Der Bürgermeister testet die VR-Brille

Günter-Grass-Haus setzt auf Digitalisierung
60 Jahre Blechtrommel als Virtual-Reality-Spass

Der Bürgermeister Jan Lindenau war der erste, der die neue VR-Brille testen konnte, um damit in die Welt von Oskar Matzerath einzutauchen.

Dabei muss er ein Rätsel lösen, welches in die Anfänge des berühmtesten Buches des Literatur-Nobelpreisträgers Günter Grass führt. Die Blechtrommel wurde von Grass vor genau 60 Jahren in einer schäbigen Bude in Paris geschrieben. Zu diesem Anlass hat das Lübecker Literatur-Museum eine weltweit einzigartige Präsentationsform entwickelt.

Per Virtual-Reality-Brille gelangt man in den Kolonialladen, der ein Raum vorher schon auf die wundersame Geschichte vom Jungen, der nicht mehr wachsen will, hinweist. Nach Anweisungen, die zukünftig vom Schauspieler Mario Adorf eingesprochen werden, bestaunt man die Auslagen, um dann durch die offen stehende Falltür in den Keller zu stürzen. Dort im dunklen, unheimlichen Keller hat der Besucher mehrere Rätsel zu lösen, um zu erkennen, wer und wo er ist.

So schlägt man die berühmte rot-weiße Trommel, lässt Brausepulver sprudeln, muss 30 Kerzen ausblasen auf dem Geburtstagskuchen und soll eine Glühbirne durch hohe Schreie zerplatzen lassen. Wer den Roman kennt, weiß, das diese Details alle aus dem Leben vom kleinen Oskar Matzerath stammen. Man erkennt schlussendlich, dass man sich in einem Pflegeheim der Psychiatrie befindet, wo ein großes Auge durch eine Tür alles beobachtet. Dies ist der Beginn des berühmten Romans, in dem nämlich der kleine Oskar einerseits seinen 30jährigen Geburtstag feiert, aber gleichzeitig seine Lebensgeschichte erzählt.

Virtual Reality: Heilanstalt - Oskars Zimmer, (c) NMY Mixed-Reality Communication GmbHVirtual Reality: Heilanstalt - Oskars Zimmer, (c) NMY Mixed-Reality Communication GmbH

Bürgermeister Lindenau zeigte sich von der Wirkung der VR-Brille begeistert. Besonders die „Details und Kleinigkeiten lassen einem mitten in der Handlung stehen“. Obwohl er das Buch nur als Film und als Hörbuch-Version kennt, glaubt er jetzt, dass ihm diese virtuelle Methode der Literatur-Betrachtung dazu verleiten wird, das Buch tatsächlich noch einmal selbst zu lesen. „Dieses Erleben mit allen Sinnen macht Literatur noch einmal völlig neu erlebbar“. Womit er auch schon absolut das Ziel dieser neuen Literatur-Präsentation beschrieben hat, wie Grass-Haus-Leiter Dr. Thomsa bestätigte. „Oberstes Ziel der gesamten Anwendung ist, das Buch neu zu lesen“.

Denn neben dem Erlebnis der VR-Brille gibt es auch noch einen neuen Multitouch-Tisch, auf dem der Besucher eigenständig kleine Filme abrufen kann, die man zusammen mit dem Literaturkritiker Denis Scheck gedreht hat. Die insgesamt 12 Filme spielen im Grass-Haus, in der Marien-Kirche, aber auch in Paris, wo die Tochter von Günter Grass das Haus besichtigt, in dem der Vater den Roman vor 60 Jahren geschrieben hat. Dazu gibt es ein Interview mit Salman Rushdie, der mit Grass befreundet war und ihn auch öfters getroffen hat.

Oskar-Matzerath-SkulpturOskar-Matzerath-SkulpturNeben dem Buch, dem Film, der Radio-Version oder dem Hörbuch soll diese neue digitale Anwendung, die es in dieser Art bis jetzt nirgends auf der Welt gibt, eine völlig neue Art darstellen, wie man Literatur erleben und begreifen soll. Darüber hinaus gibt es einen neuen, speziellen Flyer, der auch schon auf eine Lesung mit Katharina Thalbach am 19. Dezember 2019 im Theater Lübeck hinweist. Und bereits am Eingang des Literatur-Museums ist eine wunderbare Holzskulptur von Oskar Matzerath zu sehen, die ganz grob mit der Kettensäge erschaffen wurde. Ein Werk, „das Günter Grass sicher sehr gefallen hätte“.

Möglich wurde diese gesamte Neu-Konzeption und Digital-Anwendung durch die Unterstützung der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM), Frau Monika Grütters, die das wunderbare Projekt mit ca. 200.000 Euro unterstützt hat. Die Hansestadt, die laut Aussage von Bürgermeister Lindenau die Digitalisierung von Verwaltung und Leben in Lübeck voran bringen will, betrachtet diese neue Darstellung eines Literatur-Museums als Neuland und beispielhaftes Pilotprojekt, welches auch von der Stadt gefördert wird. Als nächstes sei in einem Jahr nach dem Umbau das Buddenbrookhaus dran, wie Professor Wißkirchen wissen ließ.

Ich konnte die neue VR-Technik direkt nach dem Bürgermeister ausprobieren und durfte ebenfalls begeistert feststellen, dass diese Art der Literaturvermittlung nicht nur Spaß macht und damit besonders die Medien-affine Jugend ansprechen wird, sondern absolut die Lust verstärkt, mal wieder den berühmten Roman von Grass zu lesen. Mein Tipp also: Hingehen, Ausprobieren und sich wie Oskar freuen.

Inside Blechtrommel - Ein Literaturerlebnis
Vom 22. November 2019 bis 30. November 2020
Günter Grass-Haus

Holger Kistenmacher
Holger Kistenmacher
Jahrgang 1956, freischaffender Journalist seit gut 25 Jahren, studierter Realschullehrer, praktizierender psychosozialer Betreuer, ambitionierter Fotograf und Kulturschreiber mit den Fachgebieten: Moderne Gegenwartskunst, Literatur, Musik zwischen Jazz und Rock, Nordische Filme, Moderner Tanz. Weltenbummler und Reisejournalist.

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