Avantgarde in der Kunsthalle St. Annen
Die Ausstellung „Natalja Gontscharowa“ ist eröffnet!

Große Bilder brauchen einen großen Rahmen. Bei der Vernissage am 7. Februar in der Kunsthalle St. Annen haben Natalja Gontscharowas Werke genau den bekommen. Weit gereist sind sie, die 70 Bilder, die aus der Fülle ihrer Arbeiten ausgewählt wurden – fast alle stammen aus der Staatlichen Tretjakow-Galerie in Moskau. Der Untertitel der Ausstellung „Zwischen russischer Tradition und europäischer Moderne“ weist auf die Bandbreite der Exponate: Von traditioneller Volkskunst bis zu Kubofuturismus erwartet die Besucher ein stilpluralistischer Kosmos von überwältigender Strahlkraft.

Es ist ein Winter-Sonntag, der bestimmt keine Lust macht, das Haus zu verlassen – dennoch kann die Kunsthalle St. Annen die Menschenmenge kaum fassen, die sich am 7. Februar um 11.30 Uhr versammelt. Alle Klappstühle sind vergeben, trotzdem müssen viele Besucher stehen und nehmen das offenbar gerne in Kauf. Eröffnet wird die erste, rein monographische Ausstellung Natalja Gontscharowas nach ihrem Tod 1962. Eröffnet wird die Ausstellung einer Frau, die an der Spitze der russischen Bewegung stand, welche die Kunst der Welt und die Welt der Kunst verändert hat. Kurz: Eröffnet wird die Ausstellung des Werkes einer Künstlerin, die als die Avantgarde der Avantgarde gilt.

Der Lübecker Bürgermeister Bernd Saxe begrüsste zu diesem Anlass daher nicht nur ortsansässige sondern auch eine große Anzahl russischer Gäste, wie Tatjana Gorodowa, die stellvertretende Direktorin der Staatlichen Tretjakow-Galerie in Moskau – der Galerie, aus deren Magazinen und Depots die meisten der in Lübeck präsentierten Stücke stammen. Für die Kunst der Gontscharowa sei Lübeck die ideale Stadt, sagt Dr. Ekkehard Klug, Minister für Bildung und Kultur in Schleswig-Holstein, „denn es liegt genau zwischen Paris und Moskau“. Ein perfekter Ort also für die Bilder einer Frau, die südlich von Moskau geboren wurde und fast 50 Jahre in Paris gelebt hat. Lübeck reicht dieser spektakulären Avantgardistin seine Wände mit offensichtlicher Freude: Museumsleiter Dr. Rodiek nimmt man seine Bewunderung ab, wenn er schwärmt: „Natalja Gontscharowa war eine echte Powerfrau!“

ImageImage

"Zwischen russischer Tradition und europäischer Moderne“ – der Untertitel dieses Kunst-Ereignisses ist auch Ausdruck für den Wunsch, die Kunst der Annäherung zu pflegen zwischen den Nachbarn im Osten und Westen. Bereits der russische Übersetzer gibt einen anmutigen Anklang der samtweichen Welt russischer Sprache, die Musiker ergänzen mit Klarinette und Piano, und der Walzer (Jazz Suite No.2) von Shostakovich, den sie spielen, ist so wunderbar, dass viele Besucher ihn noch Stunden später im Ohr haben: Man hört sie leise summen vor Gontscharowas Bildern. 

Es sind Bilder, vor denen man auch ohne Shostakovich summen möchte. Es ist erstaunlich, mit welcher stilistischen Spannbreite Gontscharowa hantiert: Zusammen mit ihrem Ehemann, dem Maler Michail Larionow, gehörte sie dem Kreis des Neoprimitivismus an, der das Anliegen hatte, die russische Kultur zu erneuern und dazu tief in die große Inspirationskiste mit russischer Volkskunst griff. Zusammen mit Larionow nahm sie in den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg an einer Reihe weiterer Ausstellungen teil, u.a. am Blauen Reiter 1912 in München. Einige Exponate faszinieren mit folkloristischer Farbenfreude und mit starker Ornamentik – andere mit den Einflüssen russischer Ikonenmalerei, die für die deutschen Expressionisten von so entscheidender Bedeutung war.

Aber alles, was Gontscharowa malte und machte, war offenbar von entscheidender Bedeutung: Sie gilt als erste Futuristin, sie war defintiv die erste Malerin eines weiblichen Aktes – ein Akt, der für einen zünftigen Eklat sorgte, wie das in der Folge noch viele weitere ihrer Bilder oder Aktionen tun sollten. Gontscharowa war so radikal wie genial: Sie war gerade Anfang dreißig, als es in einer Moskauer Galerie bereits ihre erste Retrospektive gab. Gezeigt wurde die unvorstellbare Anzahl von 768 Bildern. Heute ist Natalja Gontscharowa – nach imponierenden Auktionsergebnissen – weltweit eine der höchstgehandelsten Künstlerinnen. Wer in diese Ausstellung geht, weiß warum.

Natalja Gontscharowa sagt in einem Vorwort zu einem Katalog aus dem Jahre 1913: „Mein Weg führt zum Ursprung aller Künste – in den Osten“. Doch oft genug geriet sie dabei in den Westen, nicht nur nach Spanien, nicht nur nach Paris führten ihre Wege: Jetzt ist sie – wenn auch nur für kurze Zeit – in Lübeck hängen geblieben. Ab 30. Mai 2010 zieht es ihre Bilder wieder Richtung Osten, nach Erfurt.

Britta Koth
Britta Koth
alias Serra Sand, geburtenstarker Jahrgang, Schwäche für Literatur, Studium der Germanistik und Philosophie in Heidelberg, Studium der Germanistik und Sozialwissenschaften in Göttingen (Magistra), Studium der Psycho-Gerontologie in Erlangen-Nürnberg (Diplom), Training Werbe-Texterin (Berlin), Texterin in div. Werbeagenturen in Berlin, Hamburg und Lübeck, Freie Autorin und Lyrikerin mit Wohnsitz in Mecklenburg am Schaalsee.

Sie haben keine Berechtigung hier einen Kommentar zu schreiben.