etc. vorkommen. Ein Anhang voller kriminaltechnischer Aktensprache und langatmiger Akkuratesse, der die poetische Strahlkraft des „eigentlichen Buches“ sinnlos verschattet. Kruso hätte profitiert, wäre dieser Appendix in der „Abteilung Verschwunden“ des Verlags untergegangen
 
Lutz Seiler: Kruso, Suhrkamp, September 2014, 484 Seiten.

Lutz Seiler ist mit seinem ersten Roman Träger des Deutschen Buchpreises 2014 geworden.

Das Buch ist in den Lübecker Buchhandlungen Arno AdlerLangenkampmaKULaTURCatarina RexAntiquariat Tautenhahn und Rathaus-Buchhandlung erhältlich.
 
 
Titelfoto: Lutz Seiler, (c) Amrei-Marie, Wikipedia, CC BY-SA 4.0
Britta Koth
Britta Koth
alias Serra Sand, geburtenstarker Jahrgang, Schwäche für Literatur, Studium der Germanistik und Philosophie in Heidelberg, Studium der Germanistik und Sozialwissenschaften in Göttingen (Magistra), Studium der Psycho-Gerontologie in Erlangen-Nürnberg (Diplom), Training Werbe-Texterin (Berlin), Texterin in div. Werbeagenturen in Berlin, Hamburg und Lübeck, Freie Autorin und Lyrikerin mit Wohnsitz in Mecklenburg am Schaalsee.

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